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Der Kleiderschrank meiner Schwester
"Öffne niemals meinen Kleiderschrank!" Hätte Phillip nur auf die Worte seiner großen Schwester gehört. Nicht genug, dass er sich nun zurecht vor ihrem Zorn fürchtete, nein, er musste zudem einen Weg finden, wie er nach Hause zurückkehren konnte.
Er wusste selbst nicht so genau, was er erwartet hatte in dem massiven Holzschrank vorzufinden, der genügend Stauraum für die Wäsche einer kompletten Fussballmanschaft bot. Vielleicht ein paar rosafarbene Oberteile, einen großen Stapel Jeanshosen und ein Dutzend Schuhkartons. Eines hatte er jedenfalls ganz und gar nicht erwartet und zwar ein Portal in eine andere Welt. War das der Grund, warum seine Schwester nach dem Aufstehen immer so zerzauste Haare hatte? Wie auch immer, es fiel ihm schwer, sich über solche Nebensächlichkeiten den Kopf zu zerbrechen, während er sich zur selben Zeit verzweifelt an dem Ast eines ungemein hohen Baumes festklammerte und ängstlich in die Tiefe starrte. Sie waren noch immer da!
Nachdem er neugierig die Holztüren des Schrankes seiner Schwester aufgerissen hatte, was rückblickend der größte Fehler seines Lebens gewesen war, waren ihm bereits die ersten Zweifel gekommen. Im Inneren des Schrankes hatte sich nichts anderes befunden,als ein Strudel. So einer, wie in der Badewanne, wenn man den Stöpsel herauszieht, davon abgesehen, dass er wesentlich größer war und blau schimmerte. Was hatte Phillip sich nur dabei gedacht, nicht sofort schreiend davonzulaufen, sondern darüber zu spekulieren, was das bloß für ein seltsamer Strudel sein mochte und warum zum Geier seine Schwester so etwas in ihrem Schrank aufbewahrte. Der Strudel jedenfalls, schätzte es offenbar nicht, wenn man ihm zuviel Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Er hatte ihn kurzerhand hinab in eine andere Dimension gezerrt.
Phillip konnte seine Schwester nicht besonders gut leiden. ständig ärgerte sie ihn und wenn sie ihre widerwärtigen Freundinnen eingeladen hatte, behandelte sie ihn wie Luft. Trotzdem hätte er in diesem Augenblick alles dafür getan, sie in seiner Nähe zu haben. Seine Schwester hätte sich nicht von diesen Fellmonstern auf einen Baum jagen lassen. Stattdesssen hätte sie einen ihrer gefürchteten Tobsuchtsanfälle bekommen und die stinkenden Kolosse hätten darauhin eilig das Weite gesucht. Seine Schwester hätten ihre nadelspitzen Zähne und messerscharfen Klauen nicht im Geringsten beeindruckt. Ihr jagte nichts Angst ein, außer Mathe.
Aber seine Schwester war nicht da und er musste einen anderen Weg finden die Bedrohung abzuwehren. Er versuchte nachzudenken, obwohl seine augenblickliche Lage es ihm nicht gerade leicht machte, einen klaren Gedanken zu fassen. Hatte er jemals ein Buch darüber gelesen, wie man ein Rudel blutrünstiger Scheusale in die Flucht schlägt? Er konnte sich nicht entsinnen. Phillip stand kurz davor laut loszuheulen, denn wie es aussah, hatten die Fellmonster damit begonnen, am Fuße des Baumes ihr Lager aufzuschlagen. Er musste wohl einen ganz besonderen Leckerbissen abgeben, um diese Mühe zu rechtfertigen.
"Ihr dämmlichen Viecher", brüllte er ihnen zu.
"Ich schmecke doch gar nicht. Im Gegenteil, ich bin so zäh wie eine Schuhsohle."
Eines der Ungetüme hob den Kopf und fasste spontan den Entschluss, am Stamm emporzuklettern. Phillip biss sich auf die Unterlippe. Hätte er doch nur die Klappe gehalten.
Möglicherweise waren die Fellmonster mit Affen verwandt, jedenfalls bereitete es dem Ungetüm nicht die geringste Mühe, sich mit seinen Krallen in der Rinde zu verhaken und sich so immer weiter in die Höhe zu schrauben. In wenigen Sekunden würde es Phillip erreicht haben, seinen gewaltigen Schlund aufreißen und ihn mit Haut und Haaren verschlingen.
Es war so weit: Das Ungetüm griff nach dem Ast, auf dem er sich zusammengekauert hatte. Phillip schloß die Augen.
Lieber Gott, es tut mir leid, dass ich den Goldfisch meiner Schwester die Toilette heruntergespüllt habe. Bitte lass mich jetzt nicht im Stich.
Schon spürte er den ekelerregenden Atem des Fellmonsters in seinem Gesicht und er wartete nur noch darauf, dass sich die spitzen Zähne in seinen Nacken graben würden.
Plötzlich schien sich der Ast, auf dem er gesessen hatte, aufzulösen. Doch anstatt zu fallen, spürte er sofort wieder festen Boden unter den Füßen. Phillip öffnete die Augen und stellte ungläubig fest, dass er sich wieder im Zimmer seiner Schwester befand. Er wäre vermutlich erleichtert darüber gewesen, dass er soeben dem Tod durch Aufgefressen werden um Haaresbreite entkommen war, wenn sich nur nicht noch eine weitere Person in dem Raum befunden hätte. Phillips Schwester starrte ihren kleinen Bruder hasserfüllt an. Der Umstand, dass er soeben aus dem Nichts heraus vor ihren Augen erschienen war, störte sie nicht weiter. Sie deutete nur auf die offenen Türen ihres Kleiderschrankes. Es befand sich nur Wäsche darin, aber das sollte in diesem Moment nicht Phillips größte Sorge sein.