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Der kleine Unterschied
"...denken wir einmal darüber nach, was unser Herr dazu gesagt hat."
<Wo ist dieser verdammte Knopf?> dachte Ulrich Steier, während seine Hand verzweifelt im Dun-keln nach dem Schalter des Radioweckers suchte. Leider war es bereits zu spät als er ihn fand. Silvia drehte sich zu ihm um - er hatte sie wieder ge-weckt obwohl er ihr versprochen hatte sie morgens noch eine Stunde länger schlafen zu lassen. Sie mußte schließlich erst später raus.
"Es tut mir leid, Schatz. Ich habe den Schalter nicht schnell genug gefunden. Vielleicht gibt es ja ein Paralelluniversum in dem die Schalter an Radioweckern vorne gut erreichbar angebracht sind." <Und vielleicht,> fügte er in Gedanken hinzu. <Vielleicht werden in diesem Universum auch nicht immer Morgenandachten zu den Zeiten im Radio gebracht an denen er sich wecken lassen wollte. Morgenandachten auf leeren Magen waren so ziemlich das Schlimmste was er sich vorstellen konnte.
"Hör doch endlich mal mit diesem Mist von den Paralelluniversen auf. Wo sollen die denn sein?" Silvia schien gereizt.
"Das habe ich Dir doch schon oft versucht zu erklären. Die Erde und alles andere existiert..."
"Ich weiß, ich weiß. Sie existiert beliebig oft, am gleichen Ort zur gleichen Zeit, nur in ei-ner anderen Dimension. Leider kann ich trotz deiner Erklärungsversuche nicht verstehen wo diese Erden sein sollen. Wenn ich abends in den Himmel schaue sehe ich sie nicht. Außerdem kenne ich außer dir und deinem verrückten Freund Michael keinen vernünftigen Menschen der an so einen Mist glaubt. Also sei froh, daß ich diese blödsinnige Forschungsarbeit finanziere, aber laß mich damit zu-frieden. Und vor allem: nerv' mich nicht schon am frühen Morgen damit, wenn ich eigentlich noch schlafen will." Sie drehte sich geräuschvoll auf die andere Seite und gab ihm so zu verstehen, daß das Thema ihrerseits mal wieder beendet war.
<Scheiße,> dachte er. <Immer wenn ich mit meinem Traum ankomme werde ich von ihr auf meine wirtschaftliche Abhängigkeit hingewiesen. Es stimmt ja, das Haus gehört ihr und auch die Firma die die Forschungen subventioniert. Aber warum konnte sie denn nicht wenigstens so fair sein zuzuhören, wenn die Sprache auf die Forschungsarbeiten kam?> Aber es sollte noch dicker kommen.
"Außerdem hat gestern abend schon wieder dieser Idiot Martin angerufen! Mach ihm doch endlich mal klar, daß ich mit dir verheiratet bin und von ihm nichts wissen will. Er ist schließlich ein al-ter Freund von dir und nicht von mir!"
<Am besten gehe ich darauf überhaupt nicht ein,> dachte er. <Ansonsten geht die Haßtirade end-los weiter.> Mit einem Seufzer warf Ulrich Steier die Bettdecke zurück, stand auf und verließ das noch dunkle Schlafzimmer. Im Badezimmer angekommen warf er einen forschenden Blick in den Spiegel.
<Ganz passabel,> dachte er. <Für einen mittdreißiger ganz passabel.> Die Stirn wurde zwar mit der Zeit immer höher aber ansonsten machte sein Körper doch noch etwas her.
- 2 -
Trotz des relativ frühen Wecktermines verpaßte er fast den Bus in Richtung Gewerbegebiet. Silvia hat-te das Auto beansprucht, da sie als Chefin des Un-ternehmens standesgemäß aufzutreten hatte. Ihm war das ganz recht, denn mit dem Bus kam er, bedingt durch die Busspuren, schneller an's Ziel. Außerdem konnte er während der Fahrt immer ein bißchen dösen.
<Die Kotlareks sollten wirklich mal überlegen diese Tanne neben ihrem Haus zu fällen,> dachte er. <Irgendwann stürzt sie sonst drauf. Ökologiegedanken hin oder her, diese Tanne müßte eigentlich weg.>
Eine halbe Stunde später erreichte der Bus endlich die Haltestelle Gewerbegebiet Nord. Von dort aus hatte Ulrich Steier nur noch ca. fünf Minuten zu Fuß zurückzulegen.
Als er endlich sein Labor, welches auf dem Firmengelände der Firma seiner Frau stand, betrat, begrüßte ihn sein langjähriger Freund und Mitarbeiter Gerhart Berns mit einem Armwinken.
