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Der Kompass
Ich gehe durch die erdrückenden Mauern der Großstadt.
Die Sonne wirft Schatten in die Gassen. Hätte nie gedacht, dass es grau in so vielen verschiedenen Facetten gibt.
Entlang eines Altbaus rankt wilder Weine empor zum Himmel. Die roten Blätter sind eine erfrischende Abwechslung in der sonst farblosen Gasse.
Der Dunst der letzten Nacht hat sich tief ins Gewebe meiner Kleider gefressen und noch viel tiefer.
Mein Mund ist trocken, ich habe wieder geraucht, obwohl ich mich seit Jahren zu den heiligen Nichtrauchern zähle. Ich verabscheue den Geruch, der dich selbst am nächsten Tag noch begleitet.
Menschen ziehen an mir vorbei. Irgendwie erinnern sie mich an Güterzüge. Ich kann den Sog fühlen, der ihnen wie ein Schatten folgt, und versucht mit den hektischen Figuren mitzuhalten.
Eine Mutter lächelt in ihren Kinderwagen. Die meisten Menschen verschmelzen mit dem Grau.
Ich versuche den vielen Pfützen auszuweichen.
Ein Regenwurm kämpft um sein Leben. Ich beobachte kurz, wie er sich windet, fische ihn mit einem braun gefärbten Blatt aus dem Wasser, und lege ihn auf den kleine Streifen Gras der die Straße vom Gehsteig trennt.
Ich selbst fühle mich wie ein Wurm, der sich durchs Leben windet, in einer Pfütze aus Selbstmitleid.
Seit drei Jahren sitzt mir eine Müdigkeit im Nacken, die sich in jede einzelne meiner Zellen bohrt.
An Ideen hätte es mir nie gemangelt. Sie schienen sich einen Spaß daraus zu machen, in meinem Kopf zu explodieren, mich zu belagern, und dann unerfüllter Dinge zurückzulassen.
Gleichzeitig bin ich zu stolz, um mir helfen zu lassen, und schmunzle insgeheim über meine Bekannten und Kollegen, die sich reihenweise in eine Burn-out-Klinik einweisen lassen.
Ich schleppe meine müden Beine durch den Stadtpark. Vielleicht sollte ich mir einen Hund zulegen? Einen Wegbegleiter, der mir mit seiner puren Anwesenheit, die einsamen Stunden versüßt.
Hinter einem bereits kahlen Busch liegt eine alte Frau, eingerollt in einen Mantel, der bestimmt wie sie, schon bessere Zeiten gesehen hat. Neben ihr parkt ein Einkaufswagen, der mit bunten Plastiktüten gefüllt ist. Ein leises Schnarchen wird vom Wind fortgetragen, wie das Lied einer falsch gestimmten Grille. Ich frage mich, was wohl ihre Geschichte sein mag.
Mir ist kalt. Ich fühle, wie sich unter meiner Jacke jedes einzelne Haar an meinen Armen aufrichtet.
Meine Beine haben kein Abkommen mit meinem Gewissen. Ich gehe schneller, bis die Frau, der Busch und auch der Wagen samt, Inhalt aus meinem Blick verschwinden.
Wie Blitze jagen Erinnerungen durch meinen Kopf. All die Pläne, die wir hatten.
Warum musste Sie nur gehen?
Ich sehe mein Haus vor mir. Die kleine Terrasse mit den welken Sonnenblumen, die ich schon vor Wochen entsorgen wollte. Ich pflanze sie jedes Jahr, weil Lisa Sonnenblumen liebte.
Eigentlich bin nicht mehr bereit in den Trott meines unspektakulären, und seit drei Jahren, einsamen Lebens zurückzukehren.
Ich greife in meine Manteltasche, um meine Schlüssel zu suchen und entdecke einen Fremdkörper in meiner Tasche. Ein kleines Ding, das mit dem Mantelfutter kämpft.
Schließlich gelingt es mir den Fremdkörper, zusammen mit meinen Schlüsseln zu befreien.
Zum Vorschein kommt ein Taschenkompass aus Messing.
