Der Kollege
06:30 Uhr.
Paul war auf dem Weg zur Arbeit. Er war früh genug aus dem Haus gekommen und deshalb nicht in Eile. Er saß bereits in der Bahn zum Büro.
Die öffentlichen Verkehrsmittel mochte er nicht. Sie waren oft unpünktlich und die Sitze verschmutzt. Es fuhren auch dreckige Menschen mit ihnen, Leute, die mit Körperhygiene und frischer Wäsche nichts am Hut hatten und gelegentlich auch geistig Verwirrte. Also alle die, die entweder kein Auto hatten, aufgrund des permanenten Parkplatzmangels in der Frankfurter Innenstadt keine Parkmöglichkeit fanden, aus Überzeugung mit den Öffentlichen führen – was Paul nicht wirklich nachvollziehen konnte - oder eben die, die am Rande der Gesellschaft lebten und mit der Bahn zum Hauptbahnhof zu ihrem Drogendealer gelangen wollten.
Da er sich während der nicht allzu langen Fahrt nicht wie die meisten andere Mitfahrer auf das Lesen von Büchern, Zeitungen oder Magazinen konzentrieren konnte, ließ er seinen Blick schweifen. Er sah die Menschen an, die drinnen mitfuhren und die, die beim Vorüberfahren schnell wieder aus seinem Sichtfeld verschwanden. Meist nutze er einfach nur die Gelegenheit, die mitfahrenden Personen zu beobachten.
Doch was war das? Sah der Typ da drüben nicht aus wie Chris? Sein Kollege Chris, der heute auf einer Sales-Veranstaltung in Berlin sein sollte? Hatte der verschlafen oder den Termin abgesagt? Noch überlegte Paul, ob er sich zu Chris setzen, oder einfach so tun sollte, als hätte er ihn nicht bemerkt.
Paul mochte Chris nicht. Chris war einer dieser obercoolen Verkäufer, die sich um die eigentliche Materie in ihrem Business nicht kümmerten. Das einzige was diese Typen interessierte, war der Bonus am Jahresende und wie sie ohne viel Arbeit und möglichst bequem ihren Tag rumbrachten. Das gemeine dabei war, dass Chris alles in allem ein clever Kerl mit vielen Verbindungen im Markt war. Er konnte durch seine Kontakte immer genügend Umsatz machen, kam dabei nicht ins Schwitzen und hatte gegenüber seinen Kollegen aus der Entwicklung eine große Klappe. Schließlich war ja er derjenige, der für den Verkauf sorgte. Die Projektierung und Realisierung war doch nur "Daily Business". Diese Geringschätzung ging Paul schon ewig auf die Nerven, doch was sollte er tun? Er ging Chris so gut es ging aus dem Weg und ließ sich seine Apathie nicht anmerken.
Er beschloss, die bereits begonnene Ignoranz der Anwesenheit seines Kollegen fortzuführen und sich, hoffentlich, nichts anmerken zu lassen. Seine Gedanken kreisten noch ein wenig unbestimmt um die Tatsache, dass Chris hier mit ihm in der Bahn saß, obwohl er in Berlin sein sollte und was das zu bedeuten hatte. Da sah er diese Frau. Sie war schlank, hatte braunes, fast schwarzes Haar, sah elegant aus, und war von einer auffallend schlanke, aber nicht zu dünne Gestalt. Er konnte Sie nur von hinten sehen. Ihr Alter und ob sie hübsch war, blieb ihm für den Moment verborgen. Sie stand in der Nähe der Tür, im Wagen vor ihm und schaute in Fahrtrichtung. Die Bahn hielt. Es wurde voller und die Frau bewegte sich von der Tür fort, in Richtung Wagenmitte. Nun konnte Paul sie von vorn sehen. Er staunte als er die Frau seines Chefs erkannte.
Er hatte sie auf der letzten Firmenfeier flüchtig kennen gelernt. Sie war eine überaus gutaussehende Frau in den Mittdreißigern. Anscheinend hielt sie sich fit, denn keine Frau mitte dreißig, die er kannte, sah auch nur annähernd so aus. Einige hatten in diesem Alter Kinder, andere überlegten wohl noch und gaben sich in der Zwischenzeit mehr oder weniger zielstrebig ihrer Karriere hin. Für Sport war dann entweder keine Zeit, oder nach einem arbeitsreichen Tag fehlte einfach die Lust, sich noch einmal zu irgend einer Form von körperlicher Anstrengung aufzuraffen. Das konnte Paul gut nachvollziehen, da es ihm ähnlich ging. Nicht, dass er den Wunsch nach Kindern verspürte, oder sehr zielstrebig an seiner Karriere feilte. Aber auch er hatte nach einem 9-12-Stundentag einfach wenig Lust sich im Fitness-Studio abzumühen, oder eine Runde im eh zu weit entfernten Park zu laufen. Da die Frau seines Chefs aber nicht arbeiten ging und auch keine Kinder zu versorgen hatte und auf ihr Aussehen offensichtlich großen Wert legte, sah sie so aus, wie sie aussah – einfach atemberaubend.