"Hast du schon angefangen die Apparaturen aufzubauen?" fragte Steier.
Der ca. dreißigjährige, wohlgerundete Mann blickte auf einige in der Ecke stehende Geräte wäh-rend er antwortete. "Fast fertig Uli, wir können in ungefähr einer Stunde anfangen. Hast du Silvia darauf angesprochen, daß wir heute wohl eine ziemlich hohe Stromrechnung produzieren werden?" Gerhart blickte kurz auf um ihm in´s Gesicht zu sehen.
"Ich bin nicht dazu gekommen. Aber so schlimm wird es schon nicht werden. Wir wollen ja nur eine kleine Verschiebung vornehmen." Steier fühlte sich recht ungemütlich ob der Frage seines Freundes.
"Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht wie es wohl sein wird plötzlich in einem Pa-ralelluniversum zu sein. Dort ist alles möglich. Vielleicht existiert das römische Reich noch oder die Menschheit hat bereits das All erobert..."
"Oder ein Baum in Asien hat ein Blatt mehr als hier oder es klappt überhaupt nicht. Vergiß nicht, daß deine Theorien auf schwachen Beinen stehen!" unterbrach ihn Gerhart.
"OK, OK. Ich höre auf zu träumen, wo ist der Akku? Hast du überprüft ob er aufgeladen ist? Stell dir mal vor ich bin im Paralelluniversum und kann nicht zurück, weil kein Strom verfügbar ist."
"Der Akku ist klar. Aber sag´ mal, wie willst du Silvia die Stromrechnung erklären? Seit 24 Stun-den hängt das Ding am Netz und zieht Unmassen an Strom. Mich wundert, daß noch nicht der Hausmeister hier erschienen ist und den Stromverbrauch erklärt haben wollte." Gerhart Berns´Gesichtsausdruck war sehr ernst.
"Laß das mal meine Sorge sein. Außerdem, wenn es nicht klappt geben wir den Strom aus dem Akku in´s Netz zurück." <Trotzdem hätte ich mit Silvia vorher darüber reden sollen,> dachte er. <Aber wie? Immer wenn ich die Sprache auf das Thema bringen wollte reagierte wie heute morgen.>
Kurze Zeit später war es dann soweit, der große Augenblick war gekommen. Ulrich Steier schnallte sich die Apparatur auf den Rücken. Sie sah wie ein etwas überdimensionierter Schultornis-ter aus.
"Letzter Check, Gerhart," rief er und nahm das Steuergerät zur Hand. "Alles in Ordnung?"
"Alles klar, Uli. Schick mir ne Postkarte!"
"Es wird nicht lange dauern bis ich zurück bin. Ich muß mir nur einen Beweis suchen den ich mitbringen kann. Vielleicht ein römisches Schwert oder die Konstruktionsanleitung eines Raumschif-fes." Augenzwinkernd betätigte er die Starttaste.
"Oder ein Blatt eines Baumes irgendwo in Asien," sagte Gerhart in den ohrenbetäubenden Krach hinein, der plötzlich zu hören war.
Das Licht flackerte und erlosch. Fensterscheiben gingen zu Bruch und die Erde begann zu be-ben. Als sich der Staub einigermaßen verzogen hatte, sah Berns seinen Freund verkrümmt auf der Erde liegen.
- 3 -
Die Augenlieder waren schwer. Nur langsam und mit viel Mühe konnte er sie heben.
"Er kommt zu sich, Doktor." Eine Frauenstimme.
Langsam öffnete er die Augen. "Wo bin ich?" fragte er mit belegter Stimme.
"Du bist im Krankenhaus, Uli. Das Labor hat´s ganz schön erwischt. Erinnerst du dich nicht?" Das war Gerharts Stimme, erkannte Steier. Er wandte den Kopf nach rechts. Das Zimmer begann leicht zu schwanken. Neben seinem Bett saß Gerhart auf einem Stuhl und beobachtete ihn besorgt. "Kannst du dich nicht erinnern?" fragte er erneut.
"Doch, doch. Ich erinnere mich an einen ziemlichen Krach - und dann bin ich hier aufgewacht. Was ist passiert, Gerhart?"
"Nichts, Uli. Leider nichts." Seine Blicke waren vielsagend. "Das Labor ist uns um die Ohren geflogen. Ich glaube jetzt haben wir uns alle Sym-pathien bei Silvia verscherzt. Sie war ganz schön wütend über den Schaden. Ich glaube nicht, daß sie uns noch weiter unterstützt."