Ich habe ihn gestern auf der Firmenfeier von einer Kollegin, von der ich nicht einmal den Namen kenne, bekommen.
Vermutlich habe ich ihr mein ganzes Selbstmitleid, mit alkoholgelöster Zunge, vor die Füße gegossen.
Sie hat vor Kurzem ihren Traum verwirklicht und sich auf den Pilgerweg nach Santiago de Compostela gemacht. Ich kann mich nur noch düster an die Einzelheiten unseres Gespräches erinnern.
Sie hat mir erzählt, dass Sie ihre Reise lange geplant hat und sich mit der vielfältigen Literatur zu diesem Thema befasst hat.
Der Kompass, den sie einmal als Ansporn, ihr Leben in die richtige Richtung zu lenken, bei einem Trödler gekauft hatte, begleitete Sie den ganzen Weg. Seither trägt sie ihn ständig bei sich.
Sie hat mir das edle Stück einfach in die Hand gedrückt und gemeint, ich hätte ihn wohl nötiger.
Für mich war diese Chance zur Selbstfindung, seit dem großen „Promipilgern“ im Fernsehen längst gestorben, aber ich habe ihr von meinem längst verstoßenen Traum erzählt, einfach in eine Richtung loszugehen und ihr zu folgen, ohne Abweichung. Einfach nur von meinen Füßen tragen lassen.
Alle Hindernisse zu überwinden, die auf mich zukommen. Berge, Wälder und Flüsse, immer der Nase nach, bis man glaubt, am Ziel zu sein.
Vielleicht nur eine kurze Flucht, um so zu tun, als wäre man anders, besser als die Masse, bevor der letzte Funken Kampfgeist ertränkt wird vom Tsunami der Routine.
Ich bin zu müde um meinen Gehirncocktail zu ordnen. Mit zittrigen Händen findet der Schlüssel endlich seinen Weg ins Schloss. Ich schaffe es gerade noch ins Badezimmer.
Das Gefühl von Abscheu holt mich ein.
Ich fühle, wie alles um mich herum, an meinem Herzen saugt. Ich sacke auf den Boden. Ich weiß nicht wie lange ich dem Badevorleger ein Gefährte war.
Den Samstag habe ich verpasst, wie an so vielen Wochenenden, die mit Plänen geschmückt, einen scheinbar unschuldigen Start in einer Bar oder bei einer Party nahmen und dann doch dem Alkohol zum Opfer fielen. Dabei habe ich ihr versprochen, mich nicht gehen zu lassen.
Neben mir liegt der glänzende Kompass wie ein verstohlener Feind auf dem Boden.
Nach einem langen Bad, und exzessivem Zähneputzen, bin ich bereit der Welt erneut gegenüberzutreten. Letzte Fetzen von Erinnerungen an die vergangene Nacht streifen meine Gedanken, lassen sich aber leicht vertreiben.
Ich stecke den Kompass in die Sporttruhe in der unter anderem ein unbenutztes Kletterseil, einige Karabiner, unbenutzte Kletterschuhe und andere wichtige, Dinge die auf ihren großen Auftritt warten ihren Platz gefunden haben. Ich will ihn einfach nicht mehr sehen.
Dann gehe ich, wie so oft, hinunter in das Café am Eck, um mir mein sonntägliches Frühstück zu gönnen.
Hier bin ich nur ein Mensch, der nach einer arbeitsreichen Woche den Genuss des wohlverdienten kleinen Luxus genießen und sich zumindest durch ein kleines bisschen Dienstleistung besser fühlen möchte. Jemand hinter einer Zeitung. Der Anzeigeteil ist voll mit Reisetipps. Der Herbst scheint der Feind der Konditionierung zu sein. Keine Panik, morgen nimmt mir der Alltag wieder die Kraft zur Veränderung durch seine kunstvolle Macht der Ablenkung.
Ich bestelle bei dem Kellner, der schon immer hier arbeitet, noch einen Espresso und ein Croissant, obwohl mein Magen Kräutertee vertragen könnte.
