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Der Kult
wenn ich leide.“
-Adrian Peivareh-
Nach langem Hin und Her entschied ich mich am Morgen meines großen Tages für ein eher lässiges Outfit. Jeans, schwarzes T-Shirt, Hemd. Ordentlich aber nicht weiter auffallend. Zufrieden betrachtete ich das Ergebnis im Spiegel und schwor mir, das arrogant wirkende Grinsen spätestens dann abzustellen, wenn ich das Haus verließ.
Mit einer Tasse Kaffee nebst Zigarettenschachtel im Schlepptau, schob ich die Balkontür auf und trat ins Freie. Eine salzige Meeresbrise wehte mir entgegen. Gierig sog ich die Luft ein und ließ mich auf einem der Terrassenstühle nieder. Geübt schüttelte ich eine Zigarette aus der Packung, ließ das Feuerzeug aufschnappen und entzündete sie. Für den Moment zufrieden lehnte ich mich zurück, schlürfte an meinem Kaffee und ließ den Morgen auf mich wirken.
Ein paar Möwen stritten sich kreischend um irgendwas, was das Meer über Nacht an den Strand gespuckt hatte. Die Wellen schwappten geräuschvoll über den Sand und in weiter Ferne schaukelte ein Fischerboot über das Wasser. Irgendwo am Küstenstreifen heulte eine Alarmanlage auf.
Ich kämpfte nach wie vor gegen den Drang, den Fernseher oder das Radio anzuschalten, um zu erfahren, ob ich das gewünschte Inferno losgetreten hatte. Aber ich hatte mir fest vorgenommen zu warten, bis ich es selbst schwarz auf weiß in meinen Händen hielt.
Ich drückte die Zigarette aus, leerte meinen Kaffee und sah auf die Uhr. 06:30 Uhr. Zeit, die Ernte einzufahren.
Noch während ich den Wagen aus der Einfahrt lenkte, schob ich eine meiner (lautesten) Lieblings-CD´s in den Wechsler und machte mich auf den Weg in die Stadt.
Der Fahrtwind brauste über das offene Verdeck und schon bald verschwand das Meer zu meiner Rechten. Häuser säumten jetzt nach und nach den Straßenrand.
Schon von Weitem konnte ich das Rot der Ampel sehen. Gemütlich ging ich vom Gas, ließ den Wagen auf die Kreuzung zurollen und hielt an. Während ich wartete, starrte ich nach oben. Ein einzelnes Flugzeug schmücke mit seinen Kondensstreifen den Himmel und am Horizont kämpfte sich eine noch müde Sonne zwischen ein paar violetten Wolken hindurch.
Vorausschauend klappte ich die Sonnenblende herunter. Ein kleiner Zettel kam zum Vorschein und landete in meinem Schoß. Verblüfft faltete ich das Papier auseinander.
Es war eine Nachricht von meiner Freundin. Julie. Sie musste sie hinterlegt haben, bevor sie zur Nachtschicht aufgebrochen war. Sie ließ mich wissen, dass sie unglaublich stolz auf mich war und ich allen Grund hatte, es ebenfalls zu sein. Und dann stand da noch etwas sehr Unanständiges und dass ich nicht allzu spät heimkommen solle.
Grinsend steckte ich den Zettel ein, steckte mir eine weitere Zigarette an und tippte mit dem Daumen auf dem Lenkrad herum. Ich legte den Kopf in den Nacken. Langsam stieß ich den Qualm aus meinen Lungen und blies ihn in die kühle Morgenluft hinaus. Mein Blut kochte. Große Klasse.
Ich kam mir allwissend, sexy und unbesiegbar vor. Als wäre die Welt ein einziger, gigantischer Pausenhof. Und ich, der Unscheinbare, hatte gerade Gott, dem fiesesten Schläger der ganzen Schule, vor allen anderen in die Eier getreten und somit seinen Platz eingenommen. Die Ampel sprang auf Grün und ich drückte das Gaspedal durch.
Die Palmen am Straßenrand fegten an mir vorbei. Die Stadt kam gerade erst zu sich. Wann immer ich an einem Zeitungsstand vorbei kam, wurde ich ein kleines bisschen langsamer um die Menschen davor zu beobachten. Einige diskutierten tatsächlich, steckten die Köpfe zusammen oder hielten sich gedankenverloren die Hände vor den Mund.
Ich wuchs auf Rekordgröße an und drehte die Lautstärke hoch. Ich war ein verdammter Komet und hatte mit voller Wucht eingeschlagen. Vor mir erhoben sich die ersten Hochhäuser.
