Der Kompromiss
Der Kompromiss
Ein Märchen für Erwachsene
"Nur die Phantasie kann die Welt erklären"
(Michael Ende)
Es waren einmal ein Verstand und eine Seele, die in einem gemeinsamen Häuschen lebten. Es war nicht mehr ganz neu. Hier und da blätterte bereits die Farbe ab, doch es war ihr Geburtshaus und die Seele liebte es so, wie der Verstand es behütete. Früher war es sehr hübsch. Von allen bewundert, sonnte sich die Seele göttlich davor. Wie es ihre Art war, wollte sie ihr Glück immer wieder mit anderen teilen. Sie freute sich über jeden Gast und verteilte großzügig von ihrem Liebeskuchen, in der Hoffnung, dass auch der Gast ihr seinen Liebeskuchen darreichte.
Der Verstand, von der Seele liebevoll Köpfchen genannt, versuchte sie vor allzu viel Vertrauensseligkeit zu warnen, doch er fand kein Gehör. Von Sehnsucht und Hunger war die Seele so geblendet, dass sie voller Blauäugigkeit bereitwillig Türen und Fenster öffnete und zu spät bemerkte, dass sich Schmarotzer einnisteten. Sie nutzten die arme Seele aus und hinterließen Verwüstungen und Chaos. Die Seele litt dann immer fürchterlich. Das Köpfchen konnte ihr Leid nicht mit ansehen und half ihr ganz resolut, wieder Ordnung in ihrem Heim herzustellen. Ihre schmerzenden Wunden allerdings, konnte nur die Zeit heilen.
Viele gewaltige Stürme hatten die beiden so in ihrem kleinen Haus überstanden und mit der Zeit bekam es Risse und wurde baufällig. Köpfchen und Seelchen beschlossen, es von Grund auf zu erneuern. Die mühsame Kleinarbeit kostete sie unheimlich viel Kraft und um das nicht wieder auf’ s Spiel zu setzen, einigten sie sich, niemanden mehr einzulassen. Die Seele ordnete sich dem klugen Köpfchen unter und lernte, sich an kleinen alltäglichen Dingen des Alltags zu erfreuen. Sie lebten in beide im Einklang, als vernünftige Sanftmut. Ob das einer Seele auf Dauer genügt, wissen wir nicht. Unserer Seele jedenfalls, fehlte etwas. Das sah auch das kluge Köpfchen ein und erlaubte der Seele zu naschen und zu spielen, in ihrem Beisein natürlich, als gleichberechtigter Partner.
Eines Morgens jedoch war das Köpfchen sehr wütend:
„Hör’ zu Seelchen, das war nicht so ausgemacht. Bei dem gestrigen Spiel mit unserem Gast, hast du dich unverschämt in den Vordergrund gedrängelt. Ab und zu wollte ich auch einmal etwas sagen. Du hast einfach die Regie übernommen und nur, wenn es dir in den Kram passte, hast du dich an mich erinnert."
Störrisch stampfte die Seele mit dem Fuß auf: „Jetzt war ich eben mal dran. Lange genug habe ich dir die Führung überlassen, weil du der Vernünftigere von uns beiden bist. Außerdem war ich ja auch noch immer krank"
"Von wegen krank! Du hast wahrscheinlich schon ziemlich lange in der Ecke gelauert und nur auf den Moment gewartet, mich hintergehen zu können. Dabei weißt du genau, dass nie etwas Gutes bei deinen Alleingängen herauskommt!"
Ziemlich geknickt bat die Seele ihr Köpfchen um Verzeihung: „Das wollte ich nicht, ich habe es einfach vergessen."
" Seelchen, es macht mich sehr traurig. Deine Vergesslichkeit und dein Hunger treiben uns noch in den Ruin. Wir hatten es doch gut miteinander. Ich habe dir Sicherheit gegeben und du konntest viele schöne Dinge genießen. Oder waren sie nicht köstlich für dich?"
