- Beitritt
- 08.07.2012
- Beiträge
- 896
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 17
Der Kundschafter
Yuki starrte auf das Display ihres Telefons. Die Wände des Zimmers rückten dicht an sie heran. In das Licht der Abendsonne, die schräg durch das Fenster fiel, mischte sich ein bläulicher Schimmer. Einen Moment lang stand Yuki ganz still. Dann machte sie einen Schritt und las die Nachricht erneut. Ihre Hand zitterte, als sie das Telefon auf den Tisch legte.
Im Badezimmerspiegel erschien ihr bleiches Gesicht. Yuki trat näher, doch als sie den Ausdruck in ihren Augen sah, wandte sie den Blick ab. Von der Straße her drangen die Geräusche der Stadt herein. Fahrradklingeln war zu hören, ein Hund bellte, und Schritte hallten von den gefliesten Wänden des kleinen Raumes wider. In all dem vibrierte ein fremder Klang. Es war ein dumpfes Knirschen, kaum wahrnehmbar, aber Yuki hörte es und erschauerte.
Sie klappte den Toilettendeckel zurück, erbrach sich, hustete und betätigte die Spülung. Als sie sich über dem Waschbecken kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, knickten ihre Knie ein.
Sie schwankte zurück ins Zimmer und lauschte. Der unheimliche Klang war fort. An einem Haken in der kahlen Wand hing ihre Jacke. Yuki streckte den Arm aus, doch mitten in der Bewegung hielt sie inne. Sie betrachtete ihre Hand, das fahle Weiß ihrer Haut. Eine Weile stand sie so und rührte sich nicht. Schließlich nahm sie die Jacke vom Haken, trat an den Tisch und griff nach dem Telefon. Noch einmal las sie die Nachricht. Ihre Lippen bewegten sich kaum, als sie flüsterte: Er ist hier.
Sie erreichte den Park im letzten Licht des Tages. Das Sakurafest war vorüber, doch noch immer hing der Duft der Kirschblüte in der Luft. Nakamoto saß auf einer Bank am Rande eines Spielplatzes.
»Sensei«, sagte Yuki mit zitternder Stimme. »Deine Nachricht, ich dachte …«
»Setz dich«, sagte Nakamoto ohne aufzusehen. Er starrte auf den Spielplatz. Schweiß tropfte ihm von der Stirn, seine Lippen waren trocken und blutleer. Der alte Mann bebte am ganzen Körper. Yuki setzte sich und ergriff Nakamotos Hand. Sie wollte etwas sagen, doch Nakamoto schnitt ihr mit einer Geste das Wort ab.
»Uns bleibt nicht viel Zeit. Es ist ein Aufklärer.«
»Ein Aufklärer?«
Der alte Mann nickte. Noch immer schaute er reglos gerade aus. »Ja, ein Kundschafter. Ein Scout. Ich kann ihn nicht aufhalten.«
»Aber wo …« Yukis Blick irrte über den Spielplatz und den angrenzenden Park. In der Dämmerung standen Büsche und Bäume still und dunkel da. Nichts rührte sich. In diesem Moment hörte Yuki es. Es kam von der Spielplatzschaukel. Das leise Klirren der Eisenketten stand wie ein einzelner Klang über der schweigenden Welt.
Yuki betrachtete das Mädchen, das dort, keine zwanzig Schritte von ihnen entfernt, auf der Schaukel vor und zurück schwang. Die Kleine mochte kaum acht Jahre alt sein, aber der Blick, mit dem sie Nakamoto fixierte, zählte Jahrtausende.
»Was kann ich tun?«, flüsterte Yuki.
Ein Lächeln umspielte die Lippen des Mädchens, doch in seinen Augen war nichts als ein kaltes Glühen. Die Kleine schwang sich von der Schaukel, strich ihr Kleid glatt und kam langsam näher.
Nakamoto hustete. »Lass ihn nicht aus den Augen«, sagte er erschöpft.
Ein Windstoß fegte durch den Park. Blütenblätter wirbelten empor. Yuki erfasste ein Zittern, als sie sah, wie sich die schwarzen Zöpfe des Mädchens in der Brise bewegten.
»Beherrsche deine Furcht«, sagte Nakamoto. »So, wie ich es dich gelehrt habe.«
Schauer jagten über Yukis Rücken, und sie spürte, wie sich ihre Muskeln spannten.
»Ich schaff das nicht«, sagte sie tonlos.
»Reiß dich zusammen.« Nakamotos Stimme klang rau.
Die Kleine näherte sich bis auf wenige Schritte, dann blieb sie stehen und musterte Nakamoto so aufmerksam, als wollte sie sich jedes Detail seiner Erscheinung einprägen. Hinter ihrer zarten Gestalt schwebten Kirschblüten durch die dunkle Leere. Yuki presste die Hand ihres Meisters, und sie spürte, wie die Kraft aus Nakamotos Körper wich.
