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Der Koch, die Kellnerin, Pepe und das Boot
Während Vincent an seinem gewohnten Tisch vor der Hafenkneipe saß und ein Bier trank, dachte er darüber nach, warum der Kater nur jeden zweiten Tag beim Boot vorbeischaute. Manchmal kam Charlie morgens, manchmal tagsüber, manchmal abends. Aber nur alle zwei Tage, nie öfter, nie seltener. Am Tag, als Vincent angelegt hatte, war Charlie an Deck der Luna gesprungen und hatte ein paar Runden gedreht, neugierig wie Katzen nun mal sind. Dann war er am dritten Tag gekommen, am fünften, am siebten, und so weiter, die ganzen zwei Wochen hindurch, verlässlich wie ein Uhrwerk. Was trieb er in der Zwischenzeit? Gestern hatte sich der Kater erstmals von Vincent berühren lassen, zögerlich nur und ganz kurz. Dann hatte er sich das Fischstück aus seiner Hand geschnappt und war wieder verschwunden.
Über das verwaiste Möwenjunge Pepe, das der Koch hier in der Kneipe großzog, dachte Vincent auch nach. Würde das jemals fliegen lernen? Warum sollte es, überlegte er sich. Hier bekam Pepe doch alles, was er brauchte. Luca hatte ihm in einer Pappschachtel ein Nest bereitet, fütterte ihn mit Haferbrei und Fischsuppe und quatschte den lieben langen Tag zu ihm, als wäre der Vogel ein Menschenkind. Das war doch weit mehr, als den meisten Lebewesen auf dieser gnadenlosen Welt vergönnt war. Wusste Pepe überhaupt, dass er fliegen könnte, wenn er nur wollte? Dachte Pepe darüber nach, wie groß der Himmel war und wie endlos der sich erstreckte?
Beinahe unmerklich hatte es zu regnen begonnen. Ganz sanft nur, eher zu erahnen, als zu hören, nicht mehr als ein leises Rascheln auf der Markise. Aber die Gerüche veränderten sich. Der Staub der Straße und die Erde in den Blumentöpfen, die dürren Grasbüschel zwischen den Steinplatten der Mole und die blühenden Robinien hinter ihm, alles schien jetzt einen intensiveren Duft zu verströmen.
Vincent schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, in einer warmen Sommernacht vor einer sizilianischen Hafenkneipe zu sitzen, am Meer. Das Meer zu riechen und unzählige Frösche von der nahen Flussmündung her lärmen zu hören. Er versuchte sich vorzustellen, wie vom Gezirpe der Zikaden die Luft zu vibrieren schien und hin und wieder ein fremdartiger Vogelruf ertönte. Dass Vögel auch in der Nacht singen, war ihm früher nie aufgefallen, aber möglicherweise, dachte er, musste man erst ein gewisses Alter erreicht haben, um solche Dinge wahrzunehmen.
Die Vorstellung, momentan nicht einen Traum, sondern sein wirkliches Leben zu erleben, gefiel ihm. Und ihm gefiel auch der Mond, der über dem Hafenbecken hing und sich durch die wenigen Wolken nicht beirren ließ, auch nicht durch das Getöse der Frösche und Zikaden, das in Wahrheit ja ohnehin kein Getöse, sondern vielmehr so etwas wie ein leises, äonenaltes Raunen war. Wie das Echo aus einem längst vergangenen Zeitalter dieser seltsamen Erdenwelt. Uralt und unergründlich. Vincent nahm das Notizbuch aus der Tasche und versuchte, seine Gedanken aufzuschreiben, bevor er sie vergaß.
Franca brachte ihm noch ein Bier und bat ihn, die leere Flasche und den Aschenbecher aufs Fensterbrett zu stellen, wenn er dann ginge, er sei der letzte Gast. Sie sei spät dran, sie müsse zusperren und sehen, dass sie nach Hause käme. Aber dann blieb sie noch ein Weilchen an seinem Tisch stehen und fragte ihn, was er schriebe.
Vincent sagte ihr, er schriebe ein Gedicht und grinste sie an, so verschlagen, wie es ihm nur möglich war, so dreckig, wie er sich vorstellte, dass Hemingway gegrinst hätte, wäre der in einer warmen Sommernacht in einer sizilianischen Bar gesessen und eine Kellnerin hätte ihn gefragt, was er schriebe. Franca war eine ungemein schöne Kellnerin obendrein. Mit schwarzem Haar, heller Haut und verklärtem, melancholischem Blick. Als wäre sie einem Gemälde Rossettis entstiegen.
„Bist du etwa ein Dichter?“, fragte sie ihn.
„Nein, nein“, sagte er, „nur ein ganz gewöhnlicher Mann.”
Sie lachte. Vincent fragte sie, ob sie ein Glas Wein mit ihm trinken wolle.
„Ja, gerne. Ein kleines. Mein Mann wird mir schon nicht davonlaufen.“ Sie holte Wein und zwei Gläser, nahm die Schürze ab und setzte sich zu ihm. Bat ihn um eine Zigarette.
Sein Italienisch war mehr schlecht als recht. Aber das machte nichts. Er erzählte ihr vom Boot und von dem kaputten Segel und von seiner Heimatstadt und von seinem älteren Sohn und von seinem jüngeren Sohn, und dass die Luna sozusagen sein drittes Kind sei, seine Tochter - la mia barca, mia figlia - und immer wieder brachte er sie zum Lachen und er hatte keine Ahnung, ob sie auch nur die Hälfte von dem verstand, was er da quatschte.
