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Der kleine Mann im Ohr

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14.10.2001
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Der kleine Mann im Ohr

„Du hast wohl einen kleinen Mann im Ohr!“ Das sagte Mama oft und sie meinte damit: „Du spinnst wohl ein bisschen.“ Aber es gab etwas, das sie nicht wusste: Tim hatte tatsächlich einen kleinen Mann im Ohr, und der redete ihm allerlei ein, mit dem sie nicht einverstanden war.
„Sitz doch nicht so still hier herum“, flüsterte der kleine Mann zum Beispiel. „Renn lieber durch die ganze Wohnung und brüll dabei. Das macht Spaß!“ Tim fand das Rennen und Brüllen tatsächlich lustig, seine Mutter allerdings nicht.
Oder aber, wenn Mama ihn morgens geweckt hatte, überredete das Männchen ihn, sich noch einmal im Bett umzudrehen. „Du schaffst es locker, rechtzeitig in die Schule zu kommen“, meinte es. Mama ärgerte sich immer sehr, wenn sie kurze Zeit später ins Zimmer zurückkam und Tim wieder eingeschlafen war.
Eines Nachmittags fuhr er Fahrrad. „Es ist so heiß“, stöhnte der kleine Mann im Ohr. „Ohne Helm wäre es schön kühl am Kopf.“ Tim hängte seinen Fahrradhelm an den Lenker und sauste los. Der kleine Mann hatte wieder mal Recht: Der Fahrtwind war herrlich!
Doch dann lief ihm seine Mutter über den Weg. „Wie oft habe ich dir gesagt, dass du deinen Sturzhelm aufsetzen sollst!“, schimpfte sie.
„Der kleine Mann im Ohr hat gemeint ...“, begann Tim, aber seine Mutter ließ ihn nicht ausreden. „Weißt du nicht mehr, was passiert ist, als Niklas neulich mit dem Rad stürzte?“
Sein Freund trug damals keinen Sturzhelm und bekam eine schlimme Gehirnerschütterung. Daran hatte Tim nicht mehr gedacht, und der kleine Mann im Ohr auch nicht.
„Nur du bist schuld, dass ich ohne Sturzhelm gefahren bin und Mama mit mir geschimpft hat!“, fuhr Tim ihn später an. Doch er schwieg, wie immer, wenn er Tim in Schwierigkeiten gebracht hatte.
Einmal gab es abends einen tollen Krimi im Fernsehen. „Den solltest du dir unbedingt anschauen!“, riet das Männchen.
„Geht nicht. Ich muss um acht ins Bett“, wandte Tim ein.
„Dann würde ich an deiner Stelle so lange quengeln, bis deine Mutter nachgibt.“
Doch Mama ließ sich nicht erweichen. Stattdessen sagte sie: „Bis spät in die Nacht fernsehen? Du hast wohl einen kleinen Mann im Ohr!“
Tim war so wütend, dass er schrie: „Ob du es glaubst oder nicht, das habe ich tatsächlich!“
Nun wurde Mama ebenfalls böse. „Ich will nie wieder was von diesem kleinen Mann hören!“
„Wieso? Du behauptest doch selbst immer, ich hätte einen im Ohr“, verteidigte sich Tim.
Mamas Mund klappte auf und wieder zu. „Komm her“, sagte sie schließlich. „Wir schauen mal nach.“ Sie schob Tim ans Fenster, zog sein Ohrläppchen ein wenig nach unten und blickte in sein Ohr.
Tim wartete gespannt.
„Ich glaube, ich sehe was“, rief sie. „Einen Augenblick!“ Kurze Zeit später kam sie mit einer Pinzette zurück. Wieder guckte sie in Tims Ohr. „Da ist er!“ Schnell steckte sie die Pinzette hinein und zog sie vorsichtig wieder hinaus. „Jetzt haben wir ihn“, sagte sie zufrieden.
„Wo, wo? Ich möchte ihn sehen!“, rief Tim aufgeregt. Aber Mama hatte das Fenster schon aufgerissen und schüttelte die Pinzette aus. „Verschwinde!“, rief sie. „Und lass dich hier nie wieder blicken!“ Dann schlug sie das Fenster zu. „So! Den lästigen Kerl sind wir los.“
„Wie sieht er denn aus?“ Tim suchte mit den Augen den ganzen Vorgarten ab.
„Wie soll er schon aussehen?“, antwortete seine Mutter. „Wie ein klitzekleiner Mann eben.“
Als Tim an diesem Abend in seinem Bett lag, war er sehr traurig. Er vermisste seinen kleinen Mann im Ohr ganz schrecklich.
Da hörte er plötzlich eine leise Stimme: „Wenn du nicht schlafen kannst, nimm deine Taschenlampe und lies noch ein bisschen unter der Bettdecke.“
„Nanu?“, rief Tim erstaunt. „Ich dachte, du wärst weg?“
„Mensch, Tim“, erwiderte der kleine Mann. „Denk doch mal nach! Du hast zwei Ohren. Und deine Mutter hat das falsche Ohr erwischt.“

