Der kleine Herr Naminil
Der kleine Herr Naminil guckt in den Hauspostkasten. Er steigt dabei auf eine hölzerne Fußbank, denn sonst kommt er nicht an den Briefschlitz. Es ist schrecklich mühsam, so klein zu sein. Manchmal ist es aber auch geruhsam, weil man übersehen wird. Der dicke, große Chef der Filiale Nord übersieht den kleinen Herrn Naminil fast immer. Und manchmal denkt der Kleine, das sei sein Glück. Auch das Wort Landesversicherungsanstalt ist zu groß für den kleinen Herrn Naminil. Es ist auch zu groß für den dicken Chef . Am Telephon sieht der immer ganz klein aus, der Chef, wenn der Generaldirektor anruft. Diesem lauscht er sehr folgsam. Das Wort ist aber nicht zu groß für die Anstalt. In einer Anstalt kann niemand machen, was er will, kein Großer und kein Kleiner. Das verbietet eine Dienstanweisung. Das ist gut. Manchmal ist es auch nicht gut. Gut ist eigentlich nur der Feierabend.
Da kann jeder machen, was er will. Man kann essen, schlafen und sogar nichts tun und alles ohne Anweisung. Dem kleinen Herrn Naminil kann keiner Vorschriften machen. Er hat keine Frau. So eine kleine Frau, wie er sie braucht, hat er leider nicht gefunden. Er kann sich auch mit niemandem streiten. Jeden abend sitzt er auf seinem sonnigen Balkon. Er schaut und lauscht. Er redet nicht, aber er zeichnet. Er schaut Tiere an, alle Tiere die Flügel haben. Am liebsten zeichnet er Vögel. Alle Wände hängen voller Bilder: Sperlinge, Grünlinge, Schwalben, Stare, Drosseln, Rotkehlchen, Meisen, Buchfinken aber auch Tauben, Elstern, Krähen und sogar Falken. Ein Sperber wohnt irgendwo in den Häusertürmen. Tiefer unten haust ein Specht. Er klopft auf die Rundfunkantenne, die Singvögel machen Musik und die Elster lacht ihn aus.
Leider kann Herr Naminil mit niemandem lachen. Das ist schlimm. Das hat ihn ganz still gemacht. Manchmal kommt es ihm so vor, als sei er sogar geschrumpft. Der Briefschlitz ist jeden Tag schwerer zu erreichen. ‚Was soll’s‘, denkt der kleine Mann, ‚schreibt ja sowieso keiner!‘
Aber da ist er nicht ganz ehrlich. Einer schreibt schon, auch, wenn er keine Antwort mehr bekommt.
Der kleine Herr Naminil hat sich zuerst das Wachsen abgewöhnt, dann das Reden und zuletzt sogar das Briefeschreiben. Schlimm! Schlimm! Er spart das Geld für das Telephon und die Briefmarken. Er spart es unfreiwillig, eher zufällig. Die vielen langen Zahlenreihen, die er jeden Tag kontrollieren muß, haben etwas mit ihm gemacht. Sie haben sich wie lange Mullbinden um seinen Mund und um seine Kehle gewickelt. Mullbinden haben winzig feine Löcher und sind weich. Aber dann, wenn sie nur lang genug sind, liegen auf einmal viele Lagen über einander. Dann sind die Mullbinden dicht. So war das mit den Zahlenkolonnen. Es wurden jeden Tag mehr. Nun kann der kleine Herr Naminil kaum noch atmen. Und den Hals kann er auch nicht mehr richtig recken. Seine Augen werden immer größer. Er kann immer besser hören. Manchmal denkt er schon, er habe Gedankenfühler entwickelt. Er ist doch kein Insekt! Aber es ist so. Meistens weiß der kleine Herr Naminil, was die anderen Leute tun werden, auch wenn sie ihn einfach übersehen. Da kann er flink und leise ausweichen. Er ist fast unhörbar und unsichtbar. Das ist gut. Es könnte einer ihn treten, aus Versehen oder mit Absicht und der kleine Herr Naminil könnte nicht einmal mehr schreien!