„Und ist deine Frau eifersüchtig auf das Boot?“, fragte sie ihn. - E tua moglie è geloso della barca? - Das verstand selbst er. Er liebte diese Sprache.
„Ist die Sonne eifersüchtig auf den Mond?“, fragte er zurück.
Und wieder lachte sie. „Du bist ja doch ein Dichter, ich hab’s gewusst.“
Dann rauchten sie schweigend, schauten hinaus aufs Meer oder hinauf zum Mond oder lächelten sich an.
Ein paar spätheimkehrende Möwen landeten auf der Kaimauer und es kam zu einem kleinen Tumult, als sie sich zwischen die schon schlafenden Vögel drängten, kurz war halbherziges Flügelschlagen und schlaftrunkenes Gekreische zu hören. Dann kehrte wieder Ruhe ein.
„Wie geht’s dem kleinen Pepe?“, fragte Vincent.
„Pepe ist weg.“
„Was ist passiert?“
„Keine Ahnung. Der arme Luca ist völlig fertig.“
„Verdammt. Aber ... na ja, Franca, Pepe war nur ein Vogel. Was hat Luca denn gedacht? Dass er ihm Kunststücke beibringen kann oder gar das Sprechen?“
Er sei herzlos, sagte sie. - Siete senza cuore, Vincenzo. - Es klang, als sänge sie ein Lied.
„In Wahrheit bist du Sängerin, stimmt‘s?“, fragte er.
„Nein, nein, nur eine ganz gewöhnliche Frau.“
Wieder lachte sie, streckte den Arm über den Tisch und strich Vincent die Haare aus dem Gesicht.
„Lass mich doch deine Augen sehen“, sagte sie.
„Nur wenn du mir dafür eine Geschichte erzählst.“
Sie verdrehte theatralisch die Augen. Dann blickte sie in den Himmel.
„Als ich ein kleines Mädchen war, hat mir mein Bruder einmal eine Krabbe vom Strand mitgebracht. Ich habe ihr ein paar Vogelfedern auf den Panzer geklebt und einen Bindfaden drangebunden und sie dann durch die Luft gewirbelt. Ich habe geglaubt, dass sie so das Fliegen lernt. Damit sie den Möwen entkommen kann und nicht gefressen wird. Na ja, ich war damals höchstens fünf oder sechs.“
„Eines natürlichen Todes ist das arme Kerlchen vermutlich nicht gestorben, was?“
„Nein. Irgendwann ist der Bindfaden gerissen.“
Sie nahm einen Schluck Wein.
„Hast du gewusst, Vincenzo, dass es das Sternbild Krabbe gibt?“
„Du meinst den Krebs?“
„Nein, die Krabbe. Ist am Südhimmel, glaub ich. Ach, ich weiß es nicht. Aber immer wenn ich in den Sternenhimmel schaue, muss ich an die arme Krabbe denken.“
Vincent schenkte Wein nach. Wie lange er noch bliebe, fragte sie ihn und er antwortete, dass er es nicht wisse, weil er noch immer auf das neue Segel wartete. Dann schwiegen sie.
„Mein Mann betrügt mich“, sagte Franca unvermittelt und blickte dabei zu Boden. „Erzählt mir was von Nachtschichten in der Werft, der Dreckskerl. In Wahrheit hat er eine Geliebte. Schon seit zwei Jahren.“
Sie hatte einen Schuh abgestreift und ließ ihn gedankenverloren von den Zehen baumeln. Vincent betrachtete ihren nackten Fuß, die zierliche Fessel, die schlanke Wade. Dann sah er wieder hinaus aufs Meer.
„Vermutlich bist du ihm zu schön. Vermutlich ahnt er, dass er dich nicht verdient hat.“
„Ich habe ihn wirklich geliebt.“
„Dinge gehen kaputt, Franca … Dinge gehen kaputt, die Liebe geht zu Ende, Menschen sterben und Küken werden flügge.“
„Ich weiß. Aber weh tut’s trotzdem.“
„Ich weiß.“ Er berührte ihre Hand und sie ergriff seine Finger.
„Pepe wird wohl davongeflogen sein“, sagte sie ganz leise. „Ich wünsche es mir so sehr. Am weitesten sieht, wer am höchsten fliegt. Das ist ein Sprichwort hier bei uns.“ Eine Träne lief über ihre Wange.
„Willst du mit aufs Boot kommen, Franca?“
Sie blickte aufs Meer und schwieg. Minutenlang.
„Nein“, sagte sie schließlich und lächelte ihn an. „Aber ich find’s schön, dass du mich gefragt hast.“
„Ich gehe nach Hause“, sagte sie dann, stand auf und strich mit einem Finger über seine Wange. „Ciao, Vincenzo. Pass auf dich auf.“
„Ciao, Franca, bis morgen “, sagte er.
Sie ging.
Er blieb sitzen, schaute hinüber zur Luna und dachte daran, dass er morgen das Segel bekäme und spätestens zu Mittag auslaufen würde.
Er fragte sich, ob er nicht versuchen sollte, ein Gedicht zu schreiben. Über ein verwaistes Möwenkind, das nicht lernen wollte, zu fliegen. Oder über einen Mann, der einen Blick hinter den Horizont zu erhaschen versucht.
Dann entdeckte er Charlie. Der Kater stolzierte über den Platz, kam auf ihn zu, strich um seine Beine und sprang ihm schließlich auf den Schoß.
Charlie schnurrte.