Der Krieg und das Kind
Der Krieg und das Kind
Der Krieg schreitet durchs Land. Pausenlos wird geschossen, Bomben fallen, Städte und Dörfer liegen in Schutt und Asche. Ueberall lecken Flammen die Erde. Dicker, schwarzer Rauch verdunkelt die Sonne. Der Krieg ist mit seiner Arbeit zufrieden; sehr zufrieden. Er wölbt die Brust und pfeift das Lied vom Tod.
Der Krieg kommt zu einem abgebrannten Haus. Davor sitzt ein Kind, nackt und mit schwärenden Wunden übersät. Seit Tagen hat es nicht gegessen und getrunken. Mit fiebrigen Augen schaut es den Krieg an. Das rührt den Krieg ein bisschen. Er bleibt stehen. Schliesslich ist er kein erklärter Feind der Kinder, noch macht es ihm Freude, sie leiden zu sehen.
„He, Kind, warum bist du so traurig? Sieh her, ich hab dir ein Holzgewehr mitgebracht. Damit kannst du Krieg spielen: Peng ... Peng! Sieh her, ich hab dir kleine Kanonen, Panzer und Flugzeuge mitgebracht. Damit kannst du ganze Schlachtfelder aufbauen: Rums ... Bumm ... Rums! Alle Kinder spielen im Krieg gerne Krieg. Das macht Spass.“
Das Kind sagt mit schwacher Stimme: „Krieg, du hast meine Mutter, meinen Vater, meinen Bruder und mein Meerschweinchen getötet. Wie soll ich da Krieg spielen und Spass haben, wo alle tot sind?“
„He, Kind, sei doch nicht so pessimistisch. Wie sagt man: Die Zeit heilt alle Wunden! Kaum bin ich vorbei, wirst du wieder glücklich sein. Ich bleibe nicht lange, ich bin ein Wandergeselle; mich zieht es immer weiter: heute hier, morgen dort.“
„Warum musst du immer weiter ziehen und Mütter, Väter, Kinder und Meerschweinchen töten; warum nur“, fragt das Kind.
„Schau, das ist so“, antwortet der Krieg. „Wenn die Menschen untereinander Streit haben und nicht mehr miteinander reden wollen, dann rufen sie mich. Ich regle für sie den Streit. Die einen siegen und die anderen verlieren bei diesem Spiel; je nachdem, wer es besser kann mit mir. Das war schon immer so und wird auch so bleiben.“
„Und kaum ist der Krieg vorbei, beginnt schon wieder ein neuer“, sagt das Kind und blickt ins Leere.
Der Krieg fragt: „Woher weisst du das.“
„Meine Mutter hat mir erzählt, dass du bereits einmal durchs Land gezogen warst, kurz bevor ich geboren worden bin“, antwortet das Kind. „Und jetzt bist du schon wieder da. Warum?“
Der Krieg lächelt und setzt sich zu dem Kind auf den Boden: „Es ist richtig, schon vor einigen Jahren war ich in deinem Land. Gerne ruft man mich dorthin zurück, wo ich schon einmal war. Logisch, die Verlierer eines Krieges glauben fast immer, wenn sie einen neuen beginnen, würden sie ihn gewinnen und so ihrer Schmach ein Ende setzen. Die Idee ist gar nicht so dumm, zumal ich überhaupt nicht parteiisch bin und allen eine Chance gebe. Wenn sie nach Krieg schreien, bin ich zur Stelle. So einfach läuft mein Geschäft.“
„Wer schreit denn nach dir, Krieg“, fragt das Kind, „wo du Mütter, Väter, Kinder und Meerschweinchen tötest und alle unglücklich machst.“
