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Der Koffer am Flughafen
„Wie weit bist du mit Kofferpacken?“, fragte Mattes, nachdem er den Kopf durch die Tür gesteckt hatte, und sah mich an. Plötzlich fiel ihm die Kinnlade runter. „Ähm, Anni … Du bist doch schon seit zwei Stunden im Zimmer. Die Sachen sollen in den Koffer, nicht auf dein Bett. Das weißt du schon, oder?“ Er grinste. Verwundert sah ich auf die Uhr und mich dann in meinem Zimmer um. Tatsächlich, zwei Stunden waren vergangen, seitdem ich den Koffer aus dem Keller gekramt, ihn erstmal kräftig abgestaubt und mich dann im Zimmer verkrümelt hatte. Ich hatte ganz normal meinen Koffer packen wollen, da ist ja auch nichts Schweres dran. Sachen aus dem Schrank, nochmal anständig zusammenlegen und in den Koffer. Zack, das war´s. Oder eben auch nicht. Die Kleidung lag überall im Zimmer verteilt, die Hälfte davon auf meinem Bett, das darunter kaum noch zu erkennen war, die andere Hälfte lag quer im Raum verteilt. Der Koffer hingegen war leer, nicht ein Kleidungsstück lag darin.
„Naja …“, antwortete ich dem Ehemann meiner Mum zögernd. „Irgendwie habe ich viel zu viele Klamotten. Und nichts davon ist geeignet. Wo sind nur all meine Sachen hin?“ Gequält sah ich Mattes an.
„Schau mal unter dem riesigen Berg dort nach.“ Er deutete auf den Kleiderhaufen vor meinem Schrank. „Ja ja, ich sehe schon“, winkte er ab, „meine Hilfe kannst du nicht gebrauchen. Du schaffst das schon. Brauchst du deine Mutter, um zu entscheiden, was cool genug ist für den Urlaub oder willst du deine Ruhe haben?“ Gute Frage. Aber ich war doch kein Kind mehr. „Ich schaff das schon, gib mir nur noch ein paar Minuten.“
„In Ordnung, Anni. Aber in einer Stunde solltest du langsam schlafen gehen, wir müssen Morgen früh aufstehen.“ Ich nickte geistesabwesend, war ich doch wieder mit meinem Kleiderproblem beschäftigt.
Eine halbe Stunde später hatte ich grob sortiert, was zu gebrauchen war und was getrost hierbleiben konnte. Dann machte ich mich daran, die guten Klamotten in den Koffer zu packen. Normalerweise habe ich überhaupt kein Problem mit sowas, aber ich war so aufgeregt. Meine Mum war jetzt schon seit ein paar Jahren mit Mattes zusammen, ich kam gut mit ihm zurecht. Auch mein kleiner Bruder Timmi mochte ihn sehr. Aber der war auch erst vier und kannte Mattes praktisch, seit er denken konnte. Letztes Jahr hatten Mattes und meine Mutter geheiratet. Nun wollten wir als Familie das erste Mal in den Urlaub fliegen. Nicht nur, dass es der erste Urlaub zusammen mit Mattes war, wir waren so lange nicht mit Mum weggewesen. Sie hatte einen kleinen Friseursalon die Straße runter und war praktisch jeden Tag da. Urlaub kam für uns zusammen nie in den Sinn, Timmi und ich besuchten im Sommer oft unsere Großeltern am Bodensee. Das war wirklich immer schön. Aber nun ging es darum mit dem Flugzeug zu fliegen. Ich bin noch nie mit dem Flugzeug irgendwohin geflogen. Ein bisschen mulmig war mir da schon zumute. Aber gleichzeitig freute ich mich wahnsinnig. Es würde bestimmt ein toller Urlaub werden auf den Malediven.
Kurz vor Zehn klopfte es an der Tür und meine Mum schob sich hinein. „Hey Maus. Ach so schlimm sieht´s hier doch gar nicht aus.“ Sie lachte. Ich erwiderte: „Chaos wieder behoben, Klamotten sind im Koffer, wo sie hingehören. Ich hoffe nur, ich habe genug mit“. Mum zuckte mit den Schultern. „Und wenn nicht, auf den Malediven gibt es bestimmt auch ein paar Geschäfte, die wir unsicher machen können.“ Sie nahm mich in den Arm. „Oh, Schätzchen, ich freu mich ja so. Wir alle endlich zusammen im Urlaub. Das wird so der Hammer. Zum Glück schmeißt Frieda den Laden so lange.“ Ich nickte zustimmend. „Zwei Wochen Shoppen, Strand und Essen, was das Buffet hergibt. Der Wahnsinn.“ Wir lachten beide vor Vorfreude. Und so langsam legte sich mein mulmiges Gefühl wieder.
Kurz darauf war der Koffer gepackt, ich im Pyjama und ging glücklich, wenn auch immer noch aufgeregt, in mein wieder sichtbares Bett und träumte von der strahlenden Sonne, Sand zwischen meinen Zehen und heißen Surferboys.