"Doch, ja. Aber es waren doch nur Krümel. Wie sollte ich davon satt werden? Einmal wieder in ein großes Stück Kuchen beißen, das ist das Höchste, was ich ersehne!"
Noch immer wütend erkannte das Köpfchen, wie unverbesserlich die Seele in ihrem Bestreben war. Sie wollte einfach Alles. Bedingungslos geben und nehmen. Jetzt blieb ihm nur noch die Schadensbegrenzung... „Nun gut Seelchen. Du hast Deine Gier letzte Nacht gestillt. Da du nun satt bist, sollten wir den Vorfall einfach vergessen und zu unserer bewährten Lebensweise zurückkehren."
Ganz kleinlaut und leise antwortete die Seele: „Ich glaube, das geht nicht."
"Was soll das schon wieder heißen?!"
"Schau Köpfchen, gestern habe ich von unserem Gast einen köstlichen Kuchen bekommen. Er ist endlos groß, mit so vielen Weintrauben und ich könnte immer davon haben. Die Versuchung ist zu stark!"
Völlig außer sich über so viel Dummheit: „Du bist ja süchtig! Sucht macht abhängig und genau das wollten wir für die Zukunft ausschließen! Kein Risiko – das war abgemacht!"
Weinerlich das Seelchen: „Welches Risiko denn? Ich will doch nur satt sein, dann will ich auch zufrieden sein."
"Satt kannst du auch anders werden."
"Ja, von sauren Gurken und Wackelpudding! Aber das wärmt doch nicht nachhaltig. Darauf habe ich keinen Appetit!"
"Seelchen, weshalb bist du nur so halsstarrig? Schau dich doch um. So viel nett angerichtete Dinge würden gern von dir vernascht werden. Ich halte dich davon nicht ab. Greif nur zu. Dabei läufst du nicht Gefahr, dich zu überfressen."
"Du bist so schlau Köpfchen, aber du verstehst nicht alles. Du weißt nichts vom bitteren Nachgeschmack, den man einfach nicht mehr loswerden kann, bis man zum nächsten flüchtig angerichtetem Dessert greift. Und dann muss man es immer wieder tun und immer wieder und niemals wird man den Ekel los. Nein, lieber hungere ich mich tot!"
"Was willst du mir antun, mein Seelchen?! Du weißt, dass das auch mein Ende wäre?"
"Dann quäl mich nicht so!"
"Ich habe eben meine Bedenken. Ich befürchte, dich wieder einmal retten zu müssen, wenn du dir den Magen restlos verdorben hast. Und das wird von mal zu mal schwieriger. Woher willst du eigentlich wissen, dass ausgerechnet dieser Liebeskuchen so endlos ist?"
"Ich weiß es ja nicht wirklich. Doch er ist für mich unüberschaubar groß. Viele, viele Tage wäre ich satt. Genügt das nicht für’ s erste?"
"Ach Seelchen, Unüberschaubarkeit ist relativ. Vielleicht bist du ja kurzsichtig oder machst einfach nicht weit genug die Augen auf."
"Nein Köpfchen, du redest mir das nicht aus und außerdem habe ich Einfluss darauf, dass der Kuchen wächst."
"Na großartig, du Heldin! Du hast wohl vergessen, wie viele Zutaten zu einem gelungenen Backwerk gehören? Eine kleine Unachtsamkeit und den Klitsch willst dann nicht mal du mehr essen."
"Dann pass doch auf mich auf, Köpfchen, dass ich nichts vergesse!"
"Außerdem frage ich mich ernsthaft, wie du deine Sucht eigentlich bezahlen willst. Nichts gibt es umsonst!"
"Ich bezahle nicht..."
"Bitte?"
"Nein Köpfchen, ich beschenke!!! Mein Liebeskuchen ist auch unendlich groß."
"Das hält man doch im Kopf nicht aus! Schon wieder so ein unverzeihlicher Irrtum. Auch dein Kuchen braucht unzählige Zutaten, um zu wachsen. Wenn du die nicht bekommst, ist es aus und vorbei – finito mit Beschenken. Und dann zahlst du einen zu hohen Preis! Ich höre jetzt schon deine Hilfeschreie."
