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Der Kobold
Der Kobold
Neulich, da saß vor meiner Tür ein Kobold. Durch das Küchenfenster erspähte ich ihn, wie er auf dem Gartenzaun saß und seine kurzen Beinchen hin und her baumeln ließ. Verträumt wirkte er, als wollte er nicht gestört werden und doch blieb mir nichts anderes übrig als vor die Tür zu treten und ihn mir genauer anzusehen. So öffnete ich die Tür und trat heraus, sog die frische Morgenluft dieses wunderbaren Tages ein und setzte mich still auf die Veranda, die Augen auf die kleine Gestalt nicht weit von mir gegenüber gerichtet und sah ihm schweigend zu.
Weniger überrascht über die Tatsache seiner Existenz, die mich nicht im Geringsten schockierte, war ich mehr fasziniert von seiner fast surrealen Erscheinung hier in meinem Vorgarten. Natürlich kenne ich die unzähligen Geschichten über Kobolde: kleine, in Grün gekleidete Männchen, die am Ende eines Regenbogens einen Topf Gold bewachen, oder Wichtel, die im Wald unter Pilzen hausen und, immer freundlich, Verirrten den Weg zeigen. Nun ja, klein war diese Gestalt auf meinem Gartenzaun fürwahr, aber das war schon alles, was an den sprichwörtlichen Kobold erinnerte, denn er war weder in Grün gekleidet, noch sah er auch nur in geringster Weise einem Wichtelmännchen ähnlich. Dieses Wesen vor meinen Augen war niedlich klein, kaum größer als ein Zweijähriger, seine langen, hageren Arme hingen bis hinunter zu seine Füßen und endeten in vergleichsweise großen, mit langen Krallen besetzten Händen, die mehr den Klauen einer Echse ähnelten. Die gräulich, braune, lederartige Haut schimmerte nur matt im Sonnenlicht und war mit allerlei Narben und Wunden entstellt, was seine ohnehin schon groteske Erscheinung allerdings weniger beeinflusste. Die einzigen Kleidungsstücke, die er trug, waren ein roter Lendenschurz mit einem dunkelbraunen Ledergürtel und eine schwarze Baskenmütze, die er tief in sein Gesicht gezogen hatte, so dass man nur seinen großen, formlosen Mund sehen konnte. Dieser öffnete sich ab und zu einen kleinen Spalt und mit einer großen, weinroten Zunge leckte er sich die Lippen, wobei unzählige kleine, aber beachtlich spitze Zähne hervorblitzten.
Es war bestimmt schon eine Stunde her seit ich mich auf die Veranda gesetzt hatte, die einzigen Bewegungen des Kobolds waren seine baumelnden Beine, sein Mund und sein Brustkorb, der sich hob und senkte, als er plötzlich seinen Arm hob und langsam seine Mütze abnahm. Unter der Mütze kam ein orangener Haarschopf hervor und seine langen, spitzen Ohren richteten sich, nun nicht mehr vom Gewicht der Mütze niedergedrückt, gerade auf, was seine Größe beachtlich veränderte und ihn durchaus gefährlich wirken ließ. Dann fiel sein Blick auf mich. Unfähig mich zu bewegen oder etwas zu sagen, konnte ich seinen Blick nur erwidern und mich von diesen abscheulichen gelben Augen durchbohren lassen. Je länger er mich unbewegt anstarrte umso unerträglicher schien es mir seinen Blick zu erwidern und mit jeder fortschreitenden Minute schweigenden Abwartens wuchs eine verzehrende Angst vor dieser fremdartigen Kreatur in meiner Brust.
Die Sonne stand bereits tief am Horizont, tauchte unseren Vorgarten in ein leuchtendes Orange, ähnlich dem Haarschopf des Kobolds, der wie ein grässlicher Wasserspeier auf unserem Gartenzaun hockte, als ich mich selbst aus meiner Lethargie riss und ihn mit zitternder Stimme fragte: „Wer bist du?“.
Er antwortete nicht, ich hatte es nicht anders erwartet, sondern leckte sich abermals die breiten Lippen, während er mich eindringlich anstarrte.