Am nächsten Morgen wurde es etwas hektisch. Vier, naja dreieinhalb Personen, die die restlichen Sachen noch zusammenpacken mussten, sich im Bad fertigmachten und ständig rief einer: „Wie spät?“ Schließlich fanden wir uns pünktlich um Sechs Uhr am Flughafen ein. Timmi war auf der Autofahrt wieder eingeschlafen und lag nun glücklich schlummernd auf einem der Metallsitzbänke in der Flughafenhalle, umzingelt von Koffern, die ihn scheinbar beschützten. Mum und Mattes kümmerten sich gerade um unser Check-in und ich stand da und behielt meinen kleinen Bruder im Auge, der im Schlaf lächelte und sich in den Sitz kuschelte, als wäre es das Gemütlichste auf der Welt. Plötzlich hörte ich hinter mir ziemliche Aufregung und drehte mich um. „Was ist das für ein Koffer, wem gehört dieser Koffer? Sie da, bleiben Sie weg!“ Offenbar hatte Jemand einen schwarzen, unscheinbaren Koffer stehen lassen. Aber wieso dieser Aufruhr deswegen? Mit der Zeit versammelte sich immer mehr Sicherheitspersonal um den Koffer und ich beobachtete das Schauspiel interessiert, aber auch leicht verwirrt. Da kamen Mum und Mattes wieder. „Was geht denn hier vor sich?“, fragte Mum. Ich erklärte ihr, was ich gesehen hatte. „Und da machen die hier so ein Theater?“, entgegnete sie. Doch wenigstens Mattes verstand die Aufregung. „Oh nein, lass das bloß nicht eine von diesen Bombentaschen sein, das liest man doch ständig, dass sowas auf Flughäfen, Bahnhöfen oder anderen Orten gefunden wird, an denen sich viele Leute aufhalten.“ Nun doch neugieriger und etwas verängstigt sahen wir zu dem schwarzen Koffer. Mittlerweile hatten die Sicherheitsbeamten ringsherum um das Gepäckstück ein Absperrband aufgestellt, damit ihm ja keiner zu nahekam. Irgendwann rief einer von ihnen mit einem Megaphon: „Sehr geehrte Fluggäste. Aufgrund von Risiken, die wir nicht einschätzen können, müssen wir Sie leider bitten, den Flughafen umgehend zu räumen. Alle Flüge sind bis auf Weiteres gestrichen.“
Alle Gäste tobten, einschließlich uns. „Das darf doch nicht wahr sein“, „Nun öffnen Sie den verdammten Koffer“, „Das Geld sehe ich doch nie mehr wieder“, kam aus allen Richtungen. Die Sicherheitsbeamten machten uns und allen Anderen aber schnell klar, dass wir gehen mussten. Also packten wir zusammen, weckten Timmi – bei all dem Krach hatte er immer noch friedlich geschlafen- und zogen von dannen, deutlich geknickt. Ich nahm Timmi an die Hand, damit er in dem Gewusel nicht unterging. Plötzlich riss er sich los, er muss etwas Spannendes wie einen Vogel gesehen haben. In der Menschenmenge konnte ich ihn so schnell nicht wieder ausfindig machen. Ich rief Mum zu, dass sie warten sollte und Timmi weg sei. In einer Lücke zwischen zwei Menschen konnte ich ihn sehen. Ich traute meinen Augen kaum, da rannte er schnurstracks auf den Koffer zu, huschte an den Sicherheitsmännern vorbei und zog geschickt am Reißverschluss des schwarzen Koffers. Als der Deckel umklappte, sah man nun den Inhalt. Es war tonnenwiese Spielzeug zu sehen. Ein Puppenhaus, Spielzeugautos, eine Eisenbahn und viele Kuscheltiere. Einer der Sicherheitsbeamten zog ihn weg und Timmi fing fürchterlich an zu weinen. Endlich waren wir durch das Gewusel bei ihm angekommen. Der Beamte schrie: „Ist das etwa Ihr Junge? Der Kleine hätte uns alle töten können, das war grob fahrlässig, haben Sie mal ein Auge auf den Knaben!“ Das ließ meine Mutter nicht auf sich sitzen: „Na hören Sie mal, es ist ein Kind. Die laufen nun mal schnell weg und bei der Menschenmenge kommt man so schnell auch nicht hinterher. Soll ich ihn etwa an die Leine nehmen wie einen Hund? Es ist doch nichts passiert.“ Da kam plötzlich ein älterer Mann auf uns zu, Panik stand ihm in sein Gesicht geschrieben. „Was um alles in der Welt ist denn hier los? Was haben Sie mit meinem Koffer gemacht?“ Es stellte sich heraus, dass der Kofferbesitzer auf Toilette gegangen war und den Koffer hatte stehen lassen. Da er nicht mehr allzu gut zu Fuß war, hatte es eben etwas länger gedauert. Er redete auf den Sicherheitsbeamten ein: „Hören Sie, ich verstehe ja, dass momentan etwas ängstlicher mit sowas umgegangen wird, aber ich habe wirklich nichts Böses im Sinn gehabt. Bitte verzeihen Sie mir, ich wollte doch nur meine Enkelkinder besuchen und ihnen Geschenke mitbringen.“ Währenddessen hatte Mum auch mit Timmi ein ernstes Wort geredet. Dass er nicht einfach fremdes Gepäck öffnen darf, dass er um Himmels Willen nie wieder davonlaufen darf und nicht unter ein Absperrband klettern darf. Der Kleine sah ziemlich betrübt aus. Da kam der ältere Mann auf ihn zu und überreichte ihm einen Teddybären aus dem Koffer.
Das Ende vom Lied: Viel Aufregung um nichts, der Flug konnte doch noch starten, Timmi war glücklich über den Bären und der Flug kam mir nach der ganzen Sache gar nicht mehr so aufregend vor. Und was gelernt habe ich daraus auch. Natürlich sollte man bei Unbekanntem Vorsicht genießen, aber nicht sofort im Panik ausbrechen, sondern dem Ganzen ein bisschen Zeit geben, dann klärt sich manchmal Vieles schneller auf und raubt dir weniger Nerven.