Sie kam nun langsam näher und hielt scheinbar auf Chris zu, ohne ihn direkt anzusehen. Er wusste, dass Chris sich auf der letzten Firmenparty eine ganze Weile mit ihr unterhalten hatte, dass musste er neidisch mit ansehen. Gerade Chris, den er ja sowieso gut leiden konnte. Aber Sie schien ihn nicht zu bemerken. Sie blieb etwa auf seiner Höhe stehen und setzte ich ihm schräg gegenüber. "Sie musste ihn doch gesehen haben. So blind kann doch kein Mensch sein", dachte er bei sich, als sich Ihre Blicke für den Bruchteil einer Sekunde getroffen haben mussten. Zu seinem Erstaunen kam keine erkennbare Reaktion.
Es begann Paul zu dämmern. "Hier ist etwas im Busche", das war ganz klar. Paul fing an, sich für die Sache zu interessieren. Er machte sich so klein und unscheinbar es eben ging, ohne aufzufallen, und versuchte die beiden zu beobachten, ohne dabei beobachtend zu wirken. Es waren bereits weitere 2 Stationen vergangen, ohne dass die beiden sich gerührt hatten und an der nächsten Station musste er aussteigen. Entgegen aller Vernunft bleib er sitzen. Die Neugier hatte ihn gepackt. Sie fuhren noch weitere 4 Stationen.
"Was würden die wohl machen? Gingen sie zusammen in ein Hotel, oder wollten Sie zusammen frühstücken?" Bevor er zu einer sinnvollen Überlegung kommen konnte, machten beide auf einmal Anstalten die Bahn zu verlassen. Erst stand Chris auf und ging in Richtung vorderer Tür, dann erhob sie sich und ging zielstrebig in Paul vorüber, zur nächsten Tür hinter ihm. "War das etwa alles nur ein ganz dummer Zufall? Hatte er sich das nur zurechtgesponnen? Vielleicht hatten sie sich ja doch nicht erkannt und dies war ein eigenartiger Umstand, für den es eine völlig logischer Erklärung gab."
Die Bahn hielt. Aussteigen wollte Paul nicht. Er kam sich langsam sehr albern vor und beschloss, den beiden einfach hinterher zu schauen. Eigenartigerweise gingen Sie aber in die gleiche Richtung. "Da hätte Chris besser den Ausstieg hinten gewählt, das wäre kürzer gewesen. Hatten sie am Ende doch das selbe Ziel und waren bei dieser Aktion einfach nur verdammt vorsichtig?"
Die Bahn stand noch. Er konnte beobachten, wie sie dicht hintereinander in Richtung einer kleinen Pension gingen, bevor ihm die entgegenkommende Bahn die Sicht nahm. Als diese vorüber war, waren auch seine beiden "Verdächtigen" verschwunden. Er hätte nicht schwören können, dass sie in die Pension gegangen waren, aber eine andere Möglichkeit bleib eigentlich nicht übrig.
Paul stieg an der nächsten Station aus und nahm die Bahn in die Gegenrichtung. Er kam trotz der kleinen Observation fast pünktlich im Büro an und war noch nicht richtig am Schreibtisch, als sein Chef schnellen Schrittes auf ihn zukam.
"Paul, hast du die Handynummer von diesem Chris aus dem Vertreib? Der ist doch mit Klaus auf dem Meeting in Berlin. Ruf ihn an, er hat die Präsentationsunterlagen bei Tanja liegen gelassen. Frag ihn, ob er sein Mailaccount noch vor der Veranstaltung abrufen kann, wenn ja, schick ihm die Datei per Mail. Was für ein Dilemma ...." und er verschwand aus der Tür.
Paul lief ein Grinsen über das Gesicht und er überlegte, wie lange er wohl mit dem Anruf warten sollte, damit er Chris im denkbar schlechtesten Moment erwischte. Er suchte rasch Chris Nummer aus dem Telefonverzeichnis, griff nach dem Hörer und während er wählte dachte er: "Warum, um Gottes Willen, sind solch glückliche Fügungen so selten?"
* * *
Ende