Der kleine Junge Thomas
Vorwort
„Papa, erzählst du uns eine Geschichte?“ – diesen Satz hört der Papa jeden Abend, wenn seine Kinder schon im Bett liegen und eigentlich schlafen sollen. Und weil der Papa eigentlich gar keine Geschichten kennt, kommt er manchmal ganz schön ins Schwitzen. Weil er aber vor seinen Kindern nicht zugeben will, dass er keine Geschichten kennt, und weil der Papa manchmal ein schlauer Fuchs sein kann und ein Hund noch dazu, erinnert er sich an tolles Buch, das er selber mal gelesen hat – „Babba, sagt der Maxl“ heißt es (von Eugen Oker). In dem Buch muss der Babba dem Maxl auch immer Geschichten erzählen und bringt den Babba damit in eine ganz schöne Verlegenheit. Genau wie bei diesem Papa. Und so fängt der Papa immer mit dem gleichen Satz an: „Aber nur eine ganz Kurze“. Und weil sich der Papa noch gut daran erinnern kann, wie gern er selber als Kind Geschichten gehört hat, erzählt er die Geschichte gerne und ist selber schon gespannt darauf wie sie ausgeht. Als nächstes fragt der Papa dann: „Welche Geschichte möchtet ihr hören?“ worauf er oft als Antwort bekommt „von dem kleinen Jungen Thomas“. Und weil meine beiden Söhne die Geschichten anscheinend sehr gerne gehört haben und immer noch hören, hat sich der Papa dazu entschieden, ein paar davon aufzuschreiben. Vielleicht gibt es ja noch andere kleine (oder große) Abenteurer, die gerne die kurzen Einschlafgeschichten von dem Jungen namens Thomas lesen möchten.
Thomas
Thomas war ein ganz normaler Junge von 5 Jahren. Zwar zog ihm die Mama jeden Tag frische Sachen an, die blieben aber nie lange sauber. So gut wie alle seine Hosen hatten Löcher an den Knien. Und an den Schienbeinen und Ellenbogen hatte er zahlreiche Schürfwunden was ihn aber nicht weiter störte. Auf seiner linken Backe hatte er einen großen Kratzer von Leon aus dem Kindergarten. Leon hatte versucht, ihm sein neues Auto wegzunehmen. Sobald es wärmer wurde, verpasste ihm seine Mama einen kurzen Sommerschnitt wodurch seine dicken, dunkelblonden Haare noch stärker zur Geltung kamen. Weil er nie stillhalten mochte, war die Frisur oft etwas zerzaust und sah manchmal sogar etwas struppig aus. Zusammen mit seinen neugierigen Augen und seinem virtuosen Lächeln, das er gerne aufsetze, wenn er etwas angestellt hatte oder noch ein bisschen länger Fernsehschauen wollte, wirkte er auf Erwachsene schon auf den ersten Blick wie ein waschechter Lausbub.
Thomas war vor etwa einem halben Jahr aus der Stadt aufs Dorf gezogen. Das gefiel ihm, denn das Haus seiner Familie stand direkt am Rand eines kleinen Wäldchens. Seine Freunde aus der Stadt vermisste er schon ein bisschen, aber er war ein aufgeschlossener, liebenswürdiger Junge und bei anderen Kindern wegen seiner tollen Ideen als Spielgefährte sehr beliebt. Deshalb hatte er hier schnell neue Freunde gefundenen. Auch Leon war sein Freund – auch wenn es manchmal kleinere Differenzen gab.
Thomas liebte alle Tiere, sogar die gefährlichen. Thomas war jedoch nicht dumm, deswegen wusste er, dass es besser war, gefährlichen Tieren mit Respekt zu begegnen. Sein Papa hatte ihm erklärt, dass es keine „bösen“ Tiere gibt. Ein Tier würde nie einem anderen Tier oder Menschen ohne Grund weh tun. Es gibt nur gefährliche und weniger gefährliche Tiere. Und wenn man die gefährlichen Tiere meidet, dann kann auch nichts passieren.
