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Der Knoten
„Mmm.“
Sie gibt der riesigen Dogge einen langen innigen Kuss.
„WUFF!“
„Tschüß Arnold“, sagt sie und knuddelt den braunen kalbartigen Hund ein letztes Mal, bevor sie sich auf den Weg macht.
Sie greift in ihre rechte Hosentasche fördert daraus ein Taschentuch zu Tage, in welches jemand einen Knoten gemacht hat.
„An was sollte mich dieser Knoten noch mal erinnern?“, fragt sie sich.
Die Tür? Hab ich zugeschlossen. Sicher? Ganz sicher. Arnold ... Warum gehe ich plötzlich so langsam? Keine Zeit zum Bummeln. Hat sich gefreut über sein Fresschen. ... Blöde Tasche drückt. Barbi Haare waschen? Nein, war's auch nicht. Hm, Vati? Wollten Fußball. Aber heute ist Donnerstag. Fanbrief an Herrn Calmund. Sieht aus wie Opi. ... Cindy! Streber. Nicht hersehen. Weitergehen. Puh, Glück gehabt. Knoten. Was war mit dem Knoten? Arnold knudd? Gemacht. ... Oh, Justin! Hallo Justin, guck her, guck her! Hier bin ich! Schneller laufen. Kann ihm noch den Weg absch ... Mist, diese Cindy.
Sie biegt in die Straße ein, welche genau bis zur Schule führt. Noch immer hält sie das Taschentuch mit dem Knoten in der Hand.
„Guten Morgen, Lena!“
Neiiin!, denkt sie und schaut auf das Taschentuch mit dem Knoten und kennt plötzlich seine Bedeutung. Langsam dreht sie sich um, schaut nach oben und grüßt zurück:
„Guten Morgen, Frau Schmidt!“
Lena lässt sich allmählich zurückfallen, damit Frau Schmidt sie überholen kann. Die Lehrerin ist an ihr vorbei und Lena schlägt die Hände vor das Gesicht.
Verdammt, verdammt, denkt sie. Wie konnte ich dieses blöde Gedicht vergessen? Nein, und die Schmidten sagte gestern noch: „Auf dein Gedicht bin ich besonders gespannt.“ Mist, ich kann mir nicht noch einen Sechser leisten. Mama wird ausflippen.
Frau Schmidt hat längst das Schulgebäude erreicht, aber Lenas Schritte widerstreben diesem Ziel.
Bis zur sechsten Stunde ist noch Zeit, denkt sie. Mir muss unbedingt noch was einfallen. Was wohl die anderen haben?
Sie steckt das Taschentuch wieder in die rechte Hosentasche und der Tag verstreicht Minute für Minute und Stunde für Stunde. Die sechste Stunde ist erreicht. Es hat bereits geklingelt, aber Frau Schmidt ist noch nicht in der Klasse. In Gedanken malt sich Lena aus, was der Lehrerin alles geschehen sein könnte.
Vielleicht krank geworden? Auf der Treppe ein Bein gebrochen? Vom Mann verlassen? Ärger mit den Kindern? Hamster gestorben? Das, das wäre ... meine Rettung!
Sie hält das Taschentuch in den Händen. Die Hände wie zum Gebet gefaltet, murmelt sie:
„Hoffentlich ist der Schmidt was passiert. Aber nichts Schlimmes, denn eigentlich kann ich sie doch ziemlich gut leiden.“
Doch dann öffnet sich die Tür und Frau Schmidt tritt in das Klassenzimmer.
„Mist!“
„Hallo Kinder, entschuldigt bitte mein Zu-spät-Kommen. Ich bin auf eure selbstgeschriebenen Gedichte sehr gespannt“, sagt sie lächelnd und öffnet das Klassenbuch.
Fang oben an. Fang oben an, bangt Lena.
„Da fangen wir am besten ganz oben an. Justin Anders, bitte komm nach vorn.“
Puh, Glück gehabt. Bin die Letzte. Zehn Minuten sind weg. Da komm ich heute bestimmt nicht mehr dran. Lasst euch alle nur recht viel Zeit ... ach Justin.
Noch immer hält sie die Hände gefaltet und presst die Daumen ganz fest auf das Taschentuch. Die Zeit ist auf ihrer Seite.
„Nur noch fünf Minuten und noch acht vor mir.“
„Cindy Meißner, du bist die nächste.“
Cindy geht nach vorn und stellt sich neben den Lehrertisch.
„Nun, wie heißt dein Gedicht?“
„Ich habe ein Gedicht über meine Katze geschrieben. Es heißt ‘Meine Katze’ von Cindy Meißner: Meine Katze, die heißt Leopold / Mein Vati hat sie nicht ... .“
Pah, Katzen ...
Lena ist schon bald in Gedanken auf dem Heimweg.
„Lena Zellenstein.“
„Was?“
„Dein Gedicht, bitte.“
„A... a... aber ich bin doch noch gar nicht dran.“
„Lena, ich habe dir gestern noch einmal gesagt, ich möchte heute von dir ein Gedicht hören. Und?“
„D d das hat mein Hund gefressen.“
Nein, das hat mein Hund gefressen, denkt sie, das ist das blödeste was ich sagen konnte.
Sie steht da, die Fäuste geballt. In der rechten das Taschentuch. Sie hat feuchte Hände und starrt auf ihren Platz.
„Das hat mein Hund gefressen?“, wiederholt Frau Schmidt. „Ist das der Titel deines Gedichtes?“
„Nein, äh ja.“
Dann schweigt Lena.
„Was ist nun mit dem Gedicht? Oder hast du wieder einmal vergessen deine Hausaufgaben zu machen?“
Lena starrt auf ihren Platz. Sie zerknüllt das Taschentuch mit der rechten Hand. Ein Zipfel des Taschentuches ragt allerdings noch aus ihrer kleinen Faust heraus. Er scheint auf Lena zu zeigen und ebenfalls auf eine Antwort zu warten. Die Gedanken schießen ihr wild durch den Kopf.
Das Taschentu ... nein, Gedicht vergessen ... riesiger Toffel ... muss Hausaufga ... nein, Arnold ... das Gedich ... lass es los ... mei ... jetzt nicht mit dir spie ... mein Taschentuch ... Frau Schmidt wird ... nein, du hast es kaputt ... Mama, hab wieder nich ... böser Hund ... was ist mit dem Kno ... will jetzt nicht spielen ... nein, kein Gedicht.
„Der Hund hat es gefressen“, sagt sie erneut.
„Ich hab die Hausaufgabe nicht vergessen. / Nein, der Hund hat sie gefressen. / Äh ... ich ... ich hatte extra einen Knoten im Taschentuch, / aber es ist wie ein Fluch. / Wieso ... also wieso, das weiß ich nicht, / doch Arnold hat das Gedicht / äh, einfach vernicht'. / Der ... die Hausaufgabe hab ich nicht vergessen. / Nein, der Arnold, ich meine mein Hund, äh, hat sie einfach aufgefressen. / Bekommen ist sie ihm wirklich gut, / denn ... denn er hat danach sehr gut geruht.“
„Gut Lena, ich hätte gern, dass auch du deine Verse abgibst.“
„Was? Das äh, geht leider nicht.“
„Was soll das wieder heißen?“
„Naja, ich sagte doch: Der Hund hat den Zettel gefressen.“