 

Hallo Jakobe,

deine Geschichte hat mir gut gefallen, vorallem die Pointe finde ich gelungen.
Das die Mutter den kleinen Mann im Ohr versucht zu entfernen, das habe ich gleich zu Beginn vermutet, aber der letzte Satz ist sehr originell und überraschend. Dadurch erhält die Geschichte einen besonderen Reiz.
Niedlich und gut geschrieben.:)

Liebe Grüße
Goldis

 

Hallo Jakobe,

mir hat deine Geschichte gut gefallen, obwohl sie Kinder ja ein bisschen dazu ermuntert, die Anordnungen der Mutter nicht zu befolgen.
Besonders gelungen fand ich den Schluss.

Zusammenfassend eine schöne Schmunzelgeschichte.

Viele Grüße
bambu

 

Hallo, ihr beiden,
freut mich, dass euch die Geschichte gefällt!
Ja, es stimmt schon, sie legt nahe, dass Kinder nicht immer tun müssen, was Mütter sagen. Darüber lässt sich natürlich streiten. Aber ich denke, weil Kinder das sowieso nicht immer tun, wird die Geschichte hoffentlich keinen Schaden anrichten!
Vielen Dank für eure Rückmeldung und viele Grüße!
Jakobe

 

Hallo Jakobe,
deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen, besonders der Schluss! Ich kenne da ein paar Strolche, die nur auf so eine Ausrede gewartet haben. Wenn sie diese Geschichte kennen, wird immer der kleine Mann an ihren Übeltaten Schuld sein. Das wird Kindern sehr gut gefallen, da bin ich mir sicher!
Viele Grüße
zauberfee

 

Zitat von zauberfee

Das wird kleinen Kindern sehr gut gefallen, da bin ich mir sicher!
zauberfee, da liegst du genau richtig.
Mein Sohn wollte die Geschichte gleich zweimal hören. Nachdem er 10 Minuten im Bett war, kommt er mit der Ausrede: "Der kleine Mann in meinem Ohr will sie auch noch mal hören!"
So, jetzt haben wir den Salat :D
Somit hat die Geschichte gleich seine Wirkung gezeigt. Übrigens, möchte mein Kind gern wissen, wie der kleine Mann aussieht und er wünscht sich eine Fortsetzung.

Na, Jakobe, gibt es eine schönere Kritik, als das Lob eines Kindes? :thumbsup:

Liebe Grüße
Goldis

 

Ich freue mich unheimlich über euer Lob und besonders natürlich darüber, dass die Geschichte auch bei einem Vertreter meiner "Zielgruppe" gut ankommt!
Es würde mir Spaß machen, eine Fortsetzung zu schreiben. Mal sehen, ob mir was einfällt. Wenn ja, werde ich die Geschichte auf jeden Fall wieder hier posten.
Danke und viele Grüße!
Jakobe

 

