Der kleine Junge
Gemächlich ruckelte die Tram über die Schienen und bahnte sich ihren Weg durch die Großstadt. Vom Regen durchnässte Menschen stiegen ein und wieder aus. Drinnen roch es nach nassem Hund und feuchter Erde.
Draußen wollte es nicht aufhören zu regnen und die Sonne hatte seit Tagen niemand mehr gesehen. Die Regentropfen klatschten einer nach dem anderen gegen die Fensterscheibe und flossen langsam an dem Glas hinunter. Die Frau fragte sich wie es sich wohl anfühlte ein Regentropfen zu sein. Angenehm war es bestimmt nicht, Tag für Tag irgendwo an eine Fensterscheibe zu klatschen. Irgendwann musste das doch langweilig werden.
Die Tram hielt an.
Durch das Fenster erblickte sie einen kleinen Jungen. Ihr Atem stockte.
Ihre Muskeln verkrampften sich und ein Kälteschauer durchströmte ihren Körper. In ihrem Kopf begann es laut zu pochen. Um sie herum drehte sich alles. Ihre Hände wurden zu Fäusten und sie versuchte sich in Gedanken festzuhalten. Von 60 zählte sie langsam hinunter und atmete wie der Therapeut es ihr gezeigt hatte.
Als sich ihre Augen wieder öffneten waren der kleine Junge und sein Vater eingestiegen. Sie saß schräg gegenüber von den Beiden. Noch war ihnen nicht aufgefallen, dass sie von ihr angestarrt wurden.
Ihre Augen verschlangen ihn förmlich. Sie konnte nicht glauben wie ähnlich er ihrem Sohn sah. Seine Augen waren ebenso blau, und sein Haar fiel ebenso in dicken Locken in sein wunderschönes, rundes Gesicht. Fröhlich saß er auf dem Schoß seines Vaters und schaute den Regentropfen nach. Er summte und begann Tiere aus dem Zoo aufzuzählen.
Dabei lachte er ständig und klatschte in die Hände. Sie hatte es geliebt wie er jeden Tag die Welt entdeckte, wie die kleinsten Dinge ihn stundenlang faszinieren konnten und wie unglaublich neugierig er war. Ihr kleines Baby - tot.
Sie starrte immer noch auf das Kind. Dieses fremde Kind welches nicht ihres war. Ruckartig drehte sie ihren Kopf in Richtung Fenster, damit niemand bemerkte wie verstohlen ihre Blicke in die Richtung des Jungen gingen. Nicht, dass die Leute noch auf sie aufmerksam wurden. Sie, die Frau die es nicht geschafft hatte auf ihr Kind aufzupassen und dessen Tod zu verhindern. Sie, die unfähige Mutter der man das Baby nach der Geburt lieber weggenommen hätte.
Wenn sie gewusst hätte, dass ihr kleiner Junge eines Tages sterben würde und, dass es ihre Schuld sei, hätte sie ihn fortgegeben. Sie hätte ihn fortgegeben um sein Leben zu retten, um das Wertvollste zu beschützen das sie je besessen hatte. Aber sie hatte versagt.
Sie hatte so lange geweint bis sie es nicht mehr konnte, und nur noch taub und unfähig jeglichen Gefühls auf dem Boden des Kinderzimmers lag. Wochen hatte sie dort gelegen. Regungslos und trauernd. Was in dieser Zeit um sie herum passiert war, war ihr entgangen. Zurückgeblieben war nur eine leere Hülle.
Sie erinnerte sich an die unzähligen Stunden die sie in seinem Kinderzimmer verbracht hatte. Sie wäre am liebsten gestorben. Erfolglos hatte sie einige Male den Versuch gewagt, sie wollte bei ihm sein. Aber ihr Mann hatte dies zu verhindern gewusst. Er weigerte sich seinen Sohn und seine Frau zu verlieren, und es rührte sie jedes Mal zu Tränen wenn sie daran dachte wie liebevoll er sich um sie gekümmert hatte. Ihr war immer noch unverständlich woher er die Kraft dafür genommen hatte. Er zeigte ihr, dass sie stark genug war um den Glauben an das Leben wiederzufinden. Wäre er nicht gewesen, hätte sie sich früher oder später selbst zu Grunde gerichtet.
Und nun saß ein Kind vor ihr, welches dem ihren bis auf das kleinste Haar genau glich. Seit seinem Tod hatte sie nicht mehr solche Qualen erlitten. Ihr Atem wurde wieder schneller und ihr ganzer Körper krampfte. Sie ertrug es nicht dieses Kind anzusehen. Ihr Kind anzusehen, auf dem Schoß eines Fremden.
Vom Stuhl aufgesprungen stürmte sie beim nächsten Halt aus der Tram. Ohne Ziel rannte sie wohin ihre Beine sie trugen. An einem Haus mit gelber Fassade fanden ihre zitternden Hände Halt. Ihre Lungen brannte und jeder Atemzug löste weitere Schmerzen aus. Tränen rannen über das heiße Gesicht und sie verschluckte sich beim Luft holen. Ihr zitternder Körper lehnte an der Fassade und ihre nassen Haare klebten an ihren Wangen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte sie sich etwas beruhigt und setzte sich ziellos in Bewegung. Auf wackeligen Knien lief sie einem unbekannten Ziel entgegen.
Der kleine Junge wackelte und quietschte auf dem Schoß des Mannes. Abwechselnd versuchten sie unterschiedliche Tiere nachzustellen und schnitten dabei lustige Grimassen. Die beiden stiegen lachend zwei Haltestellen nach der Frau aus. Das Kind folgte artig an der Hand und schnitt weiterhin Grimassen. Seltsamerweise erntete es dafür kein Gelächter mehr. Im Zoo war der Mann netter gewesen. Er hatte ihm Süßigkeiten gegeben und ihn bestens unterhalten. Dem Kind war nicht einmal aufgefallen wie sie den Zoo verlassen hatten.
Der Mann blickte sich hektisch auf der Straße um. Alles war wie leergefegt - ein positiver Nebeneffekt von Regen. Es war nicht mehr weit bis zu seiner Wohnung, nur noch ein paar Schritte, dann hatte er das Kind für sich.
„Wo gehen wir hin Onkel?“ fragte der kleine Junge. Seine blauen Augen sahen erst ihn an, dann schielten sie auf die Jackentasche in der die Bonbons versteckt waren. Er drückte ihm noch eins mit Zitronengeschmack in die Hand und beruhigte ihn: „Wir sind bald da, dann wirst du es selbst sehen. Aber ich verspreche dir, dass wir sehr viel Spaß haben werden.“
Das gelbe Bonbon verschwand augenblicklich in seinem Mund. Er klatschte vergnügt in die Hände, gluckste und ging brav weiter.