- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Der Klang des Sonnenuntergangs
Nacht. Eine kalte verregnete Nacht in einer großen Stadt. Auf den nassen Straßen fanden sich vereinzelt alte Mülltonnen, vom Rost zerfressen, und in einigen von ihnen verbrannte Papier und wärmte die Menschen, die um sie herum saßen. Weit entfernt bellte ein Hund, der Himmel war erleuchtet von Neonwerbung, und aus dem McDonald's auf der anderen Seite strömten die heißen Düfte von Burgern, Pommes, Reis und Nudeln. Vor dem Eingang stand eine Gruppe junger Musiker, die mit ihren Instrumenten die Stille durchbrachen, die an anderen Tagen nur vom surrenden Motorengeräusch vorbeifahrender Autos gestört wurde. In ihnen saßen Menschen, die zur Arbeit fuhren, oder von ihr kamen, je nachdem ob sie jetzt oder am Tage ihr Geld verdienten.
Arthur war einer der Nachtmenschen, wie so viele andere Leute auch. Das ganze Leben hatte sich immer weiter in die Dunkelheit verlagert, so dass es nun fast ausgeglichen war. Es gab keine klare Trennung mehr, es war unwichtig, wann man aktiv war oder schlief. Es gab Schulen, in denen nachts unterrichtet wurde, auch wichtige gesellschaftliche oder politische Ereignisse fanden jetzt immer öfter zu dieser Tageszeit statt. Die Geschwindigkeit, mit der das Leben in den letzten Jahrzehnten vorangeschritten war, hatte die Aufhebung dieser Trennung notwendig gemacht. Es gab Dinge, bei denen man einfach nicht mehr bis zum nächsten Tag warten konnte. Entscheidungen mussten so schnell wie möglich, sehr oft sofort, getroffen werden. Seine Eltern hatten Arthur einmal erzählt, dass man früher, wo alles noch langsamer, gemächlicher (ein Wort, das man heutzutage kaum noch gebrauchte) stattfand, oft Angst hatte, in der Dunkelheit das sichere Heim zu verlassen. Tod hatte auf den Straßen der Großstädte gewartet. Und er wartete noch immer, nur war er nicht mehr beschränkt auf die Nacht. Die Schnelllebigkeit hatte auch den Untergrund erfasst. Und weil der Tod nun so alltäglich war und zum Leben dazugehörte, fürchtete man ihn nicht mehr. Jeder versuchte zu überleben. Wenn es gelang, hatte man Glück. Wenn nicht, dann ließ es sich auch nicht ändern.
Bis jetzt hatte es ganz gut für Arthur ausgesehen. Er war noch nicht überfallen, hinterrücks ermordet, überfahren, vom Hochhaus gestürzt oder auf irgendeine andere Art verletzt worden. Die Statistik würde auch vor ihm nicht haltmachen, aber bis es soweit war, wollte er nicht darüber nachdenken.
Er blieb an einer Straßenkreuzung stehen und sah sich um. Die Suche seiner Augen galt einer jungen Frau. Schon vor einem Jahr hatte er Julia kennengelernt und sie sofort sympathisch gefunden. Aber erst seit ein paar Wochen trafen sie sich an dieser Stelle wo es soviel zu beobachten gab. Sie waren kein Paar, aber Arthur träumte davon, dass es eines Tages soweit sein würde. Doch eigentlich reichte ihm die Freundschaft, reichten ihm die langen Gespräche, die er mit ihr führen konnte und der Spaß, den sie hatten.
Julia saß auf der Treppe der Universität und blickte in Arthurs Richtung. Als er sich ihr näherte, stand sie auf und lächelte ihn an, ein Lächeln, das ihn sofort verzauberte. Zu Beginn ihrer Freundschaft hatte er sich dieses Lächeln angeschaut, und nach ein paar Wiederholungen hatte er sich verliebt. Selbstverständlich hatte er Julia nichts davon gesagt; bis heute wusste sie nichts von seinen Gefühlen für sie. Auf der einen Seite wünschte er sich zwar, dass sie es merkte, und er tat einiges dafür, aber andererseits hatte er Angst vor dem, was dann sein, was dann anders sein würde.
Als sie sich noch nicht so gut gekannt hatten, hatte es einige Probleme gegeben. Julia hatte die Fähigkeit, ein symbolisches Messer in seine Seele zu bohren, und davon hatte sie unbewusst sehr lange und äußerst schmerzhaft Gebrauch gemacht. Aber irgendwann hatte sich das geändert. Ob es an seinem Verhalten lag, das anders wurde, oder daran, dass es ihr eigentlich Leid tat... er konnte es nicht sagen. Er hatte oft nicht gewusst, was er von ihr halten sollte. Etwas, das ihm auch bei allen anderen Menschen schwerfiel. Auf jeden Fall schien er eine leicht perverse Ader zu haben, wenn er sich immer zu den Leuten hingezogen fühlte, die ihn quälten.
Der Regen hatte nachgelassen und jetzt fielen nur noch vereinzelte Tropfen von Hausdächern. Nervosität überkam Arthur, und wieder einmal das Verlangen, Julia ein Geständnis zu machen.
"Gehen wir ein Stück?", fragte sie ihn endlich. Arthur nickte und langsam setzten sie sich in Bewegung. Nach einigen schweigsamen Minuten erreichten sie einen Park.
"Ich möchