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Der kleine Vogel

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25.01.2002
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Der kleine Vogel

Es war einmal ein kleiner Vogel, der lebte in einem Wald zusammen mit vielen anderen Tieren. Alle Vögel bauten sich ein Nest, um darin mit ihren Familien zu wohnen. Doch die Nester fielen bei Sturm und starken Regenschauern oftmals von den Bäumen.

Als der kleine Vogel dieses sah, beschloss er, nicht in ein Nest zu ziehen, sondern sich einen Käfig zu bauen. Dafür verließ er sogar den Wald und suchte auf einem nahe gelegenen Schrottplatz nach Teilen, die er hierfür verwenden könnte. Später wagte er sich sogar bis in die Stadt hinein, um seinen Käfig noch schöner gestalten zu können. So wurde dieser im laufe der Zeit immer größer und bekam sogar goldene Stäbe, die Tür wurde mit Edelsteinen besetzt und der Wassernapf in einen Diamant eingefasst. Und alle Tiere des Waldes beneideten den kleinen Vogel um seinen wunderschönen Käfig.

Der kleine Vogel freute sich sehr, dass er einen solch herrlichen Käfig sein eigen nennen konnte. Und da er sich dort sehr wohl fühlte, verließ er diesen schließlich nur noch, wenn er auf Futtersuche ging.

Eines Tages jedoch flog der kleine Vogel aus dem Wald heraus und kam in einen wunderschönen Garten, in dem viele Blumen in prächtigen Farben blühten. Hier ließ er sich nieder.

Plötzlich hörte er ein Zwitschern hinter sich, und als er sich umsah, erblickte er eine Meisendame. „Hallo“, sagte der kleine Vogel, „kommst du öfter hierher?“ – „Ja“, sagte die Meisendame, „aber ich kenne noch viele andere schöne Plätze hier in der Nähe“. - „Oh toll“; sagte der kleine Vogel, „dann lasst uns doch zusammen die Gegend erkunden.“

Und so trafen sich der kleine Vogel und die Meisendame jeden Tag in dem Garten und spielten dort und flogen zusammen über Wiesen und Täler, und des abends kehrte er in seinen goldenen Käfig zurück.

Da der kleine Vogel nun aber nicht mehr den ganzen Tag nur in seinem Käfig verbrachte, sondern viel umherflog, lernte er auch fröhliche Lieder zu zwitschern, und ward so ein lustiger Geselle, so dass die anderen Vögel ihn nicht nur wegen seines schönen Käfigs beneideten, sondern auch wegen seines Gesanges bewunderten.

Als der kleine Vogel eines Tages wieder in den Garten flog, war die Meisendame nicht zu sehen und zu hören. Er suchte sie überall, doch nirgends konnte er sie finden. So ging das auch die nächsten Tage. - Er wurde nun immer trauriger und verließ seinen Käfig schließlich nur noch, wenn er Hunger hatte und im Wald Beeren suchen musste.

Während alle anderen Vögel vergnügt und fröhlich zwitscherten, piepste der kleine Vogel immer leiser, denn er fühlte sich in seinem schönen goldenen Käfig sehr einsam. Auch konnte er sich über den Käfig, um den ihn alle anderen Vögel beneideten, gar nicht mehr so recht freuen, obwohl dieser zwischenzeitlich in immer schönerem Glanz erstrahlte. Vor lauter Traurigkeit wurden seine Flügel immer lahmer, so dass er bald gar nicht mehr richtig fliegen konnte, sondern nur noch ungelenk durch den Wald tappelte.

Eines Tages erblickte der kleine Vogel durch die Gitterstäbe seines Käfigs einen jungen Zaunkönig, der etwas unbeholfen in einer Hecke umherhüpfte. Der junge Zaunkönig versuchte, auf einen nahestehenden Baum zu fliegen, verfehlte jedoch den Ast und purzelte auf den Boden.