Die Luft in der Stadt war fieberig und die letzten Straßenlaternen brannten noch. Die Nacht war gewichen und ließ ihre Verletzten zurück. Vor den Bars und Clubs forderte der Alkohol von den Menschen seinen Tribut.
Ich selbst trank nicht und hatte auch nie verstanden, was man in Taumel und Lüge zu finden hoffte. Natürlich gab es auch in meinem Leben genug finstere Momente, die nach den hochprozentigen Engeln riefen doch wenn die Versuchung einmal zu groß wurde, dachte ich ganz einfach an meinen Vater und die Vernunft kehrte zurück. Es hatte mich viel Zeit und Kraft gekostet, die Vergangenheit nicht als Kette, sondern als Werkzeug zu betrachten.
Ich bemerkte, dass ich zu schnell fuhr und ging vom Gas. Ein riesiges Plakat am Straßenrand wünschte mir wie jeden Tag einen Guten Morgen mit Magnum Deluxe Coffee.
Wenige Minuten und einige Kurven später, kam endlich das Redaktionsgebäude in Sicht.
Ich schrieb nun seit beinahe zwei Jahren für eine der größten Zeitungen des Landes. Und auch wenn die Verkaufszahlen momentan insgesamt zurückgingen, konnten wir uns stets auf eine große Leserschaft stützen. Dass sich in den letzten Monaten immer öfters Boulevardartikel einschlichen, hatte ich registriert, pflichtete dem jedoch keine große Bedeutung zu. So ganz ohne Klatsch kam wohl kein Blatt aus.
Für meine Story, die gerade wie geplant dabei war das herrschende Bewusstsein aus den Angeln zu heben, hatte ich bereits in den letzten Monaten meines Studiums recherchiert. Mein größtes Interesse galt schon immer den Mechanismen von Politik und Gesellschaft. Wie funktionierte ein System? Warum funktionierte es überhaupt und wer manipuliert uns zu welchem Zweck?
Ich wollte meine Leser immer schon dazu bewegen, ebenfalls einen Blick hinter die Kulissen zu wagen und nun hatte ich sie, die eine, alles entlarvende Story.
Denn in den oberen Etagen des Landes regierte das Chaos. Und es war an der Zeit dieses Chaos beim Namen zu nennen, es ans Tageslicht zu zerren. Es hoch oben an die Stadttore zu nageln von wo aus es alle sehen konnten. Bevor sie uns eines Tages mit der Rechnung alleine am Tisch sitzen ließen.
Ich lenkte meinen Wagen auf den Mitarbeiterparkplatz, schloss das Verdeck und stieg aus. Vor Aufregung vergaß ich beinahe, abzuschließen.
Direkt vor dem Gebäude ratterten seit gut einer Woche die Maschinen einer Baustelle und der Geruch von frischem Teer stieg mir in die Nase. Ein paar Bauarbeiter lehnten an einem der Bagger und nahmen ihr Frühstück zu sich. Zwischen ihnen schien eine hitzige Diskussion im Gange zu sein. Ich atmete tief durch und ging durch die gläserne Drehtür.
Als ich aus dem Fahrstuhl stieg, empfingen mich klingelnde Telefone und das Brodeln unzähliger Kaffeemaschinen. Normalerweise war ich einer der ersten. Heute aber schienen die meisten bereits an ihren Schreibtischen zu sitzen.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich mich meinem Platz näherte. Die heutige Ausgabe war bereits verteilt worden.
Ich ließ mich in meinen Schreibtischstuhl fallen und rollte unfreiwillig ein Stück davon. Schnell strampelte ich mich zurück zu meinem Tisch und hielt den Atem an. Ein Knistern lag in der Luft. Dann nahm ich das Magazin in die Hand, las die Titelseite und spürte, wie sich meine Eingeweide verkrampften:
POPSTERNCHEN und IT-GIRL SASHA DIAMOND AUF OFFENER STRAßE ERSCHOSSEN
Mir wurde heiß und kalt und der Schweiß schoss mir aus jeder einzelnen Pore. Wo zum Teufel war meine Story? Ich blinzelte ein paar Mal, als würde das etwas an der Schlagzeile vor mir ändern. Ich blätterte um. Nichts. Ich schluckte schwer. Zitternd überflog ich den Aufhänger.
Irgendein verblendeter Fan hatte das fragwürdige Musikphänomen und Model Sasha Diamond - ein selten grottiger Künstlername - vergangene Nacht beim Verlassen einer Diskothek niedergeschossen und war dann geflüchtet. Keine Stunde später fand ihn ein Sondereinsatzkommando der Polizei tot in seiner Wohnung. Selbstmord.