Wenn keiner seiner Freunde nach dem Kindergarten Zeit zum Spielen hatte, dann ging er gerne in den angrenzenden Wald um die Umgebung zu erkunden. Da es hier so gut wie keine Autos gab und ihm seine Eltern vertrauten, durfte er alleine losziehen – er musste nur versprechen, dass er nicht zu weit weg geht. Daran hielt er sich immer, denn er wusste, dass seine Eltern ihm dieses Privileg schnell wieder entziehen würden, wenn er sich nicht daran hielte.
Das Reh
Eines Tages, als Thomas wieder einmal in den Wald zum Spielen ging, kam er an einem Gebüsch vorbei. Er kannte das Gebüsch, denn daran ging er immer vorbei, wenn er in den Wald ging. Aber diesmal hörte er ein Rascheln, das eindeutig aus dem Gebüsch kam. Thomas erschrak, blieb wie angewurzelt stehen und hielt den Atem an. Sein Herz pochte so laut, dass er die Ader an seinem Hals pulsieren spürte. Er horchte ganz angestrengt, aber es war nichts mehr zu hören. Mit seinen Augen tastete er immer wieder den ganzen Busch ab – Nichts.
Er beruhigte sich allmählich wieder und dachte für sich „wahrscheinlich nur ein Vogel“ und ging weiter. Aber schon nach zwei Schritten hörte er wieder ein Rascheln. Wieder erschrak er und blieb stehen. Was war das? Wieder lauschte er und wieder war nichts zu hören. Nun war ihm schon etwas mulmig zumute. Eine gefühlte Ewigkeit stand er da, lauschte und beobachtete. Da!
Da war etwas gewesen, eindeutig. Er meinte, etwas Braunes gesehen zu haben und tatsächlich sah er nun, wie sich der Kopf eines Rehes durch das Gebüsch zwängte. Thomas musste zweimal hinschauen, denn der Kopf des Rehes war am Boden und es machte den Eindruck, als robbte sich das Reh vorwärts. Ja, jetzt konnte er es eindeutig erkennen: Es war kein Reh, sondern ein Rehlein, ein Kitz! Nur warum robbt es am Boden entlang?
Natürlich wusste Thomas, dass Rehe keine gefährlichen Tiere sind. Und er wusste auch, dass Rehe Wildtiere sind, die nicht an Menschen gewöhnt sind und deswegen vor Menschen davonlaufen oder auch beißen können, wenn sie sich bedroht fühlen. Thomas wunderte sich, warum dieses Reh nicht weglief. Wenn er es sehen konnte, konnte es ihn ja auch sehen.
Thomas ging näher ran. Sein Herz fing wieder stärker an zu pochen, teils vor Neugier, teils vor Angst aber auf jeden Fall vor Aufregung. Das Reh bemerkte, dass Thomas auf es zukam und verschwand wieder in dem Gebüsch. Thomas fasste all seinen Mut zusammen und schob mit seiner Hand ganz vorsichtig die Blätter des Busches zur Seite. In dem Augenblick fing das Reh an, wie wild herumzuspringen und machte dabei laute, bläkende Geräusche. Thomas machte einen Satz zurück vor Schreck. Als wieder Ruhe eingekehrt war im Gebüsch, traute sich Thomas wieder näherzukommen und riskierte diesmal einen genaueren Blick. Denn er wollte wissen, warum das Rehlein nicht wegrannte.
Er sah das Rehlein auf der Erde liegen, ein Bein war nach hinten gestreckt. Es blutete. Dann sah er den Draht. Das Rehlein hatte sich in einer Schlinge verfangen und konnte nicht weg. Jedes Mal, wenn das Reh versuchte, wegzulaufen, dann zog sich die Schlinge noch enger zusammen und schnitt dem Rehlein noch tiefer ins Fleisch.
Da Thomas Tiere liebte, wollte er dem Rehlein unbedingt helfen. Nur wie? Thomas überlegte hin und her – er musste die Schlinge abmachen, dazu musste er aber näher ran an das arme Tier. Er wollte seine Eltern holen, nur er wusste genau, dass die sich so schnell nicht bewegen würden, weil sie gerade mit den Nachbarn auf der Terrasse saßen und ratschten. Also musste er sich selber darum kümmern. Nur jedes Mal, wenn er sich auf das Tier zubewegte, wollte es wegrennen und die Schlinge bohrte sich noch weiter in sein Bein. Er musste zuerst das Vertrauen des Rehleins gewinnen. Also ging er los und suchte die saftigsten Gräser und Blätter, die er finden konnte und brachte sie dem Rehlein. Er legte sie in gebührendem Abstand auf den Boden und entfernte sich soweit, dass er das Rehlein und die Gräser gerade noch so erkennen konnte. Es dauerte sehr lange bis das Rehlein sich traute, aber dann kam es und verschlang die Mahlzeit gierig. Das Rehlein musste sehr hungrig gewesen sein, wer weiß wie lange es schon in der Schlinge steckte?