Da verließ der kleine Vogel seinen Käfig und tappelte zu dem jungen Zaunkönig.
“Lasst uns gemeinsam fliegen“, sagte der kleine Vogel, „und die Welt entdecken“. – „Einverstanden“, erwiderte der junge Zaunkönig, „wir können es zusammen probieren“. Und beide versuchten, von der Hecke auf den Ast zu fliegen. Der junge Zaunkönig schlug mit einen Flügeln und landete sicher auf dem Ast.

Der kleine Vogel schwang sich von der Hecke, doch da seine Flügel durch die lange Ruhezeit noch etwas unbeweglich waren, schlingerte er unter dem Ast hindurch und plumpste auf den Waldboden.

„Hast du dir weh getan?“, fragte der junge Zaunkönig, „zeig mal deine Flügel her.“ – „Nein, es tut nicht weh“, erwiderte der kleine Vogel, „aber weil ich schon so lange nicht mehr geflogen bin, kann ich es gar mehr richtig.“ – „Dann probiere es doch einfach noch ein paar Mal, dann wirst du es wieder schnell lernen. Ich fliege jetzt aber weiter und entdecke die Welt.“

Da wurde der kleine Vogel ganz traurig, weil der Zaunkönig ihn so schnell wieder verlassen wollte. - „Lass doch nicht das Köpfchen hängen“, sagte der junge Zaunkönig zum kleinen Vogel, „irgendwann komme ich erneut hier vorbei, und dann sehen wir uns doch wieder.“ Und damit verschwand er hinter der Hecke.

Der kleine Vogel kroch zurück in seinen Käfig. Wie gerne hätte er doch zusammen mit dem jungen Zaunkönig die Welt entdeckt. Stattdessen schaute er wieder trübselig durch die Gitterstäbe und beobachtete die anderen Tiere im Wald, wie sie fröhlich miteinander spielten.

Da erblickte er plötzlich ganz am Waldesrand eine Lichtgestalt, die immer näher kam, genau auf seinen Käfig zu. Es war die gute Fee Felicitas, die nachsehen wollte, ob alle Tiere wohlauf seien. „Oh, was für ein schöner Käfig das ist. Wer mag wohl darin wohnen“, dachte die Fee und trat näher. Da entdeckte sie den kleinen Vogel, der immer noch traurig auf der Stange hockte.

„Hallo, kleiner Vogel“, sagte die Fee, „du bist bestimmt sehr glücklich, weil du einen so schönen Käfig hast.“

Da fing der kleine Vogel bitterlich an zu weinen und sagte: „Ja, ich habe einen sehr schönen Käfig, aber keiner der anderen Vögel hier im Wald mag mit mir zusammen fliegen, und nun sind meine Flügel schon so lahm geworden, dass ich sie kaum noch bewegen kann, und fröhlich zwitschern kann ich auch nicht mehr.“ - „Ich will dir helfen“, sagte die gute Fee Felicitas, „du sollst ein genauso glücklicher kleiner Vogel werden wie all die anderen Vögel, die du den ganzen Tag siehst.“

Sie nahm den kleinen Vogel aus dem Käfig und trug ihn aus dem Wald hinaus. Dabei erzählte sie ihm, dass sie vor ein paar Tagen eine Meisenfrau gerettet hatte, die sich mit ihren Beinchen in einer Drahtschlinge verfangen hatte. Sie sei schon ganz ausgehungert gewesen, aber inzwischen ginge es ihr schon wieder viel besser. Diese Meisenfrau hätte die Fee gefragt, ob sie einen kleinen Vogel kenne, der im Wald in einem goldenen Käfig lebt. Der kleine Vogel spitzte seine Öhrchen, denn jetzt wusste er, warum die Meisendame nicht mehr in den Garten gekommen war.
Schließlich gelangten Felicitas und der kleine Vogel an einen wunderschönen Park mit Bächen, Büschen und vielen .Bäumen. Und die gute Fee ging hinüber zu einem Busch. „Siehst du, kleiner Vogel“, sagte sie, „hierher habe ich die Meisenfrau gebracht und gepflegt, damit sie wieder zu Kräften kommt“. Dabei setzte sie den kleinen Vogel hinter dem Busch ab, direkt neben der Meisendame und sagte: „Hallo Meisenfrau, sieh mal, ich habe dir deinen Freund mitgebracht, den kleinen Vogel, den du ja schon vermisst hast. Weil er immer in seinem Käfig saß, weiß er aber gar nicht mehr, wie es ist zu fliegen und zu singen. Ihr werdet es aber gemeinsam schaffen“.

