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Der kleine Mann im Ohr
„Du hast wohl einen kleinen Mann im Ohr!“ Das sagte Mama oft und sie meinte damit: „Du spinnst wohl ein bisschen.“ Aber es gab etwas, das sie nicht wusste: Tim hatte tatsächlich einen kleinen Mann im Ohr, und der redete ihm allerlei ein, mit dem sie nicht einverstanden war.
„Sitz doch nicht so still hier herum“, flüsterte der kleine Mann zum Beispiel. „Renn lieber durch die ganze Wohnung und brüll dabei. Das macht Spaß!“ Tim fand das Rennen und Brüllen tatsächlich lustig, seine Mutter allerdings nicht.
Oder aber, wenn Mama ihn morgens geweckt hatte, überredete das Männchen ihn, sich noch einmal im Bett umzudrehen. „Du schaffst es locker, rechtzeitig in die Schule zu kommen“, meinte es. Mama ärgerte sich immer sehr, wenn sie kurze Zeit später ins Zimmer zurückkam und Tim wieder eingeschlafen war.
Eines Nachmittags fuhr er Fahrrad. „Es ist so heiß“, stöhnte der kleine Mann im Ohr. „Ohne Helm wäre es schön kühl am Kopf.“ Tim hängte seinen Fahrradhelm an den Lenker und sauste los. Der kleine Mann hatte wieder mal Recht: Der Fahrtwind war herrlich!
Doch dann lief ihm seine Mutter über den Weg. „Wie oft habe ich dir gesagt, dass du deinen Sturzhelm aufsetzen sollst!“, schimpfte sie.
„Der kleine Mann im Ohr hat gemeint ...“, begann Tim, aber seine Mutter ließ ihn nicht ausreden. „Weißt du nicht mehr, was passiert ist, als Niklas neulich mit dem Rad stürzte?“
Sein Freund trug damals keinen Sturzhelm und bekam eine schlimme Gehirnerschütterung. Daran hatte Tim nicht mehr gedacht, und der kleine Mann im Ohr auch nicht.
„Nur du bist schuld, dass ich ohne Sturzhelm gefahren bin und Mama mit mir geschimpft hat!“, fuhr Tim ihn später an. Doch er schwieg, wie immer, wenn er Tim in Schwierigkeiten gebracht hatte.
Einmal gab es abends einen tollen Krimi im Fernsehen. „Den solltest du dir unbedingt anschauen!“, riet das Männchen.
„Geht nicht. Ich muss um acht ins Bett“, wandte Tim ein.
„Dann würde ich an deiner Stelle so lange quengeln, bis deine Mutter nachgibt.“
Doch Mama ließ sich nicht erweichen. Stattdessen sagte sie: „Bis spät in die Nacht fernsehen? Du hast wohl einen kleinen Mann im Ohr!“
Tim war so wütend, dass er schrie: „Ob du es glaubst oder nicht, das habe ich tatsächlich!“
Nun wurde Mama ebenfalls böse. „Ich will nie wieder was von diesem kleinen Mann hören!“
„Wieso? Du behauptest doch selbst immer, ich hätte einen im Ohr“, verteidigte sich Tim.
Mamas Mund klappte auf und wieder zu. „Komm her“, sagte sie schließlich. „Wir schauen mal nach.“ Sie schob Tim ans Fenster, zog sein Ohrläppchen ein wenig nach unten und blickte in sein Ohr.
Tim wartete gespannt.
„Ich glaube, ich sehe was“, rief sie. „Einen Augenblick!“ Kurze Zeit später kam sie mit einer Pinzette zurück. Wieder guckte sie in Tims Ohr. „Da ist er!“ Schnell steckte sie die Pinzette hinein und zog sie vorsichtig wieder hinaus. „Jetzt haben wir ihn“, sagte sie zufrieden.
„Wo, wo? Ich möchte ihn sehen!“, rief Tim aufgeregt. Aber Mama hatte das Fenster schon aufgerissen und schüttelte die Pinzette aus. „Verschwinde!“, rief sie. „Und lass dich hier nie wieder blicken!“ Dann schlug sie das Fenster zu. „So! Den lästigen Kerl sind wir los.“
„Wie sieht er denn aus?“ Tim suchte mit den Augen den ganzen Vorgarten ab.
„Wie soll er schon aussehen?“, antwortete seine Mutter. „Wie ein klitzekleiner Mann eben.“
Als Tim an diesem Abend in seinem Bett lag, war er sehr traurig. Er vermisste seinen kleinen Mann im Ohr ganz schrecklich.
Da hörte er plötzlich eine leise Stimme: „Wenn du nicht schlafen kannst, nimm deine Taschenlampe und lies noch ein bisschen unter der Bettdecke.“
„Nanu?“, rief Tim erstaunt. „Ich dachte, du wärst weg?“
„Mensch, Tim“, erwiderte der kleine Mann. „Denk doch mal nach! Du hast zwei Ohren. Und deine Mutter hat das falsche Ohr erwischt.“