»So treffen wir uns also wieder, Akuma«, sagte er matt. »Nach all den Jahren.«
Das Mädchen nickte. »Nach all den Jahren, Nakamoto.«
Yuki zitterte so heftig, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, sagte Akuma: »Ist das deine Schülerin?«
Als Nakamoto schwieg, lachte Akuma leise, und erneut rauschte ein Windzug durch den Park. Yuki hörte das Rascheln der Blätter in den Bäumen und Büschen und das gedämpfte Quietschen der Schaukel.
Nakamoto wurde von einem Hustenanfall geschüttelt. Er beugte sich vor, rang nach Atem und spuckte Blut. Yuki hielt noch immer seine Hand. Tränen liefen über ihre Wangen.
»Es wird Zeit«, sagte Akuma.
Nakamoto löste sich von Yukis Hand. »Du weißt, was zu tun ist«, sagte er.
Yuki schüttelte den Kopf. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Akuma den Blick auf sie richtete. Unter der Last dieses Blickes sank sie zusammen, spürte, wie er sich dunkel und schwer auf ihre Brust legte. Noch einmal griff Yuki nach der Hand ihres Meisters, doch Nakamoto wehrte sie mit dem Arm ab.
»Geh mit ihm«, sagte er. »Halte stand.«
Yuki presste die Lippen aufeinander. Sie hob das Kinn, wischte mit dem Arm über ihr Gesicht und schaute Akuma in die Augen. Die Kleine lächelte, hielt Yuki ihre winzige Hand entgegen und sagte: »Bist du soweit?«
Yuki schaute sich im Diner um. »Was willst du hier?«
Akuma öffnete die Lippen und forschte ohne ein Wort zu sagen in Yukis Gesicht. Als die Kellnerin an den Tisch trat, tippte Akuma auf die eingeschweißte Menukarte. »Zwei mal Keema und zwei Cola.« Die Kellnerin lächelte das Mädchen an, nickte und drehte sich um. Nachdem sie gegangen war, antwortete die Kleine: »Sag du es mir.«
»Hm?«
»Weshalb wir hier sind. Du hast uns hergeführt.«
Yuki sah das Mädchen an. Ihre Unterlippe bebte, als sie sagte: »Keine Ahnung, wovon du sprichst.«
Akuma hob die Hand und wies mit dem Zeigefinger auf die Eingangstür des Diners, die sich in diesem Moment öffnete. Ein junger Mann trat in das Restaurant. Er trug einen abgewetzten Parka, eine Zigarette glomm zwischen seinen Lippen.
»Wenn das nicht dein Bruder ist«, sagte Akuma. »Und schau, wer da mit ihm kommt. Meine Güte, du warst ja mal richtig hübsch.«
Yuki folgte Haru in den Diner. Sie wischte über ihre aufgeplatzte Unterlippe und schlug den Kragen der Jacke hoch. Haru setzte sich an einen Tisch im hinteren Bereich des Restaurants. Mit einer Bewegung des Kinns bedeutete er Yuki, ihm gegenüber Platz zu nehmen.
Sie bestellten, und eine Weile sagte niemand ein Wort. Haru folgte dem Song, der gerade im Radio gespielt wurde. Er hatte ein Bein über das andere geschlagen, und die Spitze seines Stiefels wippte im Takt. Yuki betrachtete Harus dunkle Hände, die über den Knöcheln aufgerissene Haut.
»Du musst lernen, wie man gehorcht«, sagte Haru schließlich und drückte seine Zigarette im Ascher aus. Die Kellnerin brachte ihre Bestellungen, und sie aßen schweigend. Yuki schaute durch die Fenster des Diners. Die Nacht senkte sich über die Stadt. Ein kalter Glanz lag auf den Straßen.
Irgendwann erhob sich Haru und zählte ein paar Geldscheine auf den Tisch.
»Los«, sagte er.
Akuma lachte und klatschte in die Hände. »Folgen wir ihnen.«
Yuki sah in das kleine, glatte Gesicht des Mädchens.
»Nein, bitte.«
Akuma hob die Hand. »Wir wollen zahlen, schnell.«
Das Mädchen lächelte Yuki böse an und leckte sich über die Lippen. Yuki fuhr zusammen. Sie schmeckte das Salz ihrer Tränen, und sie hörte das Pochen ihres Herzens.
Haru sah sich um. Flussaufwärts zuckten die Reflexionen eines Tonnenfeuers über den Spiegel des schwarzen Wassers, doch hier herrschte die Nacht. Bedächtig steckte sich Haru eine Zigarette an.
»Zieh dich aus«, sagte er und legte den Kopf in den Nacken, so als wären sie hier, um die Sterne zu betrachten.
Yuki knetete ihre Hände. »Bitte. Ich …«
Irgendwo am gegenüberliegenden Ufer schrie ein Tier. Haru zog den Parka aus und ließ ihn fallen.
»Mitten in der Stadt«, sagte er nachdenklich. »Und doch wie im tiefsten Wald.«
»Du musst das nicht tun«, sagte Yuki und lauschte erschüttert dem Klang ihrer Stimme. Haru rauchte. Er schaute hinauf in den nächtlichen Himmel. Jenseits der schimmernden Aureole, die von den Wolkenkratzern des Businessbezirks ausging, klaffte ein Loch absoluter Schwärze.