Sasha Diamond wurde umgehend ins umliegende Krankenhaus gefahren, wo sie allerdings noch vor der eingeleiteten Notoperation ihren Verletzungen erlag.
Neben dem Text prangte ein Foto von Sasha auf dem Laufsteg und ein Bild von blutigem Asphalt und Absperrband.
Mein Mund stand so weit offen, dass man problemlos einen Apfel hätte hineinlegen können.
Ich drehte mich langsam auf meinem Stuhl um, als jemand hinter mir um Aufmerksamkeit räusperte. Es war Stephen Marlin, mein Vorgesetzter. Er sah mich aus großen Augen und mit zusammengepressten Lippen an.
„Bei mir. Sobald Sie bereit sind!“, sagte er und verließ meinem Albtraum vorerst wieder.
Ich nickte nur und wendete mich wieder der Schlagzeile zu, um sie weiter ungläubig anzugaffen.
„Herein!“, rief Marlin, nachdem ich angeklopft hatte.
Ich betrat das stark klimatisierte Büro und schloss die Türe unnötig langsam.
„Setzen Sie sich doch“, sagte er und stand selbst auf.
Ich ließ mich in einen Stuhl aus kaltem, schwarzen Leder sinken. Meine Handflächen waren schweißnass und etwas hinter meinem Gesicht schrie nach Freilassung. Aus meinem Hirn war eine Autobahn geworden, auf der unzählige Gedanken entlang rasten. Zu schnell um sie genauer zu betrachten.
Marlin setzte sich auf die Schreibtischkante, verstaute seine Handflächen unter den Achseln und legte die Stirn in Falten. Er sah mich an, als wäre ich ein kleines Mädchen, dessen Hündchen er gerade platt gefahren hatte. Und ich, die Hundeleine noch immer fest umklammert, stand am Straßenrand und staunte über die blutige Realität.
„Sagen Sie es ruhig, Jim“, forderte er.
„Wo ist er?“, hörte ich mich in seltsamer Ruhe sagen.
Wieder presste er die Lippen zusammen und suchte auf dem Boden zu seinen Füßen erst einmal nach einer Antwort.
„Ich habe getan, was ich konnte“, schwor er dann und legte eine kurze Pause ein, „Aber die Entscheidung war klar. Entweder wir schließen uns dem Feuer an. Oder lassen uns davon auffressen! Sie kennen das.“
Mir war plötzlich unglaublich heiß und ich war unfähig zu schlucken. Mit der Hand wischte ich mir über mein feuchtes Gesicht.
„Wegen dieser Scheiße?“, fragte ich ohne ihn anzusehen.
„Wegen dieser Scheiße“, sagte er nickend.
„Seit wann sind wir ein verfluchtes Klatschblatt?“
„Bitte …!“
„Es gab bisher nicht einen Artikel über diese Schlampe!“, fauchte ich.
„Kommen Sie, Jim. Sie wurde ermordet.“
„Wir hatten uns auf diesen Tag geeinigt!“
„Ich weiß.“
„Und das nicht ohne Grund. Es muss heute sein!“
Marlin nickte nur. Ich kam mir vor wie ein Fahrlehrer, der seinem Schüler den Unterschied zwischen Gas- und Bremspedal erklärte und dann mit ansehen musste, wie sein Schüler nickend gegen eine Wand fuhr.
„Wir könnten ihren Artikel, je nachdem wie sich die Geschehnisse weiter entwickeln, morgen bringen“, sagte er.
„Auf der Titelseite?“
„Das kann ich Ihnen nicht garantieren.“
„Aber diese beschissene Wahl ist doch schon morgen!?“
Der Zorn drang jetzt in jede Faser meines Körpers vor. Ich wollte schon Blut und Galle spucken, als mich ein Gedanke plötzlich zusammenzucken ließ.
„Moment mal“, sagte ich und ein Funken Hoffnung kam auf, „Ist das alles ein Scherz?“
Ich wäre nun wahrlich nicht der Erste gewesen, den man innerhalb der Redaktion aufs Glatteis geschickt hätte. Und es war immer wieder faszinierend, wie kreativ und bodenlos böse der Mensch doch werden kann, wenn er uneingeschränkten Zugriff auf Druckermaschinen und die modernsten Bildbearbeitungstechnologien hat.
