Der Komet
Der Komet. Für L. und I.
„Wir gleichen doch Wolken am frischen Himmel in Tageshelle und doch ähneln wir ihnen nicht, stattdessen sind wir wie Erde, welche die Wolken betrachtet, aber wir sind auch nicht vergleichbar mit ihr, denn alles dreht sich im Kreise, der kein runder Kreis ist, eher ein Vieleck, schwebend im Raume zwischen Himmel und Erde, nein, auch das nicht, denn nur ein gezeichnetes Eck auf dem Papier sind wir. Ach nein, seht nur: Gar nichts davon sind wir, bewegt sich doch nichts davon“, sagte der alte Mann.
Seine Schüler verstanden ihn nicht. Schon seit Tagen lauschten sie den weisen Worten ihres Lehrers, der in großer Mühe versuchte, ihnen die Essenz seines Wissens zu vermitteln. „Herr“, sprach einer der Schüler, „was sind wir dann ?“ Sein Lehrer fasste sich an die Stirn und fuhr mit dem kleinen Finger in sein weißes Haar, dann antwortete er:
„Ich will es anders erklären: Wir sind wie eine Frau in einem führerlosen Zug. In einem fort rollt er seinem Ziel entgegen, welches sich von ihm fort bewegt, aber nur, um sich später doch anzunähern. Und obwohl dies eine Tatsache ist, kann man nicht sagen, ob eine Frau wirklich dort ist. Und vielmehr ist nicht einmal abzusehen, ob Zug und Ziel sich je begegnen werden. Eines ist aber sicher: Der Zug ist nicht wirklich führerlos.“
Die Schüler sahen einander in die ratlosen Gesichter. „Herr, Eure Worte sind von keiner durchdachten Logik“, sagte ein mutiger Schüler. In Erwartung seines Zorns hielten die Schüler die Hände schützend vor ihre Gesichter.
Aber der Lehrer lächelte still: „Wenn im Herbst der Wind stark weht, dann kann es sein, dass ein Tannenzapfen auf den Boden geschlagen wird. Manchmal aber bleibt er an einem Ast hängen. Dort wird er sterben. Wenn dann aber der Regen einsetzt, kann es geschehen, dass der Zapfen doch den Boden erreicht. Nach einem langen Winter wird dann nichts mehr da sein als Staub.“
Die Schüler sahen ihren Meister an und konnten keines der Worte in einen Zusammenhang bringen. „Herr, Ihr habt uns gesagt, dass Ihr die Wahrheit kennt. Was ist die Wahrheit ? Drückt Euch so aus, dass die Einfältigen verstehen können“, bat einer von ihnen. Der Meister zögerte einen Augenblick, lächelte und fuhr fort:
„Ich will Euch eine Geschichte erzählen. Am Ufer des höchstens fünf Meter tiefen Ausläufers des östlichen Meeres standen zwei Herren, Fischer, mit den Stiefeln –sie reichten mal bis zu den Knien, ein anderes Mal bis zum Hals- im warmen Wasser, das Tageslicht war sehr stark. Mit gierenden Blicken sahen sie auf das Wasser. Die Gier war so groß, dass sie durch das Trübe sahen und einen Fisch entdeckten. Die Fischer lockten ihn und fingen ihn mit einem kleinen Netz. Sie schlugen ihn kräftig gegen einen Stein. Der Stein war so hart und scharf, er hätte sicher das Meer zerschneiden können. Nach dem Ende des Tieres reichten die Stiefel der Fischer bis in den Himmel, der sich langsam verdunkelte.“
Einige der Schüler erhoben sich von ihren Decken, falteten sie und gingen fort. Die anderen warteten ab auf eine Deutung des Gleichnisses. Aber sie kam nicht. Der Meister sah lächelnd in ihre ratlosen Gesichter. Einer von ihnen nahm allen Mut und sagte:
„Ihr sprecht in Rätseln, aber in Wahrheit sind Eure Geschichten ohne Sinn und Verstand. Ihr verwirrt, Ihr erklärt nicht. Dahinter steckt keinerlei Logik. Nichts davon.“ Der alte Mann lachte angenehm und antwortete:
„Logik ist wie eine Schlange. Sie gräbt sich in den Sand und lauert. Die Zeit vergeht. Und die Zeit läuft der Schlange davon, denn an einem Tag wird es Tag und Nacht. Und wenn die Schlange dann an die Glaswand des Käfigs schnellt, dann wird das Lauern zu einem traurigen Vergraben im Sand, denn die Jagd ist schon seit langer Zeit vorüber.“
„Wollt Ihr sagen, dass Logik eine Lüge ist ? Dass es keine Logik gibt ? Gibt es also nur Eure Logik ?“ fragte ein weiterer Schüler erzürnt. Der Meister schüttelte den Kopf weit nach hinten und streckte beide Arme aus, als wolle er den Wind einfangen, der langsam einsetzte. Der Mond schien schon, Wolken traten davor. Es regnete. Dennoch antwortete er mit ruhiger Stimme:
„Logik ist ein Turm. Ein Baumeister hat eine Idee, wie man den Bau schneller als mit der Peitsche des Aufsehers voran treiben konnte. Es kam aber so, dass man zum Klären der neuen Ordnung so lang brauchte, dass das bereits fertige Gemäuer einstürzte, von der Zeit überwältigt, und alle unter sich begrub. Dann ist es ein Turm aus Toten.“
„Eben noch war Logik wie die Schlange, jetzt ein Turm. Herr, ich glaube Euch nicht mehr“, sagte einer und ging fort. Ein anderer erhob sich: „Also wird Logik von der Zeit überdauert. Dieses Wissen ist nicht neu. Zeit überdauert alles. Sonst würde alles in Starre sein !“ schrie er. Und er und die anderen, sie gingen alle fort.
Der alte Mann lächelte. Bevor er auch ging, sagte er noch dies:
„Es ist nichts schlimmer als die Starre, ja, nichts hinterhältiger oder linker als sie: Das Verharren in einem Moment ist eine Unmöglichkeit. Denn Starre ist langsames Bewegen ohne Grund. Das ziellose Umherwandern ohne Nutzen ist aber notwendig, um sich selbst und seinen Wert am Anfang zu sehen. Starre endet niemals wirklich. Nichts ist schlimmer, linker, hinterhältiger.“
Den ganzen Tag hatte ein junges Liebespaar den Philosophen und seine Schüler beobachtet. Sie sahen, wie alle gingen, sie hörten die letzten Worte des weisen Mannes, den auch sie nicht verstanden. In den Nachthimmel schauend legte sie ihre Hand auf seine und begann wieder, das Leben, sich, die Welt, die Menschen und alles, was war, zu vergleichen miteinander. Es war wie der glänzende Schweif des Kometen, der jetzt zu sehen war, prächtig und erfüllt. Als sie ihre Vorstellung beendet hatte, sah sie rüber zu ihm. Er war inzwischen fort. Unter ihrer Hand war er verschwunden.