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Der Komplex
Es war in seiner Hässlichkeit fast majestätisch. Eine Hässlichkeit, die ich mit einer gewissen Faszination bestaunte. Der Putz bröckelte an manchen Stellen von der Fassade, wie vergessene Träume, lautlos und vom restlichen Geschehen der Welt unbemerkt. Die Satellitenantennen, welche auf den meisten Balkone zu finden waren, zeugten von einer leisen Ignoranz gegenüber bestehenden Regeln. Denn laut Mietvertrag war das Anbringen solcher Geräte nicht erlaubt. Aber bei dieser kollektiven Verweigerung blieb der Wohnungsbaugesellschaft, welche den Komplex verwaltete, nichts anderes übrig als die Flucht in die Gleichgültigkeit. Auf dieser Basis schien das Zusammenleben in dem Gebäude zu funktionieren. Es lebten etwa 1000 Menschen in dem Komplex, der acht Eingangstüren mit jeweils 14 Stockwerken umfasste. Auf jedem Stockwerk waren vier Mietparteien. Die Größe der Wohnungen variierte von 90 Quadratmetern bis zu kleinen ein Zimmer- Appartements mit Bad. Als ich beschloss dort einzuziehen, versuchte mein Bekanntenkreis mich mit den Worten, „ da leben nur Nutten und Drogendealer“, zu warnen. Aber mein Gehalt als Journalist bei einem kleinen Lokalblatt schränkten meine Möglichkeiten ein, wollte ich im Stadtzentrum wohnen bleiben. Die Mieten in diesem Komplex waren günstig und so konnte ich trotzdem in der Innenstadt leben. Meine Wohnsituation änderte sich, als meine Freundin mich aus ihrem Haus rauswarf. Sylvia war schön, intelligent und hatte wie ich einen Sinn für das ironisch Dramatische. Ich war verliebt und berauscht von diesem Gefühl zog ich bereits nach wenigen Wochen bei ihr ein. Es dauerte nicht lange bis die Unterschiede zwischen uns immer deutlicher wurden. Durch eine Mischung aus Schweigen, Streitereien und gelegentlichem Sex, vegetierten wir fast zwei Jahre dahin. Es ging um ihren Ehrgeiz und meiner Neigung nichts zu wollen, ihrer Lebensfreude und meiner apathischen Haltung mit welcher ich die Abendnachrichten verfolgte. Eines Abends, ich analysierte gerade deutsche Polizeidokus, stellte sie sich vor mir und sagte: „Chris, wir müssen reden.“ Ich setzte mich aufrecht in meinem Sessel, legte den Joint zur Seite und zog meine Schlafanzughose wieder an, um der Ernsthaftigkeit ihrer Stimme angemessen zu entgegnen. „ Ich finde nicht das wir noch zusammen passen. Vielleicht haben wir nie zusammen gepasst,“ sagte sie. „ Du versuchst gar nicht aus deinem Unglück herauszukommen, weil du nicht weißt, wie es ist glücklich zu sein.“ „Gibst du mir eine Woche um eine andere Wohnung zu finden?“ „ Natürlich.“ Vier Tage später lud ich meine letzten Habseligkeiten auf einen gemieteten Kleintransporter. Die notwendigen Küchengeräte schnorrte ich von Freunden und Familie. Ich bezog eine seit zwei Jahren leerstehende Ein-Zimmer-Wohnung im 11. Stock der Nummer34. An der Decke schimmelte ein Wasserfleck schon seit geraumer Zeit vor sich hin und an den Wänden strahlte mir der nackte Stahlbeton entgegen. Der kleine Balkon bot einen entspannten Blick über das Treiben der Stadt und die dazu gehörende Geräuschkulisse wurde von der Höhe und den Fenstern abgedämpft. Das Badezimmer war weitestgehend frei von Schmutz, was sich wegen meinen Hang zur Unordnung rasch änderte. Ein Klo, eine Badewanne mit Duschkopf und eine Lüftung machten den Eindruck einer Isolationszelle erst perfekt. Ich richtete mich schnell ein und nach einer Woche war auch der Telefon- und Internetanschluss gelegt. Meine Arbeit konnte ich dadurch größtenteils von zuhause aus erledigen. Einige Schnappschüsse von einer Halloweenfeier in einer Grundschule und die restliche Recherche fand, wie bei den meisten Lokaljournalisten, über Wikipedia statt. Das Schreiben fiel mir anfangs in der neuen Umgebung noch schwer und die Reparatur des Wasserflecks war, wie es mir von der Wohnungsgesellschaft versprochen wurde, auch noch nicht erfolgt. Ich beschloss das Gespräch mit dem Hausmeister zu suchen, eine fette, schmutzige Gestalt wie man sie aus amerikanischen Filmen kennt. Nachdem ich meine gekünstelte Nettigkeit eingesetzt hatte, die ich in meiner Tätigkeit als Lokaljournalist kultivierte, kam ich zum eigentlichen Punkt.