Marlin sah mich unglücklich an. Dann nahm er eine Fernbedienung vom Tisch und schaltete einen kleinen Fernseher in der Ecke seines Büros an. Ich drehte mich um. Die Nachrichten flimmerten über den Schirm:
„… handelte es sich bei dem Mörder von Sasha Diamond um einen 29-jährigen Mann mexikanischer Abstammung. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich um denselben Mann handelte, der die Sängerin bereits vor wenigen Monaten verfolgt und gestalkt haben soll. Wir schalten jetzt Live zu unserer ...“
Marlin schaltete den Fernseher wieder aus und stieß die Luft aus seinen Nasenlöchern.
„Ist kein Scherz, Jim“, sagte er und legte die Fernbedienung zurück, „Ich wünschte, es wäre einer“.
Ich biss die Zähne zusammen. Die Hoffnung starb immer zuletzt, aber nun wurde mir klar, dass mit mir nie auch nur ein Schwein über die Zeit danach geredet hatte.
„Achtzehn Monate“, sagte ich, „Achtzehn Monate habe ich gebraucht um …!“
„Es war nicht meine Entscheidung, Jim.“
„Wessen war es dann?“, brüllte ich, stand auf und warf dabei den Stuhl um.
Jetzt war es passiert. Noch nie zuvor in meinem Leben war ich gegenüber einem Vorgesetzten laut geworden. Ich verstand es normalerweise spielend, mich in schwierigen Situationen unter Kontrolle zu halten, um darauf zu warten, dass mein Gegenüber die Beherrschung verliert und seine Schwachstellen offen legt. Der Mensch ist am verletzlichsten, wenn er zürnt.
Marlin sah mich lange an und nickte leicht. Dann stand er auf, ging an mir vorbei und vergewisserte sich, dass die Tür auch wirklich geschlossen war. Er drehte die Jalousien vor den Fenstern herunter und fuhr sich angestrengt durch den Nacken.
Ich stellte den Stuhl wieder auf obwohl ich ihn lieber, wo er doch schon mal da lag, mit den Füßen zu Klump getreten hätte.
Marlin ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder und tippte mit dem Finger auf der Tischkante herum.
„Bitte setzen Sie sich wieder“, sagte er.
„Ich stehe lieber“, antwortete ich knapp.
Ich war kein Idiot. Ich wusste natürlich, dass es nicht Marlins Schuld war. Trotzdem schaffte ich es nicht, meine abgrundtief finstere Miene ihm gegenüber abzulegen.
„Wie Sie wissen, sind unsere Verkaufszahlen in den letzten Monaten gesunken und ...“, begann Marlin.
„Ist das Ihr Ernst?“, kläffte ich dazwischen, „Ich habe für diesen beschissenen Artikel gelitten. Verstehen sie das? Ich habe alles gegeben. Sogar meine Beziehung war in Gefahr, weil ich jede freie Minute damit verbracht habe, für diese Zeitung einen Scheiß Knaller zu kreieren. Und ausgerechnet heute, an meinem Tag, berichten wir auf einmal über von Youtube hochgezüchtete Teenie-Idole?“
„Bleiben Sie fair, Jim“, seine Stimme wurde lauter, „Sie wurde schließlich erschossen.“
„Fair? Wir hatten eine beschissene Abmachung!“, schrie ich und gestikulierte mit den Armen.
Ich wusste, dass ich nun kurz davor war, etwas endgültig Dummes zu sagen oder zu tun. Also setzte mich doch, starrte zu Boden und faltete die Hände über meinem Nacken zusammen.
Schweigend saßen wir uns gegenüber. Ich versuchte mich zu beruhigen, doch mein Herz klopfte mit dem Presslufthammer vor dem Gebäude um die Wette. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis Marlin seufzte und die eisige Stille im Raum durchbrach:
„Ich habe leider kaum Zeit. Aber hatten Sie heute schon einen Kaffee?“
„Verdammt, ja“, sagte ich entnervt, ohne aufzublicken.
„Tja. Ich nicht. Kommen Sie. Begleiten Sie mich!“
Ein paar Minuten später saßen wir gemeinsam, zwei Häuserblocks entfernt, in einem kleinen, jedoch gut besuchten Café. Es gab zwei Fernseher. Auf beiden liefen die Nachrichten. Es gab nur das eine Thema.
Nachdem die Bedienung unsere Bestellung aufgenommen hatte, starrte ich aus dem Fenster. Autos bretterten vorbei. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite warteten Menschen an einer Bushaltestelle - allesamt vertieft in die Morgenzeitungen oder aber an die Bildschirme ihrer Mobiltelefone gefesselt.
„Wissen Sie eigentlich, warum die Menschen so gerne etwas über tote Prominente wie Sasha Diamond lesen?“, fragte mich Marlin plötzlich und riss mich aus meiner Gedankenwelt.