Die Meise freute sich sehr, als sie ihren kleinen Freund wieder erblickte, und auch in den Augen des kleinen Vogels blitzte es beim Anblick der Meisendame, denn er hatte auch immer nur an sie denken müssen.

„Komm, lasst uns um den Busch herumfliegen“, sagte die Meise zum kleinen Vogel, „seit ich mich in dem Draht verfangen hatte, bin ich auch gar nicht mehr geflogen, aber ich glaube, es geht jetzt wieder“, und dabei stupste sie den kleinen Vogel etwas an.

Der kleine Vogel blickte der Meise ganz tief in die Augen, und seine Flügel begannen sich aufzurichten, erst noch ganz zaghaft, doch dann schlugen sie immer schneller, und er erhob sich in die Lüfte.

„Oh, ist das toll“, zwitscherte die Meisendame und schwang sich vergnügt hinterher. Auch aus dem Schnabel des kleinen Vogel drang nach einem anfänglichen „piep, piep“ nun ein fröhliches Liedlein. Die gute Fee Felicitas sah den beiden Turteltäubchen mit einem zufriedenen Lächeln hinterher.

Der kleine Vogel und die Meisendame waren von nun an unzertrennlich. Im darauf folgenden Frühling heirateten sie dann. Es wurde eine prächtige Hochzeit, zu der alle Tiere des Waldes eingeladen waren, und der junge Zaunkönig, der zwischenzeitlich von seiner Weltentdeckungsreise zurückgekehrt war, wurde Trauzeuge.

Der kleine Vogel und die Meisendame bauten sich ein schönes Nest und lebten darin glücklich zusammen.

Und wenn sie nicht gestorben sind, kannst Du sie heute noch im Bürgerpark sehen.

 

Hm. Und die Moral von der Geschicht?
Ich bin etwas ratlos, was die Aussage der Story angeht. Geht in die Richtung Fabel, aber irgendwie... jede Menge bekannte Motive drin, aber irgendwie nichts greifbares.

Trotzdem ist sie schön zu lesen und gefällt mir auch ganz gut. Ist nur etwas... verwirrend.
Gruß,

chaosqueen :queen:

 

Ja Chaosqueen. Das Wort "verwirrend" ist gar nicht so verkehrt. Aber ich kann es wirklich niemandem recht machen.
Die Ursprungsfassung sah auch ganz anders aus. Dann hat man mich gebeten, das noch etwas anders zu gestalten. Kindgerchter. Schließlich sollen Märchen immer gut ausgehen. Und dann habe ich es so gemacht. Habe sogar den Kreis geschlossen. (Ursprünglich war die Meise nämlich eine treulose Seele, die ohne Tschüß zu sagen, sich aus dem Staub gemacht hat, und dann nie wieder in der Geschichte auftrat - aber das sei nichts für Kinder, sagte man mir). Und jetzt sagst du, es sei "verwirrend". Ja, wie denn nun? Was schlägst du denn ganz konkret vor, wie hättest ud die Story enden lassen?

 

Gerade bekam ich eine E-Mail von einer Internet-Bekannten, die sich zu meinem Märchen wie folgt äußerte:

Meine Tochter Sina (8 Jahre) findet, dass der kleine Vogel keinen goldenen Käfig, sondern ein ganz tolles Nest (z.B. aus goldenen Federn) hätte bauen sollen. Vögel bauen keine Käfige, sagt sie.
- Eine Fee gibt es nicht (uff, 8 Jahre und schon vorbei damit). Es hätte ein anderer Vogel helfen sollen, oder sonst irgendein anderes Tier.
- Dass es gut ausgeht, findet sie richtig.

