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Der kleine Paul
Der kleine Paul
Er war wie alle anderen und wenn er lachte, strahlten seine Augen wie die Sonne selbst.
Wenn er so mit ausgebreiteten Armen über die duftenden Blumenwiesen rannte, glich er einem schwebenden Schmetterling, der von der Kraft des Windes in die verschiedensten Himmelsrichtungen getragen wurde. Und während er im Geiste durch die schönsten und prächtigsten Landschaften seiner Phantasie wanderte, summte er Lieder und Melodien vor sich hin, wie sie schöner und lieblicher noch niemand zuvor vernommen hatte.
Der kleine Paul war ein glückliches Kind. Er war so glücklich, wie man es wahrscheinlich nur sein konnte, wenn man noch mit ganzer Kraft von jener unbewussten Weisheit beeinflusst wird, wie sie nur Kinder besitzen. Das unschuldige Wissen um die Einheit und die Vollkommenheit der uns umgebenden Natur.
Doch eines Tages zogen dicke, schwarze Wolken vor die Sonne, die Paul sein ganzes Leben lang Wärme und Licht gespendet hatte und sofort wurde es kalt und dunkel um ihn herum. Es wurde so entsetzlich kalt, dass er sogar fror, wenn er mit seinen Eltern, in eine warme Wolldecke gehüllt, vor dem flackernden Kamin saß und gedankenverloren in die lodernden Flammen sah.
Eine seltsame Krankheit hatte Paul befallen.
Eine Krankheit, die so schlimm und gefährlich war, dass Pauls Ärzte die schwierige Aufgabe hatten, ihrem kleinen Patienten und seinen ungläubigen Eltern die Nachricht zu unterbreiten, dass Paul nur noch wenige Monate zu leben hätte.
Der Schock, der den kleinen Jungen förmlich aus der Bahn warf, sorgte dafür, dass sich Paul von allem und jedem abwand.
Der einstmals so fröhliche kleine Knirps wurde depressiv und launisch, er akzeptierte niemanden mehr in seiner Nähe und saß nur noch traurig und einsam in seinem Zimmer, in das er nicht einmal mehr die Sonnenstrahlen hineinlassen wollte. Unwichtig waren Spaß und Gesang geworden, unwichtig auch seine Eltern, Freunde und Spaziergänge durch die Natur.
Während er früher fast jeden Tag draußen verbrachte, verschanzte er sich nun wie ein entflohener Häftling in seinem Versteck. Paul verhielt sich so komisch, dass seine alten Freunde nicht mehr wußten, wie sich verhalten sollten. Sie wussten, dass Paul nur noch wenige Wochen zu leben hatte und dieses Wissen bedrückte sie so sehr, dass sie jeden Kontakt vermieden. So kam es ihnen nur entgegen, dass sich Paul vor ihnen versteckte. Es war wohl so, dass Pauls Freunde Angst hatten, etwas Falsches zu sagen oder sich falsch zu verhalten. Sie wussten, dass sie noch ein langes Leben vor sich hatten und sie hatten immer das Gefühl, dass Paul böse auf sie war, weil er ja nun bald sterben musste.
Und so kam es, dass Paul von Tag zu Tag einsamer wurde und bald schon war sein Lebenswille so stark geschrumpft, dass er überhaupt keine Lust mehr hatte, morgens aufzustehen.
Die schreckliche Krankheit hatte ihn eingenommen, ihn eingesaugt, so wie ein gefräßiges Monster, das seine Beute mit Haut und Haaren verschlingt, um sie dann niemals mehr der Freiheit und dem Leben zu übergeben. Und irgendwann hatte die Sonne überhaupt keine Lust mehr, jeden Tag gegen das Fenster von Paul zu klopfen, da sie ja schon vorher wusste, dass er sie nicht hereinlassen würde. Und so kam es dann auch, dass sich die dunklen und erstickenden Wolken immer mehr in Pauls Leben einfanden.
Eines Tages geschah jedoch etwas überaus Seltsames.
Paul hatte sich gerade in sein Bett gelegt, um müde und traurig einzuschlafen, als es plötzlich vor seinem Fenster zu rascheln begann.
Und dann hörte es sich auf einmal so an, als würde jemand mit einem kleinen, spitzen Gegenstand gegen die Rolladen schlagen. Obwohl Paul erschöpft und ausgepumpt war, überkam ihn eine seltsame Neugierde, die ihn so sehr beschäftigte, dass er aufstand und langsam zum Fenster ging.
Vorsichtig und zaghaft öffnete er es, um dann einen kleinen, putzigen Vogel auf seinem Fensterbrett zu sehen.
Er hatte ein leuchtendes Gefieder und es wäre wohl unmöglich gewesen, alle Farben zu beschreiben, die nun im roten Glanz der untergehenden Sonne leuchteten.
"Du bist ja ein seltsamer Typ" murrte der Vogel, "mich so lange warten zu lassen."
Paul war so überrascht, dass er keinen Mucks hervorbringen konnte.
"Hey, bist du etwa stumm?"
Paul war noch immer nicht in der Lage, etwas zu sagen.
"Hmmm. Ich glaube fast, dass du wirklich nicht sprechen kannst. Nun gut, ist auch nicht so wichtig. Es ist jedoch sehr wichtig, dass du gut zuhören kannst, denn ich möchte dir etwas erzählen. Außerdem möchte ich, dass du mich auf eine kleine Reise begleitest."
So langsam taute Paul auf.
"Auf eine Reise? Aber.."
"Es gibt kein ABER" unterbrach ihn der Vogel, "breite einfach deine Arme aus und fliege hinter mir her. Aber beeile dich, wir haben nicht mehr viel Zeit." In diesem Augenblick schwang sich der kleine, bunte Vogel auch schon in die Luft.
"Aber ich kann doch überhaupt nicht fliegen" rief Paul verunsichert, "ich bin doch nur ein Mensch."
Doch der Vogel sah ihn nur lächelnd an. "Mach es so wie ich und du wirst sehen, dass sogar Menschen fliegen können. Du wirst erkennen, dass Menschen sogar noch viel schneller, höher, weiter und kunstvoller fliegen können als alle Vögel des Himmels."
Das ganze kam Paul ziemlich seltsam und unwirklich vor. Er dachte sogar daran, dass dieses alles nur ein Traum sein könnte. Ein seltsamer, total verrückter Traum. Zaghaft und ein wenig ängstlich breitete Paul seine Arme auseinander. Erst nur ein wenig, dann immer weiter und dann stand er mit weit abgespreizten Armen auf dem Fensterbrett.
"Los, SPRING! Um fliegen zu können, muss man den Sprung wagen. Du wirst niemals mehr glücklich sein, wenn du jetzt nicht springst. Und außerdem: Was kannst du verlieren?"
Paul war immer noch ein wenig unsicher. Als er jedoch sah, wie schön und ruhig der kleine, bunte Vogel in der Luft schwebte, fasste er sich ein Herz und ... sprang.
Mit rasender Geschwindigkeit stürzte er in die Tiefe und wenn der kleine Vogel ihn nicht im letzten Moment mit dem Schnabel am Schlafanzug erwischt hätte, wäre er wahrscheinlich mit voller Wucht auf dem Boden aufgeprallt.
Der Vogel sah ihn verständnislos an.
"Bist du lebensmüde? Hat dir noch niemand gesagt, dass man mit den Flügeln schlagen muss, wenn man fliegen will? Ich hoffe, dass du es von nun an nie mehr vergisst. Es sei denn, du hast ein Verlangen danach, zerschmettert auf dem Boden zu liegen".
Dieses Verlangen hatte Paul nun wirklich nicht. Und so tat er, wie im geraten wurde. Langsam schwang er mit seinen Armen auf und ab und als ihn der kleine Vogel wenig später losließ, konnte Paul wirklich ganz alleine fliegen.
Zusammen flogen sie durch den windigen, kühlen Nachtraum, der nur aus Sternen zu bestehen schien. Überall fielen Sternschnuppen zur Erde herab und jedesmal wünschte sich Paul, dass er diesen Flug noch möglichst lange genießen könne.
Es war das schönste Gefühl, das Paul jemals gespürt hatte. Völlig frei und grenzenlos schwebte er durch die Luft, vergessen waren alle Sorgen und Ängste; vergessen alle Nöte und Krankheiten. Hier oben in der Luft war er kein Kranker mehr. Hier war er gesund und kräftig und fröhlich summend flog er hinter seinem neuen Freund her, der ihm nun bunte Wiesen, hohe Berge mit verschneiten Gipfeln, grüne Wälder, blaue, träge dahinfließende Flüsse und Seen, fremde, bunte Städte und Länder und schließlich auch die verschiedensten lachenden Menschen zeigte. Und plötzlich war sie wieder da, diese kindliche Weisheit, dieses Wissen, das Träumen und das Lachen. Angstlos folgte Paul dem kleinen Vogel durch die warme Luft und immer der goldenen Sonne entgegen, die ihn nun fast lächelnd anzusehen schien. Paul fühlte sich schwerelos und während er immer noch mit seinen Armen wedelte, war er so stark mit seinem Leben verbunden, wie noch nie zuvor.
Paul starb drei Tage später.
Er hatte noch einmal alle Freunde zu sich eingeladen und ihnen versichert, dass sie keinen Grund mehr hatten, sich von ihm fernzuhalten. Er hatte allen die Hand gegeben und sie aus seinem Bett heraus mit freundlichen Augen angelächelt. In seinem Blick lag so viel verborgene Stärke und Ruhe, dass es eine wahre Freide war, Paul anzusehen.
Paul lag lächelnd und glücklich in seinem Bett, seine Eltern saßen neben ihm, das Fenster war weit geöffnet. Von seinem Bett aus konnte der kleine Junge die Sonne sehen, wie sie langsam und königlich am Horizont versank. Ihr Glanz ließ die ganze Welt warm und golden erscheinen.
Pauls Kräfte waren so weit geschwunden, dass er nicht einmal mehr den Kopf heben konnte, geschweige denn die Hände drücken konnte, die seine Eltern ihm auf die Bettdecke gelegt hatten.
Doch plötzlich durchfuhr ihn ein Schwall der Energie und langsam hob er seinen Kopf, um noch einmal aus dem Fenster zu sehen. Und dann sah er ihn, wie er auf seinem Fensterbrett landete und ihm freundlich zuzwinkerte.
"Komm, du Superflieger, es wird Zeit."
Und während die Sonne nun blutrot den Himmel verließ, während der Vogel langsam ungeduldig wurde, während sich Paul schon wieder überglücklich nach dem Fliegen sehnte, während sich sein Vater die Tränen mit einem Taschentuch abtrocknete und während seine Mutter den leichten Druck seiner Hände und das strahlende Leuchten seiner Augen bemerkte, stand Paul auf, ging zum Fenster, kletterte vorsichtig auf das Fensterbrett, breitete seine Arme ganz, ganz weit auseinander und flog, den Sprung wagend, mit dem kleinen, bunten Vogel in den göttlichen Abendhimmel.
Und er konnte fliegen; besser, schöner, weiter und kunstvoller als jeder Vogel.
ARTSNEUROSIA (SWEN ARTMANN) 19.10.1993