„Sie haben sicher eine verdammt gute Antwort darauf“, entgegnete ich und lehnte mich in meinem Sitz zurück.
Marlins Mund verkrampfte sich zu einem merkwürdigen Lächeln und er faltete die Hände zusammen. Der Schatten einer großen Wolke zog durch die Straße und traf auch das Café.
„Weil sie es ihnen gönnen, Jim!“
Die Bedienung näherte sich und stellte uns jeweils eine große Tasse Kaffee vor die Nase.
„Danke“, murmelte ich.
Marlin nickte ihr zu. Ich riss eine kleine Tüte Zucker auf und ließ die kleinen Kristalle in meinen Kaffee rieseln.
„Was genau meinen Sie?“, fragte ich, während ich mit dem Löffel in meiner Tasse herumstocherte.
Diesmal war es Marlin, der aus dem Fenster starrte und sich kurzzeitig verlor. Er runzelte die Stirn.
„Sehen Sie“, begann er dann, „die Menschen wollen nichts über Leute lesen deren Bankkontos platzen, die schnelle Autos fahren oder die in den teuersten Hotels dieser Welt absteigen. Nein. Sie wollen erfahren, dass auch diese Leute fett, alt und krank werden können. Dass auch deren Herzen brechbar sind. Sie wollen wissen, wie Spitzenschauspieler ohne Schminke aussehen und dass die heißesten Models der Welt Cellulite am Hintern tragen, bevor sie nicht eine Runde durch den Photoshop gedreht haben.
Die Menschen wollen sehen, dass es einfaches Blut ist, das auf die Straße klatscht, wenn jemandem wie Sasha Diamond der Schädel vom Hals geblasen wird.“
Er legte eine kurze Pause ein, als ein Krankenwagen lautstark an uns vorbeirauschte, um sich noch lange hörbar durch den Berufsverkehr zu kämpfen.
„Hören Sie, die Menschen fürchten sich nicht davor, dass sie nie das erreichen werden, was die Leute in den VIP-Bereichen ihr Eigentum nennen dürfen. Stattdessen fürchten sie sich davor, dass diese nicht das ertragen müssen, worunter sie selbst tagtäglich zu leiden haben. Die Menschen haben Angst. Angst davor, dass andere vergessen wurden als Liebeskummer, Durchschnittseinkommen und schiefe Zähne verteilt wurden.
Sie wollen die Gewissheit, dass weder Reichtum, Macht oder ein perfekter Arsch jemanden über den Zustand „Mensch“ hinaus heben können. Dass auch diese Leute letzten Endes, einfach nur sterblich sind.
An diesem Leid teilhaben zu dürfen, das ist ihre eigene, ganz spezielle Form von Rache!“
Ich antwortete nicht. Legte nur den Kopf in den Nacken und stieß die Luft aus den Nasenlöchern. Marlin schob seinen Kaffee beiseite, beugte sich vor und verschränkte seine Unterarme auf dem Tisch.
„Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Jim. Auch ich bin nicht gerade betroffen darüber, dass jemand dieser Dumpfbacke das Licht ausgepustet hat. Sasha Diamond war eine talentresistente Rotzgöre mit dem Drang, ihr Ego Gassi zu führen, die außerdem jeden einzelnen Musik– und Filmproduzenten der Stadt inzwischen am Geschmack identifizieren konnte.“
„Sasha Diamond interessiert mich einen feuchten Dreck, sagte ich.
„Ich weiß!“
„Ach ja und warum reden wir dann darüber?“
„Damit sie mir heute nicht verzweifeln, Junge. Und auch nicht morgen oder wann auch immer. Sie sind jung, Jim. Und sie sind gut. Verdammt gut. Mir müssen sie schon lange nichts mehr beweisen. Sie haben in den letzten Monaten großes geleistet und ich ziehe meinen Hut vor so viel Leidenschaft und Kampfeslust.“
„Aber?“
„Aber in den Straßen dort draußen herrscht ein Kult. Und der betet zu allerlei bösen Göttern. Und leider hat, ausgerechnet heute Nacht, einer dieser Götter geantwortet.“
Ich starrte in meinen Kaffee. Mein Hirn kaute auf Marlins Worten herum wie auf einem Kaugummi, der längst jeglichen Geschmack verloren hatte.
Wenn er mich mit seinem Vortrag trösten wollte, hatte er auf ganzer Linie versagt. Doch irgendetwas sagte mir, dass dies allein nicht seine Absicht war.
Marlin schürzte die Lippen. Dann sah er auf seine Uhr und würgte den Rest seines Kaffees herunter.