Mir gegenüber sitzt ein junges Paar, das sich über ein Sektfrühstück mit Lachs und frisch gepresstem O-Saft hermacht. Sie haben was zu feiern, was es ist, kann ich mangels Interesse nicht herausfinden.
Ein Mann mittleren Alters schnippt ungeduldig nach dem Kellner, der ihn mit steigender Intensität des Schnippens, nur noch mehr zu ignorieren scheint. Ein undankbares Business.
Das Café beginnt sich langsam zu füllen und ich beobachte die Menschen unbewusst aus der Deckung meiner Zeitschrift.
Es hat angefangen zu regnen. Durch die großen Fenster betrachte ich die Welt da draußen. Die Äste der wenigen Bäume beugen sich unter dem Gewicht des Wassers und kleine Rinnsale verschwinden wie von Geisterhand in den unendlichen Tiefen des Abwasserkanals.
Ich bestelle die Rechnung, gebe viel zu viel Trinkgeld, als wollte ich mich für die Unhöflichkeit des schnippenden Gastes entschuldigen und verlasse eilig das Café.
Zurück in meiner Wohnung nehme ich den Kompass aus der Kiste und lasse mich aufs Sofa sinken.
In einer Schublade bewahre ich alle Arten von Karten auf. Auch die von längst vergangenen Reisen mit Lisa. Ich finde eine Straßenkarte von Europa und breite sie auf dem Tisch vor mir aus.
Dann drehe ich einen kleinen Bleistift in der Mitte. Ich schließe meine Augen und warte, bis er zum Stillstand kommt. Als ich meine Augen öffne, zeigt die Spitzte auf eine Stadt namens Sagres, ganz im Südwesten Portugals. Mein erster Gedanke ist Portwein. Traurig, aber sonst weiß ich nicht viel von Portugal.
ch gebe Hannover - Sagres in den Routenplaner ein. Der zeigt mir nach kurzer Zeit die Strecke: 2678,91 km und 27:43 Stunden. Mit dem rechten Zeigefinger folge ich immer wieder der vorgegebenen Route. Es dauert lange, bis ich mich von der Karte losreißen kann.
Wie besessen suche ich nach meinem Tramperrucksack.
Ich leere die Zauberbox im Flur mit unbenutzten Dingen und werde fündig.
Ganz unten am Boden der Kiste ist das gute Stück. Der letzte Einsatz liegt schon lange zurück.
Ich packe alles, was mir auf die Schnelle unterkommt und nützlich erscheint, hinein.
Ganz oben in das kleine Fach kommt der Kompass meiner namenlosen Kollegin.
In einer der Seitentaschen finde ich einen Geldgürtel. Das letzte Geschenk von Lisa, das ich noch nie benutzt habe. Sie starb lautlos und plötzlich genauso, wie die Krankheit die sich mit einem Schlag unsere gemeinsame Zukunft gestohlen hat. Wir wollten viel mehr reisen und viel mehr Zeit gemeinsam verbringen. Seit ihrem Tod habe ich Hannover nicht mehr verlassen.
Ich rieche an dem Gürtel, in der Hoffnung einen Hauch von ihrem Geruch zu erhaschen, doch er riecht nur nach Leder.
Dann suche ich sämtliches Bargeld zusammen, rieche auch an den Scheinen und stopfe sie
mit meinem Reisepass und der Kreditkarte in die Gürteltasche.
Ich habe noch nie zuvor an Geld gerochen und kann mir auch nicht erklären, warum ich es jetzt tat. Der Geruch ist eigenartig, ich kenne nichts, was diesem Geruch ähnelt.
Mit dem Rucksack auf den Schultern mache ich mich auf den Weg.
Ich gehe schnell ohne wirklich zu wissen wohin.
Die Luft hat diesen besonderen Geschmack von kühler Großstadt. Die wenigen Menschen auf den Straßen sind eingehüllt in Winterjacken und Mäntel, die es schwer machen ein Gesicht unter der Hülle zu erkennen.