Die Kleine hatte sich unweit der Beiden ins Gras gesetzt. Sie schien die Kälte, die vom Boden ausging, nicht zu spüren.
Yuki stand bei ihr und presste sich die Hände vor das Gesicht.
»Nakamotos Schwachstelle zu finden, hat mich viele Jahre gekostet«, sagte Akuma.
Yuki ließ die Hände sinken und schaute hinüber zu den Beiden am Fluss.
»Für meine hast du nicht einmal eine Nacht gebraucht«, sagte sie.
Der erste Schlag traf Yuki am Hals. Haru wirkte irritiert. Vielleicht hatte er nicht richtig gezielt. Er packte Yuki an der Schulter und versetzte ihr einen Schwinger in den Bauch, der sie zusammenklappen ließ wie eine Puppe. Sie krümmte sich am Boden, rang nach Luft, und Haru zerrte ihr die Kleider vom Leib.
»Ein Nagel, der heraussteht, wird eingeschlagen«, sagte er schließlich, nachdem er seine Schwester vollständig entkleidet hatte. Einige Augenblicke lang trieb Yukis Unterwäsche auf dem dunklen Wasser des Flusses, dann verschwand sie lautlos in der Strömung.
Haru zog an seiner Zigarette und schaute auf Yuki herab, die mit den Armen ihre Brust umschlang und sich wimmernd auf den feuchten Sand des Ufers hockte. Eine Weile rührte sich niemand. Fäulnisdunst zog herüber.
»Vater ist zu früh gestorben«, sagte Haru. »Aber ich werde dir zeigen, wo dein Platz ist.« Er versetzte Yuki einen wuchtigen Tritt, der sie in den Fluss stieß. Mit einem Satz war Haru über ihr und drückte ihren Kopf in das schlammige Wasser.
Akuma lachte. »Na, das ist ja eine feine Familie.« Die Kleine stieß Yuki an und zwinkerte ihr zu.
»Wenn der Alte tot ist«, sagte sie, »werden meine Leute hier durchspazieren, als wäre es nichts.«
»So schnell stirbt Nakamoto nicht«, gab Yuki zurück.
Akuma schnalzte mit der Zunge. »Das werden wir sehen.«
Drüben am Fluss kämpfte Yuki um ihr Leben. Haru ließ einen Moment lang von ihr ab, so dass sie Atem schöpfen konnte, dann presste er sie wieder unter Wasser. Als er mit einer Hand das Schloss seines Gürtels löste und seine Hose öffnete, stieß Akuma einen leisen Pfiff aus.
Yuki schrie, das modrige Wasser brodelte unter ihr, über ihr. Sie spürte, wie Haru in sie eindrang, der Schmerz zerriss ihren Unterleib. Sie schluckte Schlamm, der Morast knirschte zwischen ihren Zähnen.
»Ich weiß nicht«, sagte Akuma, »weshalb Nakamoto dich zur Schülerin gemacht hat.« Die Kleine rieb sich das Kinn. Dann setzte sie hinzu: »Du bist schwach.«
Mit dem Knie stieß Yuki im schlickigen Untergrund gegen etwas Hartes. Hustend, keuchend, benommen vor Schmerz und Entsetzen registrierte sie, wie sich ihre Hand um einen Stein in Faustgröße krallte. Und in dem Moment, als Haru schwer atmend inne hielt und seinen Griff für einen Augenblick lockerte, fuhr Yuki herum und schmetterte den Stein in sein Gesicht. Sie hörte das Knacken, als Harus Nasenwurzel brach und ganz kurz standen sich die beiden – Bruder und Schwester – verstört gegenüber, so als begriffe keiner von ihnen, was hier gerade geschah. Schwarz lief das Blut über Harus Lippen und dann das Kinn herab. Yuki schlug noch einmal zu, Haru kippte rückwärts in den Fluss. Er wälzte sich herum und kroch durch das flache Wasser dem Ufer entgegen.
Yukis weißer Leib schimmerte in der nächtlichen Finsternis. Sie folgte ihrem Bruder mit unsicheren Schritten, noch immer den Stein in der Hand. Als sie ihn eingeholt hatte, setzte sie den Fuß zwischen seine Schulterblätter und drückte ihn in den Morast. Sie holte aus und zertrümmerte mit vier, fünf Schlägen Harus Schädel. Dann stand sie bewegungslos in der Kälte der Nacht.
Akuma erhob sich. Einen Moment lang schien das Mädchen etwas sagen zu wollen, doch dann schüttelte es den Kopf.
»Danach bist du seine Schülerin geworden«, sagte Akuma schließlich.
Yuki nickte. »Keiner von euch wird hier einfach durchspazieren«, fügte sie mit ruhiger Stimme hinzu und wischte sich über die Augen.
Die Kleine zuckte die Schultern. »Nun, ich bin nur ein Beobachter.« Sie wandte sich zum Gehen, hielt kurz inne, um Yuki mit ihrer winzigen Hand zuzuwinken und verschwand in der Dunkelheit.