„Ich muss gehen, Jim. Sie verstehen!“
„Gut“, murmelte ich und schickte mich an, ebenfalls auszutrinken.
„Kein Grund zur Eile. Sie müssen nicht mitkommen“, sagte Marlin und stand auf, „Gehen Sie heim und ruhen Sie sich aus. Kommen Sie am Montag wieder“.
Ich wollte erst lautstark protestieren, ließ es dann aber doch sein.
„Mal sehen“, brummte ich stattdessen.
Er zog seine Brieftasche hervor.
„Das erledige ich“, sagte er und zeigte auf meinen Kaffee.
Ich nickte ihm zum Dank zu. Marlin schob sich seine Sonnenbrille ins Gesicht und richtete den Kragen seines Hemdes.
„Ich werde tun was ich kann, damit ihre Geschichte schnellstmöglich veröffentlicht wird. Wenn sie aber der Meinung sind, wenn nicht jetzt dann doch besser nie, dann lassen Sie es mich bitte noch heute wissen!“
Meine Hände krampften sich zu Fäusten zusammen. Mir war klar, dass es längst zu spät war. Ich nickte erneut.
Marlin sah mich noch einen Moment an und machte sich dann auf, zu gehen.
„Wenn es stimmt, was Sie sagen“, platzte es plötzlich aus mir heraus, „warum dann überhaupt je wiederkommen?“
Marlin blieb neben mir stehen, sah mich aber nicht an. Er senkte den Blick und legte mir eine Hand auf die Schulter. Er drückte leicht zu.
„Wir zerstören Ängste, Sie und Ich. Aber wir schüren sie nicht. Niemals. Dann überleben wir das hier!“
Dann lies er mich alleine. Ich hörte ihn hinter meinem Rücken bezahlen und dann das Café verlassen.
Ich ging nicht heim. Stattdessen saß ich noch eine gefühlte Ewigkeit mit geprügeltem Gesichtsausdruck da und starrte auf den Bildschirm über der Bar. Sasha Diamonds Blut auf der dreckigen Straße. Das Gesicht ihres Mörders. Die Diskothek die im Blaulicht unterging. Sie zeigten es immer und immer und immer wieder.
Auch die anderen Gäste ließen sich von der Dauerschleife hypnotisieren.
Zwischendurch versuchte ich, in den Gesichtern der anderen zu lesen. Von Entsetzen bis hin zu Gleichgültigkeit schien alles vertreten. Ein Mann, ungefähr in meinem Alter, forderte die Bedienung auf die Lautstärke etwas aufzudrehen.
Als mich schließlich das Gefühl überkam, in dem Café keine Luft mehr zu kriegen, stand ich auf und ging.
Es war heiß geworden. Die Sonne brannte erbarmungslos und die letzten Wolken waren verschwunden. Gedankenverloren schlenderte ich in Richtung Parkplatz davon.
Auf meinem Weg kam ich an einem kleinen Spirituosenladen vorbei und hielt an. Mit hängenden Schultern betrachtete ich die Auslage im Schaufenster. Flaschen unterschiedlichster Formen und Farbe ragten vor mir auf. Genug um sämtliche Alkoholiker der Stadt damit aufs offene Meer hinaus treiben zu lassen. Wiederverschließbare Gleichgültigkeit. Zum Greifen nah.
„Toll gemacht, Dad“, knirschte ich, wandte mich ab und ging weiter.
Ich lenkte meinen Wagen beinahe eine Stunde über die kurvige Küstenstraße. Zerklüftete Felsen zu meiner rechten, das Meer zu meiner linken. Bald verschwanden die letzten Anzeichen von Zivilisation und ich hielt an einer ungepflasterten Ausbuchtung direkt neben der Straße.
Ich parkte den Wagen im Schatten einer großen Palme und stieg aus. Die Straße hatte einen weiten Bogen geschlagen, so dass ich von hier aus einen guten Blick über die ganze Stadt hatte.
Ich versuchte meine Hemdtasche zu öffnen, um an meine Zigaretten zu gelangen, bekam den Knopf jedoch nicht durch die Lasche geschoben. Ich zog und zerrte. Versuchte es mit Feingefühl, probierte es mit zwei Fingern, schwitzte, rutschte ab und explodierte dann.
Mit einem einzigen Ruck riss ich die Hemdtasche auf. Nähte rissen auf. Der Knopf verabschiedete sich mit einem zupfenden Geräusch. Ich packte die Zigarettenpackung, holte aus und warf sie mit aller Kraft über die Klippe.
