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Der Kreis
Die Gegenwart quält mich, weil ich sie nicht vergessen kann, sie nicht vergeht. Schwer kleben die Erinnerungen des Moments an meinem Inneren. Die Fülle der Einzelheiten hetzt mich, treibt mich durch nicht enden wollende Tage. Tage voll, voll der Eindrücke, unabschüttelbar. Ich suche Begrenzung, die Menschen nicht kennen. Ihr Leben ist leer durch die Masse. Alles schieben sie, schieben es vor sich her und von sich hinweg, um die Unendlichkeit, ihre Unsterblichkeit zu beweisen. Sie sind süchtig nach Leere, süchtig nach Phlegma, weil Masse sie überwältigt hat. Statt zu Reduzieren Betäuben sie, beschmutzen ihren Körper, ihre Seele, um Einhalt zu gebieten. Sie hetzen an mir vorbei, während ich jedem Schritt, jeder Begegnung, jedem Eindruck etwas abgewinnen muss.
Ihre Suche ist offensichtlich, doch ohne Eingeständnis: Sorglosigkeit um jeden Preis, um den Preis der Befeuerung sämtlicher Sinne und Triebe, für einen Moment der Gefühllosigkeit, der Konzentration verhindert. Abstumpfung als Wohlgefühl, Werteverlust zum Genuss des Nichts. Und doch kehrt sie zurück für Sekunden und sie spüren die Unmöglichkeit der Fixierung auf einen Moment, an die Aufnahme in sich. Wie ein übervoller Schwamm funktionieren sie, ferngesteuert, laufen gelenkt durch den Alltag von Meilenstein zu Meilenstein der wichtigen Erledigungen und verlieren den Weg, den sie nicht kennenlernen wollen, weil ihnen die Mühe des Augenblicks zu groß erscheint.
Oder die Angst? Die Angst vor Momenten der Bedeutungslosigkeit des eigenen Lebens, Moment der Einsicht der Dummheit. Der Erkenntnis der eigenen Dummheit, nicht der der Masse, mit der man sich doch niemals gemein machen wollte, weil man doch Ziele hatte, anders war. Anders ist? Wenn der Kopf sich hohl anfühlt und die Motivation nur von der Angst des Versagens gespeist wird bis sie endgültig versiegt. Auch mich trieb die Angst, die Angst in jedem Moment einen Teil meiner Überzeugung am Wegesrand zurückzulassen, etwas Unvermissbares zu verpassen. Kein Glück mehr in der Unwissenheit findend spaltete ich Momente immer kleiner und kleiner bis mich die Masse an erlebten Eindrücken zerfetzte. Von der Oberflächlichkeit zur Oberfläche, auf der Suche nach der kleinsten Einheit, der kleinsten Struktur, dem Muster des Lebens. Die Sucht der sicheren Unwissenheit brachte mich zur Sucht des nie mehr Vergessens, der Analyse, der Neuordnung meiner Welt in immer kleinere Stücke bis ich die Zeit nicht mehr als solche begriff, sie sich zu drehen begann und in der Unendlichkeit verschwand. Ich begann einzelne Tage zu rekonstruieren in winzigen Einheiten und benötigte mehrere Tage dafür, konnte mir die Abläufe, die schlichte Abhängigkeit einzelner Momente, nicht mehr transparent machen, da jede Einzelheit nur für sich existierte, unabhängig von jeder anderen, aber in sich unendlich, verlassen im Raum der Sinnlosigkeit.
Als ich aufstand um den Aufgang der Sonne zu betrachten, so war kein Tag gleich wie der andere. Den Aufgang der Sonne am 25. Juni 1988 vermag ich eben so detailliert zu beschreiben, wie den des heutigen Tages. Los reißen, los reißen von dem Moment, dessen Details mich in Ketten legten, mich unter Feuer nahmen wie eine nicht enden wollende Salve aus der Mündung einer Maschinenpistole.