Die Köpfe werden tief getragen. Hände stecken in Taschen oder Handschuhen. Das farbenfrohste Schauspiel liefern die Regenschirme, die von manchen Menschen wie Trophäen getragen werden.
Ich nehme die U-Bahn zum Hauptbahnhof. Die Luft hier unten ist wärmer, hat aber einen ekelhaften, abgestanden Touch.
Am Hauptbahnhof löse ich ein Ticket nach Lissabon. Ich habe Glück und muss nur eine Stunde warten. Die Zeit verbringe ich damit, die Menschen in den ankommenden und abfahrenden Zügen zu beobachten.
Rührende Abschiedsszenen spielen sich vor meinen Augen ab. Ein Paar küsst sich zum Abschied auf den Stufen des Waggons, bis das Abfahrtzeichen ertönt.
Menschen kommen und gehen.
Mein Zug wird durch die hallenden Lautsprecher angesagt. Ich begebe mich auf den Bahnsteig und steige in ein noch leeres Abteil. Ich lehne meinen Kopf an die kühle Scheibe und lasse die Landschaft an mir vorüberziehen. Nach Stunden mit kurzen Schlafphasen und verwirrenden Träumen, zwischen Umsteigen und mehreren Besuchen in Speisewagen, erreiche ich völlig fertig und mit einem nur noch geringen Prozentsatz an Enthusiasmus endlich den Bahnhof Santa Apolonia am Ufer des Tejos.
Es ist früher Vormittag und die Luft ist mild für den fortgeschrittenen Herbst. In den Gassen des ältesten Stadtviertels Alfama regt sich einiges. Der Boden ist größtenteils im Calcada Stil kunstvoll gepflasterter. Die Menschen hier scheinen in einem besonderen Zeitlupenmodus zu laufen. Zudem bilde ich mir ein sie hätten einen glücklicheren Gesichtsausdruck als den mir bekannten.
Die Häuser um mich herum bestechen durch viele kleine Details.
Einige Fronten sind mit bunten Fliesen verziert und die unbegrenzte Menge an Minibalkonen lässt mich staunen.
An vielen Häusern sind Wäscheleinen vor den Fenstern befestigt, die den Nutzern akrobatische Fähigkeiten abverlangen müssen, die aber das Farbenspiel, zusammen mit den bemalten Fensterläden, erst komplett machen.
Ich schlendere ziellos durch die Gassen und lasse die Eindrücke auf mich nieder rieseln. Alle meine Sinne sind nur darauf aus sich auf die ungewohnte Umgebung einzulassen. Gerüche, Töne und die Flut an Farben! Ein Straßenmusikant spielt auf einer Geige ein mir unbekanntes Stück.
Die Sehenswürdigkeiten meidend streife ich durch die engen Gassen. Schließlich treibt mich mein rumorender Magen wieder zurück auf den belebten Teil des Viertels.
In einem kleinen Restaurant bestelle ich Rotwein und ein Gericht, das ich nicht kenne.
Alles schmeckt herrlich. Ich nehme mir trotz des großen Hungers sehr viel Zeit zum Essen. Die nette Kellnerin legt mir mit der bestellten Rechnung einen kostenlosen Stadtplan in deutscher Sprache auf den Tisch. Zufrieden und mit vollem Bauch schultere ich meinen Rucksack und mache mich wieder auf den Weg.
Ich komme an einen Platz in der Nähe des Hafens, wo ein riesiges Mosaik die Weltkarte darstellt.
In der linken Ecke ist eine Kompassrose abgebildet die mich an meinen stillen Reisebegleiter im Rucksack erinnert.
Ich kann mit einem Schritt den Kontinent wechseln und von einem Land zum nächsten springen.
Nachdem ich zumindest mit einem meiner Füße, jedes Land der Erde besucht habe, schließe ich die Augen. Plötzlich hektisches Treiben und ich werde unfreiwillig zum Motiv einer Gruppe von japanischen Reisenden, die wie aus Gewehren auf alles losfeuern.