„Viele schreien nach mir, Kind, sehr viele.“ Der Krieg beginnt an seinen Fingern die Stammkundschaft aufzuzählen: „Fabrikanten und Bankiers; sie wollen mit mir Geld verdienen. Generäle; sie wollen ihre Truppen in Marsch setzen, denn wenn keiner mehr sie bräuchte, würden sie aufgelöst und die Generäle wären arbeitslos. Politiker, die nach Macht gieren und die Welt nach ihrer Pfeife tanzen lassen wollen. Aber auch einfache Leute, wie dein Vater, deine Mutter und vielleicht auch du, wenn du einmal erwachsen bist. Die einfachen Leute sind vielleicht die ehrlichsten, aber auch naivsten meiner Kunden. Sie vertrauen ihren Führern, den Zeitung, dem Radio und dem Fernsehen, wenn diese verkünden, dass jetzt ein Krieg geführt werden müsse, um das Böse in der Welt auszurotten. Das Böse ausrotten ist doch eine gute Sache, denken sich die einfachen Leute. Also heissen mich auch alle willkommen. Sie lassen sich stolz in Uniformen stecken, nehmen Waffen in die Hand, versammeln sich unter ihrer Fahne und marschieren los. Sie erfüllen nur ihre Pflicht. Dafür nehmen sie auch den Tod in Kauf.“
„Aber es gibt auch Leute, die sind gegen den Krieg“, wendet das Kind ein. „Mein Lehrer war dagegen und hat allen gesagt warum. Sie haben ihn abgeholt. Ich habe ihn nie wieder gesehen.“
„Leute, die nicht ihre Pflicht erfüllen und andere auch noch davon abhalten wollen“, belehrt der Krieg das Kind, „verhelfen dem Feind zum Sieg. Sie sind Vaterlandsverräter! Darum werden sie abgeholt, und du siehst sie nie wieder. Wer aber schweigt und nur wartet, bis ich vorbei bin“, beschwichtigt der Krieg“, dem geschieht eigentlich nichts.“
„Hier im Dorf, wo jetzt alle tot sind, hat keiner nach dir gerufen, Krieg. Alle haben geschwiegen und nur gehofft, dass du möglichst schnell vorbei gehst“, sagt das Kind. „Trotzdem sind die Bomben gefallen.“
„Das tut mir aufrichtig leid“, sagt der Krieg. „Was dir, deinen Eltern, deinem Bruder, deinem Meerschweinchen und dem ganzen Dorf passiert ist, war nicht in meiner Absicht. Das musst du mir glauben. Es war ein Kollateralschaden, wie man heute dazu sagt. Etwas, das weder die eine noch die andere Seite gewollt hat. Aber wo ich hinkomme, passieren eben auch Fehler, die leider nicht zu vermeiden sind. Grundsätzlich jedoch bin ich dafür, dass die Sache sauber durchgezogen und nur von denen ausgetragen wird, die nach mir gerufen haben oder zumindest nichts dagegen haben, wenn ich die Sache für sie regle. Ich war schon immer sehr ritterlich eingestellt, musst du wissen. Unschuldige hineinziehen ist nicht in meinem Sinn. Leider kann ich es aber nicht ganz verhindern, dass Unbeteiligte unter mir leiden, obwohl ich mich gerade in letzter Zeit sehr darum bemühe, zivilisierter, ja sogar richtig human, vorzugehen. Ich habe internationale Abmachungen zum Schutz der Zivilbevölkerung durchgesetzt und Waffen entwickelt, die präzise nur militärische Ziele treffen und zivile verschonen.“
Das Kind erhebt sich mühsam, stützt sich auf einen Mauerrest und sagt: „Vor zwei Wochen fielen Bomben aufs Nachbardorf. Da sind auch alle tot und keiner von denen ist mit dir durchs Land gezogen.“
„Noch ein Kollateralschaden, tut mir wirklich leid, Kind“, sagt der Krieg mit einem Schulterzucken.