<Silvia, ja Silvia. Wo ist sie?> dachte Steier. <Warum ist sie nicht hier?>
"Sie war kurz hier," führte Gerhart weiter aus. "Als sie erfuhr, daß du bis auf eine Gehirnerschütterung nichts abgekriegt hast ist sie wieder gefahren. Unsere Apparate hat sie konfisziert. Zu unserem Glück will sie uns, glaube ich, nicht für den Schaden haftbar machen. Zumal sie den im Akku gespeicherten Strom in´s Netz zurückgeben kann. He, hörst du mir überhaupt zu?"
"Ja, sicher - Doktor, wann kann ich hier raus?" fragte Steier den geduldig wartenden Arzt.
"Ich würde sie gerne ein paar Tage zur Beobachtung hierbehalten. Festhalten kann ich sie al-lerdings nicht. Wenn sie auf eigene Verantwortung..."
Eine halbe Stunde später saß Ulrich Steier im Taxi und war auf dem Weg nach Hause. Die Fahrt schien endlos lange zu dauern. Er begrüßte dies jedoch, hatte er doch so die Möglichkeit sich genau zu überlegen, was er Silvia sagen sollte.
Er war allerdings nicht so recht in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen. Sein Kopf schmerzte immer noch ein bißchen. Und so kam es, daß das Taxi vor dem Haus hielt, ohne daß er sich ein Konzept zurechtlegen konnte.
In Ermangelung einer Kreditkarte bat er den Fahrer kurz zu warten, bis er Geld aus dem Haus geholt hatte.
Während er über den kurzen Weg zum Haus schritt kramte er in seiner Hosentasche nach den Schlüsseln. Er brauchte diese allerdings nicht zu benutzen, Silvia hatte seine Ankunft bemerkt und öffnete die Tür.
Ihr Gesichtsausdruck signalisierte großes Er-staunen und bevor er zu Wort kam sprudelte es aus ihr heraus. "Was willst du denn hier?"
"Ich bin auf eigene Verantwortung aus dem Krankenhaus entlassen worden," sagte er. "Hast du vielleicht etwas Geld für das Taxi?"
Silvia starrte ihn mittlerweile fassungslos an. "Was willst du? fragte sie entrüstet. "Auch noch Geld für das Taxi? Jetzt höre mir mal gut zu, Uli. Ich habe dich und deine blödsinnige Idee jahrelang unterstützt. Zum Dank dafür legst du die halbe Firma in Schutt und Asche und produzierst darüberhinaus eine Stromrechnung, die ich sonst für ein Jahr zu bezahlen habe an einem Tag - und jetzt besitzt du auch noch die Unverfrorenheit hierher zu kommen und Geld für´s Taxi zu kassieren. Was willst du überhaupt hier?"
"Aber, Silvia...," Steier war völlig perplex.
"Wer ist denn da, Schatz?" rief eine Stimme aus dem Haus.
"Dein Freund Ulrich, ich werde schon alleine mit ihm fertig," antwortete Silvia.
"Wer..." weiter kam Steier nicht.
"Martin - wer sonst? Was ist eigentlich mit dir los? Ich glaube fast du wärst besser doch noch im Krankenhaus geblieben."
"Martin, aber wieso? Wir sind doch verheiratet. Willst du mich nicht reinlassen?" Steiers Stimme drohte zu ersticken.
Silvia sah ihn jetzt mit eher mitleidsvollem Blick an. "Uli, zwischen uns ist es seit Jahren aus! Ich bin mit Martin verheiratet. Du kannst von Glück sagen, daß ich dich all die Jahre unterstützt habe. Es wäre vielleicht besser für alle Beteiligten gewesen, wenn ich es nicht getan hätte."
"Aber wir haben doch gestern noch darüber gesprochen bald ein Baby zu bekommen," flehte Steier.
"Uli, jetzt ist langsam mein Geduldsfaden gerissen. Ich muß mich mit der Versicherung auseinandersetzen, wegen des Schadens, du verstehst? Ich habe jetzt wirklich keine Zeit für dich, also verschwinde.
Wenn du einen guten Rat von mir noch annimmst: geh zurück in´s Krankenhaus, der Schlag auf den Kopf hat bei dir einen Schaden hinterlassen." Mit diesen Worten drehte sie sich um und knallte die Tür zu.
Für Ulrich Steier brach eine Welt zusammen. Er wandte sich langsam um und sah aufmerksam die Straße herunter. Da stand Kotlareks Haus, die Tanne daneben war nicht zu sehen!
Langsam dämmerte ihm, daß sein Experiment nicht gescheitert war. Allerdings war es auch nicht ganz so abgelaufen wie er es erwartet hatte. Auch nicht so wie von Gerhart prognostiziert, der Baum in Asien hatte wohl noch dieselbe Anzahl Blätter! Was die Welt als ganzes anging, war die Abweichung jedoch genauso vernachlässigbar klein.