Ich begann, meine Eindrücke zu zählen und als es mir unsinnig vorkam, die Maserungen eines Blattes mit Zahlen zu versehen entwarf ich eine eigene Numerik, eine einzigartige, die jeden Moment, jeden Eindruck so bezeichnen konnte wie er war: einmalig. Mit einem Wort, einer Bezeichnung, die es wie jeden Augenblick nur einmal gab und geben wird. Die Unvollkommenheit der Sprache entließ mich nicht mehr, Verallgemeinerungen erschienen mir unlogisch. Warum waren unterschiedliche Menschen dennoch Menschen, Menschen als Wort für unterschiedlichste Wesen, deren Gesichter sich für ewig in mir einbrannten. So ich gab den Eindrücken Namen in verschiedenen Sprachen, die ich selbst konstruierte, die sich nie mehr wiederholten, denn auch der eine Mensch war am nächsten Tag ein ganz anderer mit neuen Eindrücken, Aussehen, die Zeit verformte seine Oberfläche, von der Linie zum ewigen Zyklus. Nach und nach ergab die Sprache keinen Sinn mehr für mich, da sie den einzelnen Augenblicken nicht gerecht wurde. Wie kann auch ein Wort die Unendlichkeit beschreiben, in der nur ich die Abläufe begreifen konnte? Was hilft mir eine Bezeichnung für einen Zustand, der niemals wiederkehren würde? Ich konnte mich ihm doch nicht entledigen. Und so begann ich die Eindrücke zu zeichnen, immer genauer, immer feiner, doch nichts konnte mich zufrieden stellen. Mein Denken verflachte bis mir die Abstraktion vollständig abhanden kam. Zusammenhänge waren mir unbegreiflich geworden.
Mit technischen Hilfsmitteln versuchte ich, einzigartige Eindrücke zu duplizieren und dadurch vergänglich zu machen, endlich etwas auszuradieren. Doch niemals gelang es mir, mein Inneres zu überlisten, das die Unterschiede nicht mehr sah, sondern fühlte. Ich fotografierte die Augenblicke nicht nur, sondern vergaß keine Empfindung in diesem Moment, keine Temperatur, keinen Lufthauch von welchen jeder einmalig war und sich in die Unendlichkeit des Moments verzweigte, den stets weiter aufzuteilen mein eigener Trieb gegen die Bedeutungslosigkeit mich jagte. Ein Bild war kein Bild, ein Geruch kein Geruch, ein Gefühl kein Gefühl, alles verquickte und zerteilte sich bis ich selbst keine Beschreibung mehr fand. Immer exakter zwang ich mich, den Moment zu sezieren, aufzuspalten, bis ich entdeckte, dass die Reduzierung auf Eins mir unmöglich war. Es die Zeit nicht mehr gab, ja nicht mehr geben konnte, wo man doch alles in noch kleinere Einheiten teilen konnte, so einfach es auch auf andere Menschen wirkte, banal, unauffällig, sinnlos, so groß und bedeutungsvoll war es für mich, so sehr ich mich auch dagegen sträubte.
An Entspannung war nicht mehr zu denken. Ausgestreckt lag ich auf dem Boden während ich geringste Veränderungen in der Maserung des Holzes in der Decke feststellen konnte. Stets fokussiert sehnte ich mich nach der Verschwommenheit der Realität der anderen. Ich versuchte mich an Grenzen zu denken, an Orte, an denen ich noch nie war und stellte sie mir so einfach wie möglich vor. Schwarze Häuser ohne Türen und Fenster, ohne Menschen, ohne Leben. Zum Schlafen bewegte ich mich in Gedanken unter Wasser, gleichmäßig fließende Ströme gleicher Temperatur, unendlich gleichen Eindrücken nachjagend bis zur Besinnungslosigkeit in das Reich der Träume, das für mich ereignisreicher und unvergesslicher war als der aufregenste Tag eines Menschen. Wieder zählte ich Momente und sperrte mich in dunklen Kammern ein als bald die Zahl von 100.000 erreicht war. Verbat mir zu denken, zu fühlen, zu riechen, verbat mir zu sein, wünschte mich Besinnungslos.
Ich entfremdete mich aller Menschen und war doch nie allein, überrollt von der Fülle meines kleinen Raumes in völliger Dunkelheit, die zu betrachten mir weniger Schmerzen beifügte als die Helligkeit des Tages. So versuchte ich die Tage zu meiden, unbeweglich in einfachste Traumwelten zu tauchen bis eines Tages ein Moment zurückkehrte, nur ein Blinzeln lang - ich erkannte ihn genau – denn der Moment war zu mir zurückkehrt und der Kreis hatte sich geschlossen. Die Gegenwart quält mich, weil ich sie nicht vergessen kann, sie nicht vergeht. Schwer kleben die Erinnerungen des Moments an meinem Inneren. Jetzt habe ich ihn vergessen.