„Fuck! Scheiße!“, brüllte ich meinen Kippen hinterher, „Fuck, fuck fuck!“
Erschöpft ließ ich mich zu Boden sinken und lehnte mich gegen die Palme. Von meiner erhöhten Position aus beobachtete ich ruheloses, winziges Leben in den Straßen. Doch dann erinnerte ich mich an das Gespräch im Café zurück und die Stadt mutierte zu diesem einen riesigen, unbezwingbaren Gegner.
Die Geräusche der Stadt verschmolzen zu einer Stimme und diese Stimme rief mich zu sich herab. Runter von meinem Berg, von dem aus ich alles überblicken konnte und der mich den Horizont sehen ließ. Und wieder hinab in die Straßenschluchten, die mir die Sicht auf das große Ganze verweigerten und in denen das Leben stets nur von einem Block bis zum nächsten reichte.
Ich spürte, wie ich durch die Last meiner düsteren Gedanken in mich zusammenfiel und ließ mich rücklings ins Gras fallen.
Weit unter mir brandete das Meer gegen die Klippen. Ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, um wieder zur Ruhe zu kommen. Doch Marlins Worte spukten mir im Kopf herum und speisten mein Gehirn mit heillos schwachsinnigen Bildern. Bilder von Menschen, die im Blutrausch durch die Straßen der Stadt zogen, mir bekannte Prominente an Straßenlaternen aufhingen oder sie bei lebendigem Leibe zerrissen.
Ein erfrischender Windstoß wehte um mich herum. Er hob die Palmblätter an, tanzte einige Sekunden mit ihnen und ließ sie wieder fallen. Eine große Kokosnuss schaukelte direkt über meinem Kopf auf und ab. Ich fixierte sie mit einem starren Blick.
„Tu es“, flüsterte ich schließlich und ließ die Kokosnuss dabei nicht aus den Augen, „Komm schon … tu es„
Der Wind wurde stärker.
Julie war schon da, als ich nach Hause kam. Es war bereits später Nachmittag. Auf die dämliche Kokosnuss war kein Verlass gewesen und so hatte ich noch viele Stunden auf dem Hügel zugebracht. Auch der Rückweg war umständlich lange ausgefallen.
Wie ein Junge mit einem schlechten Zeugnis im Sack und einem gewalttätigen Vater auf der Couch, trat ich ein, und warf die Türe hinter mir zu.
Julie trat vom Balkon, kam auf mich zu und legte mir ihre Arme um den Hals. Ich drückte sie fest an mich. So standen wir eine Weile wortlos beisammen.
Dann löste sie sich langsam von mir und legte ihre Hände auf meine Wangen. Sie sah mich an. Ihre Augen verrieten, dass sie etwas getan hatte, was mir mein eigener Stolz bis jetzt verweigert hatte. Julie hatte geweint und mir taten augenblicklich all die Idioten da draußen leid, die jemals versucht hatten, Liebe in Worten auszudrücken.
„Was kann ich tun?“, fragte sie und zog die Lippen zurück.
„Ich bin in Ordnung“, schwindelte ich und täuschte ein Lächeln vor.
Doch sie durchschaute mich. Julie besaß diesen Röntgenblick, der Männer zu Glas werden lässt. Wieder schloss sie mich in die Arme und ich bettete meinen Kopf auf ihre Schulter. Ich verspürte den Drang, los zu heulen und schluckte schwer.
„Jim?“
„Ja?“
„Hast du meine Nachricht gefunden?“
„Ja!“
Wieder kehrte ein Moment der Stille ein.
„Weißt du,“ flüsterte Julie dann, „Das, was ich geschrieben habe, das gilt trotzdem! Alles, was ich geschrieben habe!“
Ich runzelte die Stirn und sah sie an. Julie verzog den Mund und sah mich aus großen Augen heraus fragend an. Ich strich ihr über die Wange und küsste sie.
Die Wellen waren größer geworden. Unüberhörbar brachen sie in Strandnähe.
Auf dem Wohnzimmerboden lagen verstreut Kissen und Kleidungsstücke. Wir hatten es nicht mehr bis ins Schlafzimmer geschafft und lagen nun, ein wenig erschöpft, auf dem Sofa beisammen. In meinen Lenden kribbelte es noch immer, während meine Finger mit Julies dunkelblondem Haar spielten. Draußen wanderte das Licht und die Sonne bereitete sich allmählich für ihren Sturz ins Meer vor.
Nach mehreren Fehlschlägen gelang es Julie, mit dem großen Zeh die Fernbedienung zu erwischen und den Fernseher ein zu schalten.