Das war nicht immer so. In der Schule gab es mal den großen Wolf. Der war sein Freund. Er war groß und stark und gescheit. Mit dem wollte sich kein Lehrer streiten und kein Schüler prügeln. Er hatte seine sieben Brüder überzeugt, daß kleine, flinke Leute brauchbar sind. Acht Bewacher waren genug für den Kleinen. Und als Indinaner schleichende Schlange hat er in den Schlachtruf des Stammes der Wölfe eingestimmt. Er war beim Spiel der Wolfsbrüder immer dabei, laut oder leise. Für den großen Wolf war er nicht nur brauchbar, sondern liebenswert. So war der, der Wolf! Und wahrscheinlich ist er es noch...
Der kleine Herr Naminil hat ihn nicht vergessen. Er hat auch nicht vergessen auf seine Briefe zu antworten. Er hat es nur verschoben auf morgen. Dann noch einmal verschoben und so immer wieder.
Warum bloß? Hat er Angst? Wovor? Vor Wolf? Vor sich selbst?
Im Briefkasten liegt wieder ein Brief mit bunten Marken und vielen Stempeln. Der Brief ist um die halbe Welt gereist und er ist ein bißchen zerknittert. Der kleine Mann nimmt den Brief in die linke Hand. Dann steckt er ihn schnell in seine kleine Tasche, weil ein großer Nachbar aus dem Lift kommt. Das ist ein Mensch, den er nicht kennt. Im Haus wohnen links und rechts und oben und unten schrecklich viele Menschen. Das Haus hat zweiundzwanzig Stockwerke. Auf jeder Etage sind vier Wohnungen. Es steht so häufig ein Möbelwagen vor der Tür, daß niemand weiß, ob jemand einzieht oder ob jemand auszieht. Herr Naminil fragt auch niemanden. Er wünscht nur jedem die Tageszeit und geht. Er steigt täglich viele dunkle Treppen, denn er mag keinen fahrenden, brummenden Käfig.
Der Fremde hält die Tür auf. Er grüßt und lächelt. Herr Naminil nickt und sagt: „Danke, nein!“ Er nimmt seine Hutsche unter den Arm. Er hat den Schlüssel vergessen. Der große Mann schließt den Briefkasten ab, bückt sich und gibt schweigend und lächelnd dem Kleinen seinen Schlüssel in die rechte Hand. Und dann ist er mit drei Riesenschritten verschwunden. Herr Naminil sagt hinter ihm sehr leise: „Danke auch!“ Dann steigt er seine dunklen Treppen hoch. Er freut sich, Freude und Vorfreude. In der Wohnung ist alles sehr klein, nur die Fenster sind groß. Herr Naminil stellt seine Fußbank zu Füßen des Liegestuhl auf dem Balkon. Auf den Tisch legt er den bunten Brief. Auf den Umschlag legt er einen runden Kieselstein. Dann denkt er lange nach. Er klemmt die Fußbank wieder unter den Arm. Nun reicht er zu dem Regal mit dem Papier hinauf. Er holt sich ein Tintenfaß und sucht einen Federhalter. Das alles legt er neben den Umschlag mit dem Kieselstein. Dann schaut er den Brief an und sagt noch einmal leise: „Danke auch!“
Der Brief ist sehr lang, Herr Naminil muß lange lesen. Er fängt an mit ‚Lieber Freund!‘ und hört auf mit ‚Komm!‘ Das sind zwei Ausrufezeichen. Jetzt muß Herr Naminil noch länger denken. Er weiß nicht, wie er erklären soll, daß er sich das Briefeschreiben abgewöhnt hat. Da läßt er es, das Erklären. Er wünscht sich, seinen Freund Wolf wiederzusehen. Der Wunsch ist groß, größer als der kleine Herr Naminil. Er hat in ihm keinen Platz mehr. Was nun?
Der Kleine Herr Naminil nimmt eine Postkarte, auf der schon die Marke aufgedruckt ist. Er schreibt die Adresse von dem Briefumschlag ab. Dann schreibt er auf den weißen Teil: ‚Danke, ich komme!‘
Der kleine Herr Naminil muß nun zur Post und zum Bahnhof.
Am nächsten Tag ist er nicht in der Anstalt. Auf seinem Arbeitsplatz liegt ein weißes Blatt Papier und darauf steht: ‚Ich bin im Urwald.“
Alle denken , daß er sich verschrieben hat. Es sollte wohl Urlaub heißen, denken sie, nicht Urwald.
Das stimmt aber nicht. Auch kleine Leute haben große Wünsche und diese haben dann nur Platz in der Wirklichkeit.