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Der Kopfnicker
Es war sechs Uhr früh, ein eisiger Wind umspielte meine Nase, als ich wartend am Bahnsteig stand. Griesgrämige Gestalten schlurften durch die Dunkelheit. Die Aktentaschenträger, wie die Hipster-Öko-Beutel-Träger, die Rucksackträger, wie die Handtaschenträger. Letztere sind übrigens besonders wahnsinnig: Mit Seidenstrumpfhose im Winter! Ihnen allen gemein ist: der Kaffeebecher in der freien Hand.
Endlich in der trockenen Heizungsluft der Bahn angelangt, kramte ich völlig verzweifelt durch das Gespräch meiner reizenden Sitznachbarinnen nach meinen Kopfhörern. Es sollte mir nicht zu verübeln sein, dass die hitzige Diskussion um einen angeblich superheißen Typän, der der Beschreibung nach aber ohne Zweifel eine ziemliche Knalltüte sein musste, mich nicht gerade umhaute. Da sollte ein bisschen Ray Charles doch Abhilfe schaffen können und mir den Morgen etwas versüßen.
Gerade wollte ich den sanften Bluesklängen lauschen, da hielt der Zug an und er stieg ein. Mit geraden, zielstrebigen Schritten kam er auf die Sitzgruppe zu, in der ich saß und besetzte den freien Platz mir gegenüber.
War ja klar! Das hatte mir gerade noch gefehlt… Jetzt kann ich noch nicht einmal mehr meine Beine überschlagen! Frustriert stellte ich Ray Charles‘ „My Melancholy Baby“ noch lauter ein.
Dieser Mann jedoch zog ganz unbekümmert seine mit hellem Pelz gefütterte Winterjacke aus, nahm sie wie in einem Ritual hoch vor seinen Oberkörper, um sie dann pedantisch zu falten und sie vorsichtig auf seinem Schoß zu positionieren.
Ich fragte mich, ob er den Zeitpunkt, an dem er im Zug von Dortmund-Dorstfeld nach Dortmund-Dorstfeld-Süd sitzt, genau berechnet hat. Nur um diese schweineteure Markenjacke vor dem Sturz auf den beschmutzten Boden, dem Highway der Dortmunder Bakterien zu retten.
Jetzt stellte er auch noch mit bedachtester Pingeligkeit seine schwarze Aktentasche direkt vor sich, glotzte mit seiner kleinbürgerlichen Halbglatze hinein und heraus zog er: einen Hipster-Öko-Beutel mit bunter Graffitiaufschrift.
Nun war ich vollkommen verwirrt. Dieser Mann tut das doch absichtlich! Er will meine sensiblen Nerven am Morgen ganz und gar zerstören, damit ich schon durch meine Bahnfahrt gerädert bei meinem Freund ankomme. Schließlich dauert diese Höllentour noch zwei Stunden bis nach Düsseldorf. Und nur, um mir dann wieder anzuhören, dass ich 'hier die Kaputte' sei. Wie kommt er nur darauf?
Im nächsten Augenblick musste ich erkennen, dass der Kopfnicker seinen finsteren Plan noch nicht zuende gebracht hatte: Im nächsten Schritt galt es diesen dummen Scherz auf die Spitze zu treiben. Vorsichtig schaute er sich um, warf mir, den anderen Fahrgästen und dem Gang einen zaghaften Blick zu. Keine Sorge, dir tut schon keiner was, dachte ich mir.
Alles genauestens abgesichert, holte er aus genau dieser eben beschriebenen, ökologisch abbaubaren, super-hippen Tasche, ein Paar Beats-Kopfhörer. Und als ob das nicht schon reichen würde, waren diese im stylishen Retrolook aufgepimpt. Die sind doch schon unübersehbar genug mit der Größe von zwei Elefantenohren.
Der meint es wohl wirklich ernst, war ich dann überzeugt und wechselte an meinem MP3-Player nun zu „Hit The Road Jack“ in vollster, dröhnenster Lautstärke.
Wahrscheinlich hatte er nun derbe Old School Hip-Hop-Sounds aufgelegt, denn als er, ebenso nervtötend genau seine Elefantenohren zurecht gerückt hatte, fing er doch tatsächlich an die hässliche Halbglatze im Takt hin und her zu bewegen. Wild wippte der Fuß in seinem Trekkingschuh vor sich hin, während er seine ordentlich gestreckte Sitzhaltung dennoch nie außer Acht ließ. Dazu dann noch dieses Kopfnicken, was mich verrückt werden ließ. Inzwischen hatte es sich sogar in ein abstoßendes Kinnvorziehen verwandelt! Als wollte er sagen: Komm, siehstn‘ du wie cool ich bin? Als müsste er etwas beweisen. Vollkommen albern. Und völlig paradox. Ich meine, wer hat denn schon mal den glücklichen Familienvater, den Hauptverdiener, den korrekten Anzugträger mit ganzer Hingabe Hip-Hop-Kopfnicken sehen?
Die Sonne schenkte dem Zugabteil inzwischen ein paar zaghafte Strahlen. Sanft legte sie sich auf das Gesicht des Kopfnickers und auf einmal began ich zu verstehen. Ja, sein Verhalten war eigentlich ziemlich logisch und nachvollziehbar: Er lebt den feschen Boy einfach immer nur im Zug aus, weil er im behüteten Heim sein wahres Ich nicht zeigen darf. Diesen aggressiven, hin-und-her-gerissenen Charakter, der das Gefühl hat, etwas verpasst zu haben. Hier kann er ihn rauslassen, hemmungslos. Vorausgesetzt es herrscht gesellschaftliche Anonymität und er entdeckt niemanden aus näherem Bekanntenkreis im Zug, der ihn verraten könnte.
Ach, was ein armer Kerl.
Am nächsten Halt stieg er auch schon wieder aus.