Wir verfolgten noch die letzten Minuten einer bunten Sitcom bevor sich nach einem kurzen Werbeblock, die Abendnachrichten ankündigten.
„Oh. Ist das okay?“, fragte Julie.
Mich überkam ein mulmiges Gefühl. Doch ich nickte und wir setzten uns auf. Julie strich sich die Haare zurecht.
In den letzten Stunden hatten die Medien ihre Palette an exklusivem Bildmaterial erweitert. Aufnahmen von Menschen, die Kerzen und Blumen vor dem Club niederlegten, vor dem Sasha Diamond niedergeschossen wurde. Interviews wurden geführt. Kleine Mädchen heulten Kameralinsen voll und Trauerbekundungen weltweit fluteten das Internet. Oh Mann!
Ich drehte meinen Kopf zur Seite und beschloss zu flüchten, indem ich einfach nur Julie ansah. Sie hatte die Augen zusammengekniffen und den Mund leicht geöffnet. Den Körper leicht nach vorne gebeugt, ließ sie sich von dem Bilderrausch in den Bann ziehen. Und hätte ich in diesem einen, entscheidenden Moment geblinzelt, dann wäre es mir womöglich entgangen. Ein kleines, furchteinflößendes Detail.
Ich sortierte einen Moment lang meine Gedanken und stand dann auf.
„Ich muss noch kurz etwas erledigen“, sagte ich und versuchte, die Benommenheit in meiner Stimme zu überspielen.
„Was denn?“
„Dauert nicht lange. Versprochen.“
„Ist alles in Ordnung?“
„Alles okay“, sagte ich, ohne Rücksicht auf den Röntgenblick.
„Soll ich uns etwas zu Essen machen?“
„Gern.“
Ich warf mir ein Shirt über, verschwand in meinem Arbeitszimmer und schloss die Türe. Gedämpft hörte ich Julies Schritte, und wie sie in der Küche zu hantieren begann.
Ich zog die Vorhänge zur Seite. Lila Wolken auf rotem Himmel. Der erste Tag ohne Sasha Diamond neigte sich einem überraschend farbenfrohen Ende.
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, fuhr meinen Laptop hoch und öffnete meinen E-Mail Account. Mit einem kribbelnden Gefühl in den Fingern gab ich Marlins Mail-Adresse ein.
Nach nur zwei kurzen Sätzen und einem knapp gehaltenen Gruß, schickte ich die Nachricht ab. Danach ließ ich mich zurückfallen und starrte eine Zeit lang vor mich ins Leere.
Auf meinem Schreibtisch stand ein eingerahmtes Foto. Ein Urlaubsbild von mir und Julie. Ich nahm es an mich.
Es war eines meiner Lieblingsbilder von Julie. Es zeigte einfach alles, worin ich mich bereits bei unserem ersten Treffen verliebt hatte. Die langen Haare. Diese großen, wunderschönen Augen. Das freche Gesicht. Und ja, ja es zeigte auch die kleinen Grübchen, die sich bereits beim noch so geringsten Anflug eines Lächelns bei ihr bildeten.
Wie versprochen, verließ ich mein Arbeitszimmer kurz darauf wieder, blieb jedoch im Flur stehen und beobachtete Julie. Sie hatte sich eines meiner alten Band-Shirts übergezogen und war mit Gemüseschneiden beschäftigt. Sie bemerkte mich nicht. Der Fernseher lief noch immer.
Mit meiner Arbeit hatte ich drohendes Unheil abwenden wollen. Ich wollte die Menschen da draußen schützen. Sie warnen. Ihnen die Augen öffnen und sie auf den richtigen Weg führen. Ich hätte geradezu alles für sie verwüstet, damit sie noch einmal von vorne beginnen konnten.
Jetzt sah Julie auf, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte mich an. Ich lächelte zurück. Wie gern wäre ich auch ihr Komet gewesen.
„Thai-Curry“, sagte sie und wedelte mit dem Messer.
„Klingt super“, antwortete ich.
Gut möglich, dass Marlin mich an diesem Morgen nur hatte trösten wollen. Sehr wahrscheinlich sogar.
Aber was wenn nicht? Was, wenn wirklich mehr dahinter steckte?
Dann hatten sich die Kannibalen letzten Endes zum Dank ja doch nur Augen und Zungen aus dem Schädel gerissen, und für meine Story gab es jetzt nur noch einen einzigen passenden Zeitpunkt, um veröffentlicht zu werden.
Und Marlin hätte dann, ganz nebenbei bemerkt, zumindest in einem Punkt Recht behalten: Jeder von uns hat so seine eigene, ganz spezielle Form von Rache.