Hallo Jakobe,

schön, von Dir zu lesen. Deine Geschichte ist sehr sauber und geübt geschrieben - ich bin nirgends gestolpert, nichts formales zum meckern. :)
Der Schluss ist wirklich sehr gut, da hatte ich ein grinsen im Gesicht. Mittendrin, vor allem beim Sturzhelm hätte ich mir aber nicht die Bestrafung durch die Mutter, sondern lieber einen erklärenden Satz gewünscht, der klarmacht, dass der kleine Mann Tim nicht nur in Schwierigkeiten sondern ab und zu auch in gefährliche Situationen bringt. Denn auch wenn ich Holzhammermoral bei Gott nicht vermisse - aber einen Satz, der klarmacht, dass solche "Erwachsenen-Regeln" oft wichtig sein können, fände ich bei der Situation schon gut ... durch die Wohnung rennen und brüllen darf er hingegen gnaz ohne pädagogische Belehrung. :D

schöne Grüße
Anne

 

Liebe Anne,
dein Einwand leuchtet mir sehr ein. Ich habe diese Passage in der Geschichte geändert.
Vielen Dank für den Hinweis und viele Grüße!
Eva

 

Hallo Eva,

super!
Eine sehr flüssige und originelle Geschichte.
Das Ende kommt überraschend und gut!
Doppeltes Lob!

LG
Wolfgang Urach

 

Hallo Jakobe,
bin noch neu hier, habe Deine Geschichte aber gerne gelesen. Ich bin überzeugt, dass sie bei Kindern gut ankommt. Sie ist flüssig erzählt und das Ende finde ich gut gelöst.
Viele Grüße
Gabriele

 

Liebe Gabriele, lieber Wolfgang,
auch euch vielen Dank! Ich selbst hatte Zweifel, ob das Ende in Ordnung ist. Aber bisher sagten alle, dass es ihnen gefällt. Langsam (und gern) bin ich geneigt, es zu glauben ...
Viele Grüße
Jakobe

 

Hallo Jakobe,
kann mich meinen Vorrednern nur anschließen!
Einfach super, einfach toll!
Habe schon viele Kindergeschichten gelesen, da kam in dreißig Jahren schon was zusammen.
Aber diese ist perfekt und am besten hat mir gefallen, dass am Schluss nicht der so genannte pädagogische Zeigefinger erscheint.
Ein echtes Kinder- Happy- End!
Toll, einfach toll!!!
LG, Meike

 

Hallo Jakobe,

deine Geschichte habe ich mit großer Begeisterung gelesen. Du formulierst angenehm fehlerfrei, so dass es ein Vergnügen ist, deine Geschichte zu lesen.

Als Mama den kleinen Mann mit der Pinzette aus dem Fenster schüttelte, dachte ich "Schade!", obwohl ich auch ein wenig schmunzeln musste.
Der Schluss dann hat mir richtig gut gefallen.

Eine feine, kleine Geschichte! :)

Lieben Gruß
von al-dente

 

Liebe Meike, liebe al-dente,
auch euch vielen Dank für euer Lob.
Meike, zu dem "erhobenen Zeigefinger": Solche Geschichten mag ich auch nicht. Andererseits möchte ich natürlich auch nicht ins andere Extrem verfallen. Insofern hat Anne mit ihrem Einwand recht. Ich versuche immer, den goldenen Mittelweg zu finden.
Al-dente, ich finde gut, dass du deine Gefühle beim Lesen wiedergibst (wie auch bei dem Geburtstagsmann). Es ist sehr interessant, wenn man als Autor dem Leser beim Lesen praktisch "in den Kopf gucken" kann.
Viele Grüße
Jakobe

 

urgh ... diese Geschichte ist echt witzig (die Pointe ist eine geniale Idee), aber unserer kleinen Tochter werd ich sie trotzdem nicht vorlesen, ihr fallen auch so genug Ausreden für Unfug ein (auch wenn Ihr mich für spießig verteufeln mögt). Ich finde sie aber super zur Unterhaltung gestresster Eltern oder zum selber lesen für ältere Kinder, die Geschichten schon gut von der Realität unterscheiden können.

 

Lieber Kagul,
besonders gefreut hat mich, dass du die Geschichte als "Unterhaltung für gestresste Eltern" einstufst, denn das ist meine Idealvorstellung, die ich zu realisieren versuche: Kindergeschichten zu schreiben, an denen auch Erwachsene ihren Spaß haben.
Viele Grüße
Jakobe

 

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