Zurück in der Altstadt nehme ich mir ein Zimmer in einem kleinen Hotel, das in einer verschlafenen Gasse ohne Aussicht liegt.
Nach einer erholsamen, traumlosen Nacht durchsuche ich die kleine Infomappe des Hotels, die neben meinem Bett auf einer hölzernen Ablage liegt.
Ich entdecke eine Broschüre über den Wallfahrtsort Fatima, der nördlich von Lissabon, also nicht allzu weit entfernt liegt. Ohne lange nachzudenken, beschließe ich diesen geheimnisvollen Ort
einen Besuch abzustatten.
Ich bezahle meine Rechnung und erkundigte mich nach der besten Möglichkeit, heute noch nach Fatima zu kommen. Der Mann an der Rezeption gibt mir Broschüren mit Infos über Ausflugsreisen.
Ohne zu frühstücken, verlasse ich das Hotel.
Am Busbahnhof werden Tagesreisen nach Obidos und Fatima angeboten. Obwohl es mir widerstrebt, mich einer Reisegruppe anzuschließen, buche ich die Tour mit deutscher Reiseleitung.
Neben mir sitzt eine Frau, die, trotz meines offen dargelegten Desinteresses, immer wieder das Gespräch mit mir sucht. Ich stelle mich schlafend und höre, wie sie einer jungen Frau mit bayrischem Dialekt in der Sitzreihe vor uns erzählt, sie würde diese Reise machen, um den Segen für ihre Tochter zu erbitten, deren Kinderwunsch bislang unerfüllt blieb. Ich verdrehe unter den geschlossenen Liedern die Augen und versuche nicht weiter hinzuhören. Warum will ich eigentlich da hin?
Nach über zwei Stunden Fahrt erreichen wir schließlich Fatima.
Der Busfahrer packt nach der Ankunft einen Koffer mit kleinen Marienstatuen und Kreuzen aus, den er auf einem Klapptisch direkt neben dem Hinterausgang aufstellt. Alles ist fein säuberlich sortiert und mit kleinen Preisetiketten versehen.
Am Boden steht eine Kühlbox mit verschiedenen Dosengetränken.
Es gibt Mango Eistee, von dem ich mir eine Dose mit auf den Weg nehme. Lisa liebte Mango Eistee.
Die Reiseleitung informiert uns ohne Luft zuholen, über alles, was wir wissen müssen, und drückt jedem von uns einen Lageplan mit der Abfahrtszeit und den wichtigsten Informationen in die Hand, für den Fall, dass jemand verloren geht. Ich mache mich so schnell wie möglich aus dem Staub um alles auf eigene Faust zu erkunden. Die Straßen sind gesäumt von Souvenirläden, die mit Marien- und Heiligenstatuen aus Holz, Kunststoff und Wachs gefüllt sind. Kreuze und Rosenkränze in allen erdenklichen Variationen und Farben. Ich konnte nie verstehen, wie es ein Folterwerkzeug zum Symbol des Glaubens geschafft hat.
Endlich erreiche ich den Eingang zum wundersamen Ort. Ich kenne die Geschichte nicht genau und im Bus habe ich nicht wirklich zugehört, dennoch erhoffe ich mir etwas zu finden, eine Erklärung.
Ich lasse mich mit dem Menschenstrom treiben. Der Platz ist riesig.
Am Ort der Erscheinungen thront eine neubarocke Basilika.
Einige Menschen rutschen auf Knien über den Platz. Viele beten oder stehen einfach nur herum und schauen zu. An einem Stand kann man Kerzen und Wachsfiguren kaufen. Viele zünden Kerzen an und stellen sie in eine der dafür vorgesehenen Halterungen. Wachsgebilde die Beine, Hände und auch Kinder darstellen, werden verbrannt. Ich möchte eigentlich auch eine Kerze anzünden, lass es dann aber bleiben.
Ich verlasse den großen Platz und steige in eines der Taxis, die direkt vor den Toren parken. Der Fahrer begrüßt mich freundlich. Ein Rosenkranz pendelt vom Spiegel.