Das Kind zeigt ins Tal hinunter und fährt fort: „Genau dort, wo noch immer die Feuer brennen, stand eine Stadt. Alle Soldaten waren fortgezogen, dann kamen die Raketen geflogen, die von Schiffen weit draussen im Meer abgefeuert worden sind. Warum nur, wo doch kein Militär mehr da war?“
Der Krieg wird jetzt doch ein bisschen verlegen und schaut gar nicht erst hin, wo die Stadt einst stand. Er legt dem Kind die Hand auf die Schulter und sagt: „Du hast bestimmt Hunger und Durst. Auch deine Wunden müssen gepflegt werden.“ Der Krieg greift in seinen Tornister, nimmt Konservendosen mit Fleisch und Gemüse heraus, schneidet mit seinem Bajonett die Büchsen auf, öffnet eine tarngrüne Feldflasche und gibt dem Kind zu essen und zu trinken. Während es isst, säubert er die Wunden an dem kleinen Körper und verbindet sie. Das Kind beginnt sich ein bisschen zu erholen und schläft bald mit ernstem Gesicht ein.
Der Krieg will jetzt nicht einfach weiter ziehen und das schlafende Kind verlassen. Sein Schicksal beschäftigt ihn nun doch ein bisschen. Das erste Mal in den vielen Tausend Jahren, seit er um die Welt zieht, kommt der Krieg plötzlich ins Grübeln.
„Das Gefühl, dass ich meinen Job nicht mehr so machen kann, wie ich es gewohnt bin und wie ich es dem Kind erklärt habe, hab ich schon lange“, beginnt der Krieg leise vor sich hin zu reden. „Seit die Menschen eine Sprache haben und Besitz beanspruchen, gibt es mich. Ich bin eine der ältesten Erfindungen der Zivilisation. Früher hat man dauernd nach mir gerufen. Ich wurde geehrt, praktisch von allen, auch von den Verlierern meines Spiels. Die heutigen Kriegsherren jedoch sind meistens weit weg von den Orten, wo sie mich hinschicken. Sie nennen sich die Weltpolizisten und sind nur ganz wenige. Krieg, sagen sie, sei ihr letztes Mittel, wenn die Politik versagt habe. Die Weltpolizisten haben unter sich eine Art Weltmoral beschlossen und überall, wo sich diese nicht durchsetzen lässt, schicken sie mich hin. Andererseits gibt es auch die kleinen, die vergessenen, die dreckigen Kriege, am Rande der Welt. Die Weltpolizisten schauen zu und wenn es ihre Weltmoral verlangt, mischen sie sich auch ein bisschen ein. Krieg, so sagen die Weltpolizisten, wird nur noch präventiv geführt, um mich, den richtigen Krieg, zu verhindern. Das macht mich total verrückt: Krieg ist Krieg, so oder so, und ich bin der Krieg! Ich kann mich nicht plötzlich selber verhindern und will nichts weiteres, als die Sache sauber durchziehen. Das war schon immer meine Rede. Von Natur aus bin ich zudem ritterlich und wünsche klare Verhältnisse. Aber unter den heutigen Umständen ...“
Der stolze Krieg beginnt an sich zu zweifeln. Er seufzt: „Was soll das alles. Ich fühl mich verschaukelt und müde, schon lange. Ich fühl mich missbraucht, mache einen Job für Leute, die nicht ehrlich zu mir stehen. Man setzt mich ein, um mich selbst zu verhindern ... Peacekeeping: Friedenssicherung, nennen sie das. Völlig schizophren; wenn das so weiter geht, ende ich noch in der Irrenanstalt.“
Eigentlich will der Krieg aber ins Museum. Das ist ein alter Wunsch von ihm, falls mal eines Tages niemand mehr nach ihm rufen sollte. Im Museum, da könnte er noch immer stolz auf sich sein und mit gewölbter Brust dastehen, als wichtiger und prägender Teil in der Menschheitsgeschichte.
