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Der Kletterer
Beherzt packte er das Seil mit seinen Händen, stemmte sich mit beiden Füßen gegen die aufragende Felswand und begann zu klettern. Nun musste er weiter, denn die Geschöpfe direkt unter ihm, die ihn eben noch mit Gleichmut betrachtet hatten, schlugen jetzt wild nach ihm, suchten, ihn zu zerreißen.
Also weiter! Zunächst ging es spielend leicht voran, die Steigung war beinah lächerlich, fast fürchtete er schon, die hinter ihm könnten ihm folgen. Doch dem war nicht so, nicht ein Stückweit kamen sie ihm nach. Ein Blick über die Schulter auf die Bestien genügte jedoch, ihn immer weiter zu treiben – nicht dass sie ihn mit ihren Klauen doch noch erreichten und zu sich hernieder rissen.
Und wie er so kletterte und immer weiter kletterte, immer höher, wie die Wand stets steiler wurde und er sich zunehmend sicher fühlte, vor dem Zugriff der geifernden Kreaturen, da fand er mehr und mehr gefallen, an dieser Kletterpartie. Erhebend war all das, im wörtlichen Sinne, wie auch im übertragenen!
Als er da anlangte, wo die ersten Wolken gegen den grauen Fels trieben, begann bereits die Erschöpfung an ihm zu nagen und er beschloss, zunächst zu rasten. Sorgsam besah er sich die Wand und entdeckte daran mannigfaltige Schriftzeichen. Andere vor ihm mussten hier gewesen sein. Sodann pflückte er einige Beeren von dem Strauch, der hier aus dem Gestein trieb und aß sie. Sein Hunger indes war noch nicht gestillt und so sah er sich um. Weit in der Höhe erst konnte er weitere Pflanzen erkennen, doch waren diese wahrlich prachtvoll: Groß und rund leuchteten und lachten an ihnen die Früchte.
Also weiter. Hoch war er schon und seine Hände fühlten sich schwielig an, als er die Äste der geschauten Pflanzen erreichte. Von seinem Seil schwang er sich auf einen solchen, pflückte eine der Früchte und biss mit Wonne in das süße Obst. So konnte man es sich gefallen lassen! Warum sollte er nicht hier bleiben? Schön war es hier und war er nicht schon hoch genug gestiegen? Er kam mit sich überein, es hier auszuhalten.
Wiederum entdeckte er an der Wand Schriftzeichen, diesmal jedoch andrer Art. Kein Zweifel: Auch hier hatte einer sich verewigt. Aus einer Laune setzte er sein eigenes Zeichen hinzu.
Wieder ließ er die Blicke schweifen. Unten konnte er die Bestien kaum noch erkennen, durch die weiße Wolkenpracht. Allein ihre Schemen jedoch genügten, ihn in arge Ängste zu versetzen, fast mehr noch als damals zu Beginn. Auch spürte er, einen kalten Wind ihn streifen. So sah er ein: Er musste weiter hoch.
Höher und höher ging es, schwieriger wurde es immer zu, doch fand er stets Früchte sich zu nähren und machte hier und da sein Zeichen. „Wer“, fragte er sich auch alsbald, „will schon bis hierher steigen, aber nicht das Ende sehen?“
Die reißenden Geschöpfe ganz unten konnte er bald nicht einmal mehr sehen und wenn es ihn auch an seine Grenzen trieb: Er kletterte, bis seine Zeichen einzig noch, die nackte Wand verzierten.
Wieder, ein letztes Mal noch, erreichte er ein Baumgeflecht, mit Früchten reich bewachsen, größer als alle noch bisher. Den höchsten Garten hatte er nun gewonnen. Direkt über seinem Haupt nahm ein grell weißer Nebelschleier jede weitre Sicht hinauf. Er konnte es nun zufrieden sein, ja doch.
Aber wieder fragte er sich selbst und ihm wurde selbst schwindelig dabei: „Wer will schon bis hierher steigen, aber nicht das Ende sehen?“
Er kletterte. Am Rande der Erschöpfung trat er in den Nebel ein. Er wusste und zog daraus Kraft, dass alles mal ein Ende hat, dass die Spitze fern nun nicht mehr war –
Da schlug ein donnerndes Getöse, ein Wolkenbruch von Stimmgewalt, ein tausendfaches Echo seiner selbst und tausend Male noch dazu, an sein erschrockenes Gehör und rief:
„Mensch.“
Da gingen seine Hände auf, er stürzte.
Als er auf den Boden schlug endete die Geschichte. Wer will über ihn richten?