Es geht um den Wasserfleck, der eigentlich schon repariert werden sollte.
Und wer hat das behauptet? Doch nicht jemand von der Firma, die das ganze hier ihren Besitz nennt.
Ja, schon.
Herr Thomsen, ich habe hier zwei Dutzend Anfragen von irgendwelchen Leuten die irgendwas repariert haben wollen. Aber auch das ist nicht drin, weil Pleitegeier und Co kein Geld für Handwerker locker machen können.
Die haben mir die Wohnung also vermietet, obwohl die genau wussten das der Wasserfleck für immer an der Decke bleiben wird.
So ähnlich bin ich an den Job gekommen. Hören sie, selbst die Firma die für die Wartung der Fahrstühle zuständig ist, hat schon seit Monaten kein Geld mehr gesehen. Ich verwalte hier nur noch das Chaos.
Und wenn der Fahrstuhl mal stecken bleibt?
Der Ausdruck seines schweißtriefenden Gesichts und das Zucken seiner mächtigen Achseln erübrigten jede Antwort. Ich musste also mit dem Schimmelherd an meiner Decke erst einmal leben. Aber umso länger ich dort wohnte, desto weniger machte es mir aus.
Manche Nächte wurden durchflutet von Geschrei, Geheule und lautes zuschlagen von Türen. Es war das ganze Seifenopernprogramm welches sich dann in eine unheimliche Stille verkehrte. Ein junges Mädchen hatte anscheinend Krach mit ihren Eltern. Den Drang nachzusehen, sich zu kümmern, folgte die Erkenntnis das ich nicht genau bestimmen konnte woher der Lärm kam. Der Ausgangspunkt schien über mir zu sein, aber wegen den verschiedenen Wohnungsgrößen und weil in manchen auch kleine Treppen zu finden waren, hätten die Geräusche von sonst wo stammen können. Der Komplex erinnerte eher an das Konstrukt eines Schizophrenen als an vernünftige Architektur. Es blieb mir nichts anderes übrig als das Geschehen zu ignorieren.