Wieder sammelte Thomas saftige Gräser und Blätter und brachte Sie dem Rehlein. Diesmal blieb er ein bisschen näher bei ihm während es genüsslich fraß. Das wiederholte er mehrere Male. Es dauerte sehr lange und Thomas musste sehr oft gehen um Gräser und Blätter zu sammeln, aber schließlich versuchte das Rehlein nicht mehr wegzurennen, wenn es ihn sah. Es hatte sich an seinen Geruch und seinen Anblick gewöhnt und wartete schon auf neues Futter. Schließlich fraß es ihm sogar aus der Hand.
Nun hatte Thomas den ersten Teil seines Plans erreicht: Das Rehlein vertraute ihm. Nun musste er nur noch die Schlinge abbekommen. Also setzte er sich zu dem Rehlein ins Gras und wartete. Er wartete und wartete. So lange, bis das Rehlein eingeschlafen war. Dann versuchte er den Draht zu entfernen. Aber weil sich der Draht schon so tief in das Fleisch eingefressen hatte, tat es dem Rehlein sehr weh als Thomas die Stelle berührte. Es wachte auf und wollte in panischer Angst davonrennen. Wieder zog sich die Schlinge enger zu. Das Rehlein bläkte vor Schmerzen.
„So geht es nicht“ dachte Thomas und er überlegte wieder angestrengt. Dann kam im erneut ein guter Gedanke. Er rannte schnell heim und holte eine ganz besondere Zange aus der Werkstatt seines Papas. Da er schon oft mit seinem Papa „was gebaut“ hatte, kannte er sich mit Werkzeug gut aus. Also holte er einen Seitenschneider – damit konnte man Draht schneiden wie Butter. Als er in die Nähe des Rehleins kam, versteckte er den Seitenschneider in seiner Tasche – das Rehlein sollte ja keine Angst bekommen. Wieder setzte er sich zu dem Rehlein und wartete bis es eingeschlafen war. Diesmal dauerte es nicht lange, denn das Rehlein hatte bereits Vertrauen zu ihm gefasst. Als das Rehlein eingeschlafen war, zog er die Zange aus der Tasche und suchte eine gute Stelle um den Draht abzuschneiden. Er wusste, dass er nur einen einzigen Versuch hatte, denn das Rehlein würde sicher wieder in Panik geraten, wenn es denkt, dass ihm wehgetan wird. Also ließ er sich Zeit. Viel Zeit. Er setzte hier an und dort, versuchte verschiedene Winkel und Stellungen und schließlich fand er die perfekte Stelle. Er hielt den Atem an, setzte die Zange an den Draht und mit einem Ruck zwickte er zu! „KLACK!“ machte es. Er hatte es geschafft. Das Rehlein erschrak, sprang auf und rannte sofort davon so schnell es konnte. Thomas konnte gerade noch erkennen, dass es ein bisschen humpelte – aber es war frei! Und offenbar ging es ihm gut. Thomas war überglücklich: Er hatte das Rehlein gerettet, er ganz allein!
Daheim erzählte er seinen Eltern davon, die taten zwar so als würden sie ihm glauben, er merkte aber ganz genau, dass sie es nicht taten. Wahrscheinlich dachten sie, dass seine blühende Phantasie mit ihm durchgegangen wäre oder dass er zu viel ferngesehen hätte. Das machte ihm aber nichts aus, denn er wusste wie es wirklich gewesen war. Und das konnte ihm niemand nehmen.