Ich zeige ihm meine Karte mit der Markierung der Reiseleitung und bin in wenigen Minuten wieder beim Bus. Der Taxifahrer gibt mir mit dem Wechselgeld einen kleinen Anhänger. Es ist ein hölzernes Kreuz an einem dünnen Lederband. Ich will es zurückweisen, stecke es aber dann doch in meine Tasche.
Die vordere Tür des Busses ist offen. Im Radio läuft laute, melancholische, portugiesische Musik. Fado, wie uns die Reiseleitung später erklärt. Der Busfahrer schläft in der ersten Sitzreihe. Seine Beine stehen in den Gang. Ich schiebe mich an ihm vorbei, ohne ihn zu wecken und stopfe meinen Rucksack in die Ablage über meinem alten Platz.
Der Parkplatz ist voll mit Reisebussen, die schön geschichtet in langen Reihen nebeneinanderstehen. Ich beobachte die Menschen die ein und aussteigen und versuche mir die Beweggründe ihrer Reise hierher vorzustellen. Endlich kommt unsere Gruppe zurück.
Der Busfahrer erhebt sich langsam, streckt sich und verteilt danach gemeinsam mit der Reiseleiterin und einigen freiwilligen Helfern, Portwein in Bechern. Ich lasse mir zweimal nachschenken und genieße den Geschmack, der meine Kehle erheitert. Wir verlassen Fatima.
Ein wenig außerhalb machen wir halt in einem typisch portugiesischen Restaurant.
Es sind bereits mehrere Gruppen dabei sich Essen in großen Mengen in den Mund zu stopfen. Dazu gibt es billigen Wein, den man mit Zitronenlimo mischen muss, um ihn trinkbar zu machen.
Wir essen und einige statten dem angeschlossenen Souvenirladen einen Besuch ab, bevor wir uns mit gefülltem Magen wieder auf den Weg machen.
Mein Kopf lehnt an der Scheibe und vibriert im Einklang mit dem Dieselmotor und der unebenen Straße. Meine Mitreisenden sind von einer eigenartigen Zufriedenheit erfüllt.
Ich hingegen fühle mich meiner Erleuchtung und jeglicher Erklärung ferner denn je.
Der Sitz neben mir ist jetzt leer geblieben. Die Frau, die auf der Hinfahrt neben mir gesessen hat, sitzt jetzt zwei Reihen weiter vorne und unterhält sich angestrengt mit ihrem Nachbarn.
Es ist später Nachmittag und das sanfte Licht hüllt die Landschaft in weiche Farben. Wir fahren durch eine öde Gegend. Korkbäume säumen die Straße auf beiden Seiten.
Weiter südlich lösen Alleen von Eukalyptusbäumen das Bild ab. Ausgetrocknete dornige Sträucher scheinen dem nächsten Regen entgegenzufiebern. Die Sonne verschwindet hinter den kahlen, versengten Hügeln und gönnt den Pflanzen eine Auszeit.
In der Dämmerung erreichen wir Lisabon. Ich schultere meinen Rucksack, werfe einen Zehner in den Trinkgeldkorb des Fahrers und verschwinde, ohne mich zu verabschieden. Ich nehme den nächsten Zug nach Loulé, das weit im Süden liegt und meinem Bleistiftziel schon sehr nahe kommt.
Nach knapp drei Stunden Fahrt erreichen wir Loulé. Ich bin müde und die Eindrücke des Tages lassen ihre Wirkung mit voller Wucht auf mich los.
Das dritte Taxi des Tages bringt mich nach Silves, eine kleine Stadt etwas im Inland gelegen. Der Taxifahrer, der ein Deutsch mit starkem Schweizer Akzent spricht, erzählt mir auf dem Weg ins Hotel eine Geschichte zu den vielen Mandelbäumen, die ich in der Dunkelheit nicht mehr erkennen kann. Ein Mann hat sie alle aus Liebe zu seiner aus dem fernen Norden stammenden Frau pflanzen lassen. Durch die Blüten sollte das Land einmal im Jahr in Weiß getaucht werden, genau wie die verschneite Winterlandschaft in ihrer Heimat.
