Der Läufer
Ich bin noch ziemlich jung, werde genau genommen in etwas weniger als einem Monat acht.
Ich wohne in der Kasernenstraße 226, was vielleicht nicht viel bedeuten mag, doch gibt es unmittelbar vor unserem Haus in der Kasernenstraße 226 einen Park.
Und den kann ich von meinem Zimmerfenster aus direkt beobachten.
Ich sehe natürlich nur einen kleinen Teil des Parks.
Ich habe für mich beschlossen, dass es ein kleiner Teil ist, denn ich kenne den Park nicht.
Ich habe ihn noch nie betreten.
Nein, ihr dürft jetzt nicht denken, dass ich nie rausgehe, denn dann liegt ihr total falsch.
Am Ende der Kasernenstraße befindet sich ein Supermarkt. Er hat einen riesengroßen, beinahe gigantischen Fahrstuhl und den fahre ich mit den anderen Menschen fast täglich auf und ab und kaufe für Mutter ein.
Ich bleibe da immer sehr lange, im Supermarkt, und Mutter meinte schon, sie möchte nicht mehr, dass ich für sie einkaufe. Ich verstehe sie nicht.
Ich gehe also doch raus.
Ich soll meine Übungen machen. Ich will eigentlich gar nicht, denn ich habe gerade jemanden im Park entdeckt.
Er läuft.
Jetzt ist er weg, aber er kommt gleich wieder.
Der Park ist nämlich rund, habe ich beschlossen, und der Läufer muss jetzt nur noch die Kurve außerhalb meines Fensters drehen und dann ist er wieder da.
Ich hatte recht.
Ich kann ihn beobachten.
Als einziger sehe ich, wie er rasch mit seinen Füßen spielt und dabei geschickt die Büsche und kleinen Sträucher passiert und dann und wann wieder gezielt einen kleinen Stein wegkickt - bis er außerhalb meines Blickfeldes ist.
Mutter betritt mein Zimmer.
Ich schaffe es nicht mehr mich vorzubeugen, um die Vorhänge zuzuziehen.
Ich muss ihn doch schützen, meinen Läufer, sonst passiert ihm noch was.
"Sascha, träumst du wieder? Komm jetzt endlich und guck nicht die ganze Zeit aus dem Fenster. Das monotone Bild macht dich noch krank."
Sie schaut, während sie mit mir spricht,
kein einziges mal raus, aber sie hätte meinen Läufer sowieso nicht sehen können,
denn er befindet sich zu seinem Glück gerade in der Kurve.
Ich soll meine Übungen machen, damit meine Gelenke nicht kaputt gehen vom ewigen Sitzen. Ich frage mich, was er wohl anstellen wird, wenn ich ihn nicht mehr kontrolliere.
Ich sitze seitdem ich denken kann im Rollstuhl. Ich bin froh, dass mein Läufer es nie erfahren wird.