Ich ging meinen beruflichen und privaten Beschäftigungen nach und fühlte mich zusehends wohler. In den Einfamilienghettos, meinen eigentlichen Ursprung, war ich manchmal gezwungen sinnlose Gespräche über das Wetter, oder andere Nichtigkeiten zu führen, wollte ich bei den Nachbarn nicht unangenehm auffallen. „ Kalt ist es wieder geworden.“ „ Ja, richtig kalt.“ „ Es könnte auch aufhören zu regnen.“ „ Ja, ja. Der Regen.“ Ich ließ immer diesen Auswurf unnützlicher Informationen über mich ergehen, doch am liebsten hätte ich folgendes gesagt: „ Sie quatschen mich immer über das Wetter voll. Glauben sie nicht, das ich durch einen einfachen Blick aus dem Fenster selbst sehen könnte wie das scheiß Wetter ist. Außerdem, wenn ich mehr über das Wetter wissen möchte, unterhalte ich mich mit einem Meteorologen, jemanden der mir mehr mitteilen kann außer das es kalt ist oder regnet.“ Ich lernte schnell das die Umgangsformen in dem Komplex anders waren. Traf ich zum Beispiel andere Hausbewohner im Fahrstuhl, wurde nie mehr als ein Hallo ausgetauscht. Es war die Art seinen Mitmenschen den Freiraum für ihre Angelegenheiten zu lassen die mich begeisterte. Ein außen Stehender hätte das wohl als Apathie bezeichnet, aber für mich war es der Inbegriff von Freiheit. Mit meinen direkten Nachbarn, deren Tür neben meiner war, pflegte ich den gleichen Kontakt. Es war ein älteres Ehepaar, bereits im Rentenalter und außer einem gelegentlichem Räuspern, das ich vernahm wenn ich auf meinem Balkon stand, hörte ich kaum etwas von ihnen. Unsere Konversation beschränkte sich darauf, ob ich meinen Pflichten den Hausflur zu reinigen auch regelmäßig nachkommen würde. Irgendwann hörte ich mehrere Stimmen vor meiner Wohnungstür. Einer gewissen Neugier folgend, schaute ich durch den Türspion. Ich sah wie vier Rettungssanitäter die Nachbarwohnung betraten. Einige Tage später begegnete ich dem älteren Ehepaar im Fahrstuhl. Während es in den sogenannten gut bürgerlichen Siedlungen bei solchen Ereignissen selbstverständlich war nachzufragen ob auch alles in Ordnung sei, kam es mir hier als eine ausgesprochene Unhöflichkeit vor. Es wäre eine Einmischung in deren Privatleben gewesen, die mir einfach nicht zustand. Also sagte ich nur guten Tag und ging meiner Wege.
Ich ging um Mitternacht schlafen, da bemerkte ich die Schreie des jungen Mädchens. Sie schrie sich die Seele aus dem Leib, doch alles was ich verstehen konnte war das Wort Freiheit, das sie immer wiederholte. Ich fühlte mich sofort an Braveheart erinnert. Das Familiendrama, welches sich ereignete, empfand ich jetzt nur noch als Störung. Das Hin und her zwischen Mutter, Vater und Tochter, war eine Angelegenheit die auch zu einer anderen Tageszeit geführt werden konnte. Es berührte mich nicht einmal mehr das alle meine Bedenken die ich diesbezüglich irgendwann mal hatte, wie durch ein Schwarzes Loch absorbiert wurden. Nur genügend Ruhe, um meine Arbeit mit einer gewissen minimal Aufmerksamkeit nachgehen zu können, das war alles was ich mir wünschte. Nach etwa einer Stunde hörte ich keinen Ton mehr und ich konnte einschlafen. Am nächsten Tag, ich war halbwegs ausgeschlafen, stand ich auf meinen Balkon und lauschte dem Klang der Straße. Plötzlich hörte ich über mir ein ohrenbetäubendes und krätzendes „ Nein!“ Eine Sekunde später fiel ein junges Mädchen an mir vorbei, mitten auf dem Gehweg. Aufgeschreckt von den ungewöhnlichen Geräuschen, schauten einige Bewohner neugierig auf den leblosen Körper. Auf dem Balkon über mir war nur noch ein flehendes und verzweifeltes Weinen zu vernehmen. Offensichtlich kam es von einem Mann und einer Frau.. In dem Augenblick, wo das Mädchen an mir vorbei fiel, lächelte sie mich an. Ich versuchte dieses Lächeln zu begreifen. Wahrscheinlich war der Sprung in den Tod die einzige Möglichkeit ihre Freiheit zu erreichen. Ich schrieb einen Artikel für die Zeitung über das Geschehen, aber die Resonanz darauf war gering. Ich betrachtete den Komplex und seine Bewohner seitdem mit anderen Augen. Ihr Versagen spiegelte mein Versagen. Und wie das Mädchen, wusste ich, das die Freiheit welche ich ersehnte, hier nicht zu finden war. Drei Monate später zog ich aus.