„Was willst du von mir?“
„Antworte mir!“
„Wo ist meine Familie?“
Keine Menschenseele war seit unserem Zusammentreffen heute Mittag vorbeigekommen.
Meine Mutter, meine Schwester, sie sollten schon lange hier sein, irgendjemand hätte längst diese Strasse entlangfahren müssen. Es kam mir vor als stünde, ausgenommen für die Sonne, die unbeschwert ihren Weg gegangen war, die Zeit still. Ich war gefangen in einem Zwielicht mit dieser rätselhaften Gestalt, die keine Anzeichen irgendeiner Reaktion zeigte. Das Abwarten wurde mir unerträglich und meine Angst schlug allmählich in Zorn um. Der Kobold schien mir nun keineswegs mehr bedrohlich oder gar gefährlich und ich stand von der Veranda auf, schöpfte neue Kraft aus meiner plötzlichen Wut und sagte: „Ich weiß nicht ob du mich verstehen kannst, aber ich sage dir, du verschwindest nun besser aus meinem Vorgarten. Ich habe genug von diesem Spiel. Verschwinde und lass dich zu deinem eigenen Wohl nie wieder hier blicken!“.
Keine Antwort. Der durchdringende Ausdruck in seinen Augen hatte sich nicht verändert, sein unergründlicher Blick ruhte weiterhin auf mir. Er hatte mich anscheinend nicht verstanden. Ich tat einen Schritt auf ihn zu.
„Ich fordere dich ein weiteres Mal: Verschwinde!“ Zwei weitere Schritte trat ich ihm näher und ich bemerkte ein unauffälliges, irritiertes Blitzen in seinen Augen. War es Angst? Rechnete er nicht mit meiner Reaktion? Wie ich mich ihm langsam näherte, hob ich im Vorbeigehen eine Gartenkralle aus dem Blumenbeet auf und das feste Gefühl des Griffs bestärkte mich nur in meiner Absicht diese jämmerliche Kreatur ein für alle Mal aus meinem Leben zu vertreiben. Je näher ich ihm kam umso mehr wurde mir seine lächerliche Körpergröße bewusst. Seine vermeintlich scharfen Krallen erschienen mir abgenutzt und unbrauchbar, die winzigen Reißzähne im Maul kaum als Waffe brauchbar, und wie ich meine Chancen in einem direkten Zweikampf abwog, schien es mir wie das Zertreten eines hilflosen Käfers, so überlegen glaubte ich mich. Keinen halben Meter von ihm entfernt blieb ich stehen und baute mich vor diesem Winzling auf, schaute verachtend auf ihn herab. Er blickte unverändert zurück. Langsam hob ich die Gartenkralle hoch über meinen Kopf, um sie auf den Schädel der Kreatur niederfallen zu lassen. Es genügte mir nun nicht mehr ihn einfach zu vertreiben, ich wollte ihn töten. Der Kobold rührte sich nach wie vor nicht, blickte mich stumm und abwartend an, zeigte keinerlei Reaktion auf die erhobene und sicherlich tödliche Gartenkralle in meiner Hand.