Wie recht die kleine Sina doch hat. Es wäre schön, wenn Kinder öfter so zu Wort kommen. Dann fällt es auch leichter, „ihre“ Geschichten zu schreiben.

 

Hallo Rabi!

Zum Ersten: Eine Geschichte für Kinder ist das meiner Ansicht nach nicht - vielmehr ein Märchen für Erwachsene.

Zum Inhalt: Ich setze mal statt dem kleinen Vogel "jemand" ein.
Also jemand ist glücklich verliebt, die Betreffende kommt eines Tages nicht mehr, der Jemand kann sie nicht vergessen, zieht sich zurück, wird traurig und baut sich einen "goldenen Käfig".
Versuche, aus ihm wieder auszubrechen, scheitern, weil er schon so lange im goldenen Käfig lebt und nicht mehr gewohnt ist, sich zu vergnügen.
Bis er eines Tages durch einen glücklichen Zufall (die Fee) wieder seine einzig wahre Liebe findet und sein Leben wieder in ihn zurückkehrt.
Einen goldenen Käfig braucht er nicht, zum Glücklichsein.
- Schlußfolgerung: "Nur Glücklichsein macht glücklich" (von Janosch)

zum Schreiben selbst: Ein bisschen mehr solltest Du auf Sätze, die mit "und" beginnen, achten. Ich mache das auch oft, wenn ich mir dann eine Geschichte durchlese, kommen 90 % der "Und" am Satzbeginn weg.
Aber auch das hier (Bsp. unten) zählt z.B. dazu, weil es eigentlich nur zwei Sätze verbindet, die jeder für sich alleine besser stehen können.

Zitat: "Es wurde eine prächtige Hochzeit, zu der alle Tiere des Waldes eingeladen waren, und der junge Zaunkönig, der ...."

Klingt m.E. besser, wenn Du
"...eingeladen waren. Der junge Zaunkönig...."
schreibst.

Im Großen und Ganzen hat mir die Geschichte schon gefallen, vor allem viel besser als die ursprüngliche Version, die schlecht ausging.
Was hältst Du von meiner Deutung/Schlußfolgerung?

Alles liebe
Susi

[Beitrag editiert von: Häferl am 02.02.2002 um 16:18]

 

Hallo Susi,
deine Interpretation ist nur zum Teil richtig. Der Käfig wurde schon zu Beginn gebaut, weil „jemand“ mehr Wert auf Sicherheit und Wohlstand (= goldener Käfig) legte, als darauf, in der Gemeinschaft der anderen zu leben (= verließ er diesen schließlich nur noch, wenn er auf Futtersuche ging).

Ist dir aufgefallen, dass der Vogel die Meise nicht im Wald (unmittelbare Umgebung) kennen lernte? Ein scheinbar unwichtiges Detail, das ich absichtlich gewählt habe.
Als die Meise nichts mehr von sich hören lässt (den Grund kennt er nicht), zieht er sich wieder in seinen Käfig zurück und aus Kummer verlernt er dabei noch die Fähigkeiten, die er vorher bereits hatte. Seine unmittelbare Umwelt (Zaunkönig) reagiert darauf mit Ungeduld, hat keine Lust, sich mit „so jemandem“ abzugeben. In der Ursprungsfassung war hier Schluss: der Vogel wäre verkümmert und verhungert, trotz goldenen Käfigs (= auch materieller Wohlstand nützt nichts, wenn er nur einem Selbstzweck dient).

Da das unmittelbare Umfeld aber tatenlos blieb, kam in der Neufassung dann die Hilfe durch ein höheres Wesen (Fee), und schließlich konnte „jemand“ doch wieder glücklich werden und gewann auch seine Fähigkeiten wieder zurück. Dass er den materiellen Wohlstand aufgab und in eine andere Umgebung zog, tat dem Glück(lichsein) keinen Abbruch.

 

Lieber Rabi!

Eine sehr schöne Erklärung, danke.

Alles liebe
Susi :)

 

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