"Köpfchen, wenn du recht haben solltest, ich verspreche dir, ganz leise zu schreien. Wärst du mit – stumm – einverstanden?"
Der Kopf seufzte und im Stillen sah er die Seele mit weit aufgerissenem Mund ihren Schmerz stumm hinausschreiend. Er wusste, sie würde unendlich leiden und diese Unendlichkeit war Gewissheit für ihn. Sie würde in ihren Tränen davon schwimmen, voller Schuldgefühle würde sie nicht wagen, sich aufzubäumen. Er würde sie verlieren und es wäre schrecklich einsam und still um ihn.
Lange gingen sie schweigend nebeneinander her. Der Kopf festen, sicheren Schrittes, doch die Schultern gebeugt durch die Last der Verantwortung. Die Seele tänzelnd und schwebend, warf manchmal einen traurigen Blick auf ihren Freund. Warum wollte er sie nicht verstehen? Sie musste so handeln. Zum Leben brauchte sie alles, auch wenn sie dadurch sterben sollte. Der Tod könnte nicht grausamer für sie sein, als sich ständig mit Krümel begnügen zu müssen. Voller Wehmut suchte sie erneut das Gespräch:
"Köpfchen, du bist doch mein Freund. Ich möchte diesen Schritt nicht ohne deine Zustimmung tun. Bitte behüte mein Glück und bewahre mich vor Schaden. Ich brauche deinen Beistand!"
"Du verlangst Unmögliches von mir, Seelchen. Hör auf mich und lass die Finger von diesem Kuchen. Es ist zu gefährlich!"
"Ich scheue nicht die Gefahr und ich bin stark. Lass mich nicht gegen dich kämpfen müssen. Ich würde wohl auch das tun, so groß ist meine Sehnsucht."
"Ach Seelchen, es betrübt mich. Doch einen Kampf zwischen uns kann ich nicht wählen. Dein Idealismus ist eine zu starke Waffe und deine Wärme lässt meinen Eispanzer schmelzen. Was hätte ich noch gegen zusetzen?"
"Dann lass dich einfach mitreißen und wehre dich nicht. Der Kopf unseres Gastes ist doch schon lange dein bester Freund."
"Moment mal, das ist er nicht! Ich habe nicht solche dümmlichen Empfindungen. Die sind dir vorbehalten. Ich habe Hochachtung vor ihm. Es ist ein respektvolles Kräftemessen und ein sachlicher Austausch von Gedanken. Ich würde mich viel mehr an ihm reiben, ihn herausfordern und seine Äußerungen kritisch unter die Lupe nehmen, wenn deine Flüsterstimme mir nicht laufend in’ s Ohr raunen würde, wie großartig er doch ist. Zugegeben – oftmals ist er es wirklich."
"Dann tu’ es bitte, bitte, bitte – für mich!"
"Nicht so hastig Seelchen oder hast du vielleicht unsere Mitbewohnerin im Keller vergessen? Die ANGST. Sie ist allgegenwärtig, Schutz und Zerstörung zugleich!"
"Lass sie nicht zu Wort kommen, Köpfchen! Von Zukunft und Träumen hat sie keine Ahnung."
"Da magst du ja recht haben. Doch du musst zugeben, dass sie sich von deinen verdorbenen Backwaren bisher redlich ernähren konnte. Wundert es dich, dass sie jetzt, wie eine dicke Made im Dunkeln, auf Nachschub lauert? Sie hat sich ihre Daseinsberechtigung durch unsere Unfähigkeit erwirkt."
"Wir sind nicht unfähig. Wir sind stark und könnten sie aushungern lassen."
"Ja Seelchen, wir könnten – vielleicht, wenn du mich auf dich acht geben lässt."
"Köpfchen?"
"Ja?"
"Grünes Licht?"
"Flieg nicht zu hoch, Seelchen..."