„Nein, in die Klapsmühle will ich nicht“, schreit der Krieg plötzlich und der Schweiss läuft ihm von der Stirne. „Mit Riemen ans Bett gefesselt, in einer Gummizelle, nein das will ich nicht, niemals!“
Ob dem Geschrei ist das Kind aufgewacht. – „Was ist mit dir, Krieg, warum schreist du so?“
„Kind, liebes Kind, du musst mir helfen“, bettelt der Krieg und weint. „Kind, die wollen mich in die Irrenanstalt stecken, wo ich doch schon immer ins Museum wollte. In einer Gummizelle, mit Riemen ans Bett gefesselt, geh ich zugrunde!“
Das Kind reibt sich die Augen und versteht nicht. – „Dann wirfst du eben eine Bombe auf das Irrenhaus, wenn du da nicht hin willst“, sagt es nach einer Weile.
„Nein, nein, so einfach ist das nicht, liebes Kind. Als du geschlafen hast, hab ich nachgedacht, über mich und meine Zukunft. Schau, ich bin der Krieg, seit vielen Tausend Jahren schon. Man ruft mich, ich kommen und mache den Job. Man ist immer gut gefahren mit mir. Aber jetzt ist alles viel komplizierter geworden. Man traut mir nicht mehr so wie früher. Ich werde gerufen, als Lakai, als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Und plötzlich pfeift man mich wieder zurück, wie einen Hund. Waffenstillstand heisst das. Irgendwo in der Welt wird dann verhandelt, ob man mich weiter den Job machen lassen soll oder nicht. Das verunsichert mich ungemein, macht mich nervös. Ich beginn an der Qualität meiner Arbeit zu zweifeln. Ich weiss nicht einmal mehr, wer mich ruft und wofür. In dein Land haben sie mich geholt, um mich selber zu verhindern. Ich führe hier einen Präventivkrieg gegen den richtigen Krieg. Wirst du daraus schlau?“
Das Kind denkt nach und sagt dann ruhig: „Aber das war doch schon immer so. Willst du Frieden, dann bereite den Krieg vor, heisst es.“
„Ja ... schon, Kind; aber das ist eine Redensart, eine sehr dumme, übrigens. Ich bin in eine Situation gedrängt worden, wo ich nur noch aufmarschiere und losschlage, um mich selber zu besiegen. Das geht nicht, das macht mich ganz depressiv. Sie werden das schnell merken und mich dann in die Psychiatrie stecken. Kind, ich will das nicht. Ich will eigentlich nur noch ins Museum! Das bin ich meiner Ehre schuldig. Ich hab viel getan für die Menschen. Hab ihnen eine Geschichte gegeben. Und das soll nun der Dank dafür sein, mich den Psychiatern auszuliefern. Kind, du musst mir helfen. Ich fleh dich an!“
„Meinst du, ich soll dir helfen, ins Museum zu kommen?“
„Ja, Kind, du hast es erfasst“, jauchzt der Krieg.
„Na gut“, lacht das Kind und steht auf. „Wir ziehen durchs Land und durch die Welt; du und ich. Wir erzählen den Kindern dieser Welt, dass du unglücklich bist und ins Museum willst. Die Kinder werden das verstehen und sich sogar darüber freuen. Wenn es draussen regnet und kalt ist, gehen die Kinder gerne ins Museum, weil sie da viele interessante Dinge sehen und erfahren. Die Kinder werden dir helfen, dass du dein Museum bekommst. Sie werden später Fabrikanten, Bankiers, Politiker und einfache Leute sein. - Generäle werden sie nicht sein, weil es keine mehr geben wird. - Die Kinder von heute werden die Erwachsenen von morgen sein und sich immer daran erinnern, dass sie dich ins Museum gebracht haben. Sie werden dann mit ihren Kindern an Regentagen und wenn es kalt ist, dich besuchen kommen. Du wirst dastehen, stolz und mit gewölbter Brust, und die Kinder werden dein Werk sehen und froh sein darüber, dass du im Museum bist und nicht wirklich ihre Väter, Mütter, Geschwister und Meerschweinchen tötest. Das wird viele Tausend Jahre so bleiben!“