Das einfache Hotel liegt etwas außerhalb der kleinen Stadt. Ich habe Glück, es ist nicht schwer, ein Zimmer zu bekommen. Ich öffne das Fenster meines Zimmers und sehe die beleuchteten Überreste der maurischen Burg, die sich auf einem Hügel über der Stadt erhebt.
Die Luft ist mild für die Jahreszeit und erfüllt vom Konzert der Zikaden.
Meine zweite Nacht in Portugal ist unruhig. Ein Gefühl der Einsamkeit und Leere überwältigt mich und raubt mir den Schlaf. Im Traum stehe ich wieder vor der Kirche in Fatima. Alle Menschen um mich herum zeigen mit dem Finger auf mich. Ich spüre die Verachtung in ihren Blicken.
Bei genauerer Betrachtung erkenne ich mich selbst in hundertfacher Ausführung. Jeder dieser Menschen hat mein Gesicht.
Ein dumpfes Klopfen rettet mich. Schlaftrunken öffne ich die Tür.
Es ist die Damen vom Mietwagenservice. Ich unterzeichne die vorbereiteten Papiere und bekomme die Schlüssel für den gestern Abend noch bestellten Kleinwagen.
Ich will endlich zum Meer ans Ende der Welt!
Den Kompass lege ich zusammen mit einer Karte der Region auf den Beifahrersitz.
Neben der Straße sind viele Keramikgeschäfte die Teller, Vasen und Tonkrüge in verschiedenen Blautönen zur Schau stellen. In einigen Gärten laufen automatische Bewässerungssysteme auf Hochtouren. Daneben scheinen die Kühe auf der Weide schier zu verdursten.
Das Grün der vielen Golfanlagen erscheint wie ein unabsichtlicher Farbklecks in der sonst so öden Landschaft. Ich genieße es, das Steuer in der Hand zu haben. Es ist ein spezielles Gefühl einfach aufs Gas zu drücken, und die Richtung bestimmen zu können. Das Ende der Welt kommt immer näher.
Schließlich erreiche ich Sagres und kann den südwestlichsten Punkt Europas „Capo de Sao Vincente“ mit dem kleinen Leuchtturm auf den Felsen bereits aus der Ferne erkennen.
Ich parke den Wagen und mache mich zu Fuß auf den Weg zu den Klippen.
Vor mir lieg der endlose Atlantik. Das Meer glitzert wie tausend Diamanten. In der Ferne erkenne ich ein Schiff. Auf den Felsen stehen einige Fischer die mit ihren langen Leinen aussehen als würden Sie eine spezielle Art von Meditation betreiben. Unweit vor mir auf einer Landzunge mit steil abfallenden Klippen befinden sich die Überreste einer Festungsanlage. Meine Füße tragen mich automatisch in diese Richtung. Die Römer dachten, dass an dieser Stelle die Götter leben.
Der Wind weht kleine salzige Partikel zu mir her. Die Wellen peitschen mit großer Wucht gegen die Felsen und verwandeln das tiefe Blau in ein schäumendes Weiß. Ich spüre die Wärme der Felsen, auf denen ich sitze, und fühle mich seit langer Zeit wieder der Erde zugehörig.
In einer Nische entdecke ich eine kleine unscheinbare Pflanze, die sich mit einer unbeschreiblichen Kraft an dem Gestein festhält und dem Wind, wie zum Trotz eine leuchtend rote Blüte entgegenstreckt.
Ich stelle mich auf einen kleinen Vorsprung, der kaum Platz für meine Füße bietet, und breite mit geschlossenen Augen meine Arme aus wie Flügel. Es ist Zeit loszulassen und von Neuem zu beginnen. Drei Jahre der Trauer müssen nun am westlichsten Punkt Europas zu Ende gehen!
In meiner linken Hand halte ich den Kompass so fest, dass sich seine Umrisse in mein
Fleisch drücken. Ich löse den klammernden Griff und betrachte ihn mit Dankbarkeit.