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Der König lacht
Vor dem Palais de Justice am Eingang zur Sainte-Chapelle, Paris
13. April 2020: 13:22 GMT (15:22 Uhr Ortszeit)
Zwei Gestalten schleichen an der Fassade entlang. Sie klettern über ein gusseisernes Tor, warten einen Moment und hoffen, unentdeckt zu bleiben. Nichts passiert. Unter ihren Füßen knirscht Kies. Pierre streift den Rucksack ab, setzt sich auf ein Mäuerchen. Flaschen klappern. Er hustet, die Stirn fiebert.
Der Arzt in der Notaufnahme sah müde aus, hatte ihn und seine Gefährtin angeschaut und die Achseln gezuckt. Es hätte nichts geholfen, zu schimpfen und zu klagen. Also waren sie losgezogen. Pierre wusste, wohin.
Anne bleibt vor ihm stehen: „Du spinnst, du kannst da nicht reingehen!“
„Ich muss.“
Wie zart sie aussieht, wie verletzlich, trotz der abgelaufenen Chucks, der fleckigen Jacke. Darunter ist sie schön. Pierre schaut sie an, lächelt, streicht ihr über die Wange und umarmt sie. Vielleicht wird’s nach Weihrauch riechen, vielleicht nach altem Holz. Der König ist ein Heiler. War er immer. Gedanken, Gebete, Reste des heiligen Blutes, all das versteckt sich in den Ecken und Nischen der Sainte-Chapelle. Sogar in der Luft. Sie werden das Böse, die Krankheit vertreiben. Ganz sicher!
Er denkt an Paul. Ein Dieb, ein Säufer, ein guter Mensch, der in der Metro gebettelt hat, sich irgendwie über Wasser hielt. Paul lag leblos am Ufer der Seine, ein paar Meter neben der Pont Neuf.
Pierre erinnert sich an den Tag, als er zum ersten Mal hier war. Schnee und Eis bedeckten die Wege und Straßen, der Wind pfiff durch die Kleider hindurch und er fror so sehr, dass er einen Unterschlupf brauchte. Er schlich sich an der Sicherheitsschleuse im Hof vorbei und fand den Eingang ein paar Schritte vom Haupttor entfernt: Eine runde Öffnung mit Holztürchen, die aussah wie ein Kellereingang oder eine Schütte für Heizmaterial, an der es weder Schloss noch elektronische Vorrichtungen gab. Reinkommen war ganz einfach. Drinnen spürte er die seltsame Kraft dieses Ortes und ruhte sich aus wie lange nicht.
Er nimmt Anne an der Hand. Sie hat Seidenhaut. Bestimmt hat sie in einem Büro oder als Lehrerin gearbeitet. Er hat sie nie gefragt, weil er von der Vergangenheit nichts wissen will. Von seiner nicht, von ihrer nicht. Er will auch nicht an Liebe denken. Sie kümmern sich umeinander, sie wärmen sich, c’est tout!
Es riecht nach Schimmel, als sie durch den Tunnel kriechen. Wären sie dick, würden sie steckenbleiben. Am Ende des Gangs ist ein Luftschacht. Pierre hebt das Gitter an und sie stehen mitten in der Sainte-Chappelle, direkt vor der steinernen Figur des Königs. Sie schalten die Taschenlampe an. Eine Spinne huscht über eines der hölzernen Bilder an der Wand und verschwindet aus dem Lichtkegel.
Anne berührt den Stein: „Ich weiß, welcher Herrscher die Figur darstellt. Es will und will mir aber nicht einfallen.“
„Es ist auch egal.“
„Fühlt sich an, als wäre Leben drin.“
Das Licht fällt auf Wände und Fenster, auf königsblau und königsrot, auf die Fleur de Lys, auf farbenstrahlendes Glas, auf Ritter und Priester und Heilige, auf den Jesus der Legenden.
„Wir haben es geschafft“, sagt Pierre und breitet die Armeedecken auf dem Steinboden aus. Er hat Kopfschmerzen, die Stirn glüht, aber er will nicht klagen. Deshalb packt er aus, was er im Rucksack verstaut hat. Die Beute des Tages, das, was er von dem Geld kaufen konnte, das die Leute ihm zugesteckt haben: einen ganzen Laib Brot, Rotwein in Glasflaschen, einen Camembert, alles an der Kasse im Carrefour bezahlt. Er zieht das Messer aus der Tasche, schneidet Brot, gibt Anne die dicksten Scheiben. Der Käse schmeckt ihm. Wie lange hatte er keinen gegessen? Sie kramt eine Parfümflasche aus ihrer Tasche, duftet mit einmal wie ein Rendezvous an einem Samstagabend. Anne strahlt und schaut ihm direkt in die Augen. Ein paar Brotkrumen fallen auf die Decke. Er öffnet die erste Flasche, blickt sich um, schüttelt den Kopf - trunken von dem, was er hier sieht und spürt, von all den Farben und Lilien.
Pierre zeigt zu dem Treppchen, das zum hölzernen Thron führte: „Komm“, sagt er „komm!“ Sie nickt.
Die Nacht fühlt sich wärmer an, als er geglaubt hat. Sie schmiegen sich aneinander, schauen zu den Sternen über ihnen. Pierre vergisst das Fieber, als sie sich küssen.
Der König lacht in der Dunkelheit.