Die Kuh
Eines Tages streifte Thomas mal wieder in seinem gewohnten Wald herum und wusste nicht so recht, was er anstellen sollte. Beim Frühstück war seine Lieblingsmarmelade aus gewesen und in der Schule hatte er sich mit seinem Freund Leon gezankt. Außerdem hatte er gleich nach der Schule sein Zimmer aufräumen müssen, weil es dort „angeblich“ aussah wie im Schweinestall und seine Mama >schon wieder< staubsaugen wollte. Aus Thomas‘ Sicht hatte alles eine wunderbare Ordnung gehabt – und dass die Polizei- und Feuerwehr-Autos die Pferde aus der Viecherkiste über eine aus Büchern gebaute Rampe in ein Bauklotz-Gehege jagen wollten, das war beabsichtigt. Natürlich standen alle Baufahrzeuge um das Gehege rum – es musste ja schließlich ordentlich befestigt werden. Aller Widerspruch half nichts, weil Mama am längeren Hebel saß und so musste er wohl oder übel sein Zimmer aufräumen. Einsehen tat er es aber nicht.
Im Großen und Ganzen also kein sehr glorreicher Tag heute. Und so schlenderte er ziellos durch >seinen< Wald. Die Ereignisse des heutigen Tages schwirrten durch seinen Kopf wie ein aufgescheuchtes Rudel Wespen. So in Gedanken versunken bemerkte er die Rufe nicht sofort. Erst als er näher kam, meinte er etwas zu hören. Es hörte sich an wie ein alter Staubsauger in einem Sack, der in gewissen Abständen kurz eingeschalten und gleich wieder ausgeschalten wurde. Neugierig wie er war, begann er gleich mit der Suche nach dem Ursprung des Geräusches. Er horchte genau hin und ging in die Richtung aus der das Geräusch kam. Schließlich kam er auf eine kleine Lichtung und als er durch das Dickicht lugte, sah er den Geräuschmacher. Es war eine riesige, braun-weiß-gefleckte Kuh.
Er rieb sich die Augen. Eine Kuh? Er dachte angestrengt nach, durchforstete jeden Winkel in seinem Gehirn und kam dann zu dem Schluss: Nein, Kühe sind definitiv keine Waldtiere! Also was macht diese Kuh bitte mitten im Wald. Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Und wie er die Kuh so beiläufig musterte und sinnierte fiel ihm auf, dass die Kuh nicht sehr glücklich wirkte. Da er den Gefährlichkeitsgrad von Kühnen noch nicht so richtig einschätzen konnte, beschloss er, vorerst im Verborgenen zu bleiben – mit anderen Worten: Er versteckte sich. Die Kuh sollte erst mal nicht merken, dass er sie beobachtete. Zumindest solange nicht, bis er sich sicher war, dass keine Gefahr droht. Also blieb er im Gebüsch und schlich vorsichtig um die Kuh herum damit sie ihn nicht sehen konnte. Die Kuh bemerkte ihn tatsächlich nicht, und er stellte durch seine Beobachtungen fest, dass die Kuh nicht angebunden war. Und sie hatte auch keine erkennbaren Verletzungen. Je länger er dem Muhen zuhörte, desto mehr wurde ihm klar, dass die Kuh Schmerzen hatte. Das klagende Muhen klang jetzt sogar so leidvoll für ihn, dass ihm ganz anders wurde. Er spürte ein leichtes Flattern in seinem Bauch so als würde er mit dem Tier mitfühlen.
Diese Situation war ihm unerträglich und weil er Tiere so gerne mochte, beschloss er, der Kuh zu helfen. Nun war er aber kein ausgewiesener Kuh-Kenner und er kannte auch Niemanden, der sich mit Kühen auskennt. Wie sollte er nur herausfinden, was der Kuh fehlt? Nach etwas Grübeln fiel ihm ein, dass er auf dem Weg in >seinen< Wald immer an einem kleinen Bauernhof vorbeikommt. Das war die Lösung! Er rannte schnell zu dem Bauernhof und hoffte, den Bauer dort vorzufinden. Der Bauer würde ihm bestimmt helfen können. Wenn sich ein Bauer nicht mit Kühen auskennt, wer dann? Als er sich dem Bauernhof näherte, sah er den Bauer schon von weitem am Weidezaun stehen. Er rannte sogleich zu ihm hin und begrüßte ihn. Der Bauer erkannte Thomas sofort. Sie hatten sich zwar noch nie unterhalten, aber da der Bauer schon seit seiner Kindheit in dem Dorf wohnte kannte er alle und jeden. Und so war ihm auch der aufgeweckte Junge gleich aufgefallen, der immer so nett grüßte. Thomas fing gleich an, auf den Bauer einzureden, vor lauter Aufregung erzählte er aber alles so konfus, dass der Bauer erst nicht verstand, was er von ihm wollte. Der Bauer musste Thomas erst mal beruhigen und forderte ihn auf, ein paar Mal tief durchzuatmen und alles noch einmal in Ruhe zu erzählen. Das machte Thomas. Und so erzählte von der Lichtung, von der Kuh und von dem herzzerreißenden Muhen und davon, dass er nicht wusste, was er jetzt tun sollte.
Der Bauer hörte sich alles geduldig an und versprach, Thomas zu helfen. Thomas fragte auch, ob das vielleicht eine von den Kühen des Bauern sein könnte. Der aber war sich sicher, dass seine Kühe alle im Stall oder auf der Weide waren. Nach kurzem Überlegen war sich der Bauer aber dann doch nicht mehr so sicher – er war ja gerade dabei den Weidezaun zu reparieren den er heute Früh kaputt vorgefunden hatte. Da Kühe Herdentiere sind, war er davon ausgegangen, dass sich eine einzelne Kuh nicht von den anderen entfernen würde. Darin hatte er sich allerdings getäuscht. Nachdem er zweimal nachgezählt hatte stand fest: Magda fehlt! Jetzt wurde der Bauer noch hellhöriger und bat Thomas darum, ihn zu der Stelle zu bringen. Das tat Thomas sehr gerne, denn er wusste, dass der Bauer helfen konnte.
Kurz darauf hatten sie die Lichtung im Wald erreicht und nun hörte auch der Bauer das schmerzerfüllte Muhen. Der Bauer erklärte Thomas, dass Kühe zweimal am Tag gemolken werden müssen, weil sie sonst so viel Milch im Euter haben, dass es ihnen weh tut. Magda war offenbar schon vor dem morgendlichen Melken ausgebüxt und hatte nun starke Schmerzen im Euter. Magda musste so schnell wie möglich gemolken werden, dazu musste sie aber erst einmal zum Bauernhof zurück.
So eine Kuh ist allerdings ein eigenwilliges Tier und macht nicht immer das was es soll. Schon gar nicht, wenn es Schmerzen hat. Und obwohl der Bauer sein ganzes Leben mit Kühen zugebracht hatte, war nach einigen Lock- und Scheuch-Versuchen schnell klar, dass der Bauer es alleine nicht schaffen würde, die Kuh zurück zum Stall zu bringen. Thomas bot seine Hilfe an. Dabei hatte er zwar eher daran gedacht, Hilfe zu holen als selber zu helfen, aber der Bauer nahm die Hilfe danken an und gab Thomas genaue Anweisungen was er tun musste. Zuerst zog der Bauer sein Hemd aus und spannte es an einem großen Ast auf sodass es fast wie ein Drachensteig-Drachen. Diesen Ast musste Thomas nehmen und hochhalten. Damit sollte die Kuh getäuscht werden. Sie sollte denken, dass da ein großer Mann steht. Thomas war noch zu klein um von der Kuh als jemand akzeptiert zu werden von dem sie Befehle entgegennimmt. In die andere Hand bekam Thomas einen langen, dünnen Stock mit dem er immer mal wieder auf den Boden oder in eine Hecke dreschen sollte – damit die Kuh vor ihm davonläuft. Wenn die Kuh gar nicht laufen wollte, durfte er ihr sogar eins auf den Po klopfen mit dem Stock. Das tat der Kuh nicht weh, aber es reichte um sie so stark zu erschrecken, dass sie weiterlief.
Und so trieben der Bauer und Thomas die Kuh rufend, wedelnd, klopfend, klatschend und stampfend durch den Wald. Erst wollte sich die Kuh gar nicht bewegen, da beim Laufen ihr Euter hin und her schwankte und ihr somit noch stärkere Schmerzen bereitete. Als die Kuh aber bemerkte, dass sie keine Chance gegen die beiden Treiber hatte, bewegte sie sich doch. Erst langsam, dann etwas schneller. Thomas und der Bauer achteten immer darauf, dass sie Kuh in Richtung Stall läuft.
Es dauerte nicht lange, dann war der Bauernhof zu sehen. Zu Thomas‘ Verwunderung brauchten sie Magda auf einmal nicht mehr anzutreiben. Als sie den Hof sah, lief sie von sich aus und ganz freiwillig dort hin. Offenbar wusste sie jetzt wieder wo sie war. Den Bauer schien das jedoch nicht zu überraschen. Thomas nahm an, dass sie zu ihrer Herde zurückwollte und dachte, dass sie bestimmt ihre Freunde vermisst hatte. Weit gefehlt! Die Kuh rannte direkt an der Herde vorbei und schnurstracks auf die Melkmaschine zu! Thomas war beeindruckt! Die Kuh wusste offenbar genau, wie ihr geholfen werden konnte. Unglaublich. Der Bauer schloss Magda sogleich an die Melkmaschine an. Thomas durfte dabei zusehen. Er sah, wie mit jedem Pump-Saug-Vorgang Milch aus dem Euter in den Tank floss. Magdas Muhen war nun nicht mehr schmerzerfüllt – im Gegenteil: Es klang erleichtert. 40 Liter Milch kamen aus Magdas Euter. Der Bauer war erstaunt. Magda hatte noch nie so viel Milch gegeben. Das war allerhöchste Eisenbahn gewesen. Als Thomas von dem Bauer erfuhr, dass Magda hätte sterben können, wenn sie nicht gemolken worden wäre, war er sehr erleichtert und freute sich umso mehr, dass es Magda jetzt wieder gut geht.
Zum Dank, dass Thomas ihm geholfen hatte, drückte der Bauer Thomas einen 20 € Schein in die Hand. Darüber freute sich Thomas natürlich, aber noch viel mehr freute er sich über das zweite Geschenk, dass ihm der Bauer machte. Thomas bekam nämlich eine große Kanne Milch von dem Bauer geschenkt. Die Milch stammte von Magda. Der Bauer hatte sie direkt aus dem Bottich geschöpft in den die Melkmaschine sie gepumpt hatte. Die Milch war noch warm und als Thomas daran schnupperte, leuchteten seine Augen. Wie wunderbar das roch! Er konnte nicht anders und musste gleich einen großen Schluck nehmen, direkt aus der Kanne. Das schmeckte! Das war die beste Milch, die er je getrunken hatte!
Thomas war glücklich. Nicht nur, dass er Magda geholfen hatte, nein, er hatte auch noch ein tolles Geschenk bekommen. Auf dem Heimweg blieb er noch mal am Weidezaun stehen. Er wollte sich von Magda verabschieden. Doch alle Kühe sahen gleich aus für ihn. Trotzdem blieb er noch ein bisschen stehen und auf einmal drehte sich eine Kuh um und kam langsam auf ihn zu. Die Kuh kam immer näher und blieb schließlich direkt vor ihm stehen – zwischen ihm und der Kuh war jetzt nur noch der Weidezaun. War das etwa Magda? Thomas kuckte genauer hin und versuchte, etwas an ihr zu erkennen was ihm bekannt vorkam. Aber vor lauter Aufregung hatte er vorhin nicht so genau hingesehen. Da schnellte die Zunge aus dem Mund der Kuh und schlabberte über sein ganzes Gesicht. Iiiiiihhhh! War das nass! Und rau (Kühe haben nämlich eine ziemlich raue Zunge)! Er musste lachen. Ja, das war bestimmt >seine< Magda. Das war wohl ihre Art, sich bei Thomas zu bedanken. Beschwingt von dem kleinen Abenteuer und glücklich darüber, dass es doch noch ein guter Tag geworden war, kam Thomas zu Hause an. Sofort legte er los und erzählte seinen Eltern aufgeregt die ganze Geschichte. Wie so oft, wollten sie ihm nicht glauben, denn sie wussten, dass er sich so in sein Spiel reinsteigern konnte, dass er die Welt um sich herum vergaß sodass das Spiel für ihn zur Realität wurde. Bis Thomas ihnen die Milchkanne und die 20 € zeigte. Vor Staunen rissen seine Eltern die Augen weit auf und konnten ihre Münder so schnell nicht wieder schließen …