„Ich fordere dich nun ein drittes und letztes Mal: Versch…!“ Der Kobold sprang, schneller als meine Augen es wahrnehmen konnten, vom Pfahl des Gartenzauns ab, wirbelte über meinen Kopf und verschwand aus meinem Blickfeld. Bevor ich überhaupt begriff was soeben geschehen war durchzog ein scharfer, stechender Schmerz meinen Körper. Verwirrt drehte ich mich um, blickte wild umher um zu verstehen, was hier vor sich ging. Der Schmerz beschränkte sich nun auf meine Kopfhaut, Blut lief mir die rechte Schläfe hinunter. „Wo bist du?“, murmelte ich benommen. Mir wurde schwindelig. Ich konnte nicht einschätzen, wie schwer ich verletzt war, aber ich spürte, wie das Blut unaufhörlich lief, an meinem Ohr hinab und auf mein T-Shirt tropfte. Ein gelbes Funkeln stach mir plötzlich ins Auge und ich erspähte den verfluchten Kobold auf unserem Apfelbaum. Da hockte er auf einem dicken Ast, starrte mich unverwand an, und das Licht der tief stehenden Sonne wurde in seinen giftig gelben Augen reflektiert und funkelte höhnend in meine Richtung. In seiner rechten Klaue hielt er ein Büschel blutgetränkter, brauner Haare fest umklammert. Ich sank auf die Knie. Das Schwindelgefühl ließ langsam nach, aber eine ungeahnte Schwäche durchfuhr meinen Körper. Ich brauchte einen Moment Ruhe, musste mich sammeln, neue Kraft schöpfen um dieses Biest zu töten. Die Gartenkralle hielt ich immer noch fest umklammert und gierte danach, sie im Schädel dieser abscheulichen Kreatur zu versenken. Langsam rappelte ich mich auf, kam wieder auf die Beine und blickte dem Kobold entschlossen entgegen. „Du kleiner Bastard! Ich…!“.
Das Gesicht des Kobolds zeigte plötzlich eine Regung. Seinen Blick hatte er weiterhin starr auf mich gerichtet, doch wie ich ihm drohte verzog er seinen breiten Mund zu einem bösartigen Grinsen. Immer weiter hoch zog er seine Mundwinkel, immer breiter wurde sein Grinsen und verwandelte sein ohnehin abstoßendes Gesicht in eine abscheuliche, eklige Fratze. Der Kobold fing an zu lachen. Es waren kehlige, krächzende Laute, gleich dem verspottenden Ruf einer Seemöwe und es war unzweifelhaft an mich adressiert. Die Kreatur lachte mich aus. Meine wieder entflammte Wut und mein Wille ihn zu töten verschwanden mit einem Mal und eine instinktive Furcht angesichts dieses wild kichernden, bösartigen Wesens raubte mir alle wieder gewonnene Kraft. Der Kobold war nicht mehr zu halten, er gackerte und schrie, spuckte, rollte wild mit den Augen, hob gar die Arme in die Luft und fing an zu tanzen auf dem Ast unseres Apfelbaums.
Da spürte ich plötzlich ein leichtes Tippen an meiner rechten Wade. Erschrocken fuhr ich zusammen und blickte an mir herab. Im feuchten Gras direkt neben meinem Bein saß ein kleiner, brauner Kobold, der mich böse anstarrte, und bevor ich irgendetwas begreifen konnte, sprang mir etwas von der anderen Seite an meine Schulter, krabbelte meinen Rücken hinunter. Es war ein weiterer Kobold. Ich schrie panisch auf, zunächst vor Schreck, dann vor Schmerz als der dritte Kobold seine messerscharfen Krallen in meine Rücken versenkte, kratze und biss. Blitzschnell sprang der zweite Kobold an meinen rechten Arm, riss mich dabei zu Boden und verbiss sich daraufhin in meiner Hand, kaute und malträtierte meine Finger zu blutigen Stümpfen. Der Schmerz und der Schock betäubten mich und ich blickte konfus und halb ohnmächtig hinauf zu dem Kobold im Baum. Er hatte aufgehört zu lachen, starrte mich wieder nur böse an, als er plötzlich vom Ast absprang. Ich nahm nun alles wie in Zeitlupe wahr. Der Kobold flog durch die Luft auf mich zu, kam mir immer näher. Die Sonne war mittlerweile untergegangen und eine kriechende Finsternis legte sich über den Vorgarten. Ich blickte dem Kobold noch einmal in die Augen, die nunmehr ohne das reflektierende Sonnenlicht nicht mehr gelb funkelten sondern in einem düsteren Blutrot glimmten, bevor er mir ins Gesicht sprang, die Arme um meinen Kopf, die Beine um meinen Hals gewickelt.
Hier liege ich immer noch, gefangen im Zwielicht, gequält und gefoltert von diesen rätselhaften Wesen und ich glaube an diesem Ort gibt es keine Erlösung durch den Tod. Der Tod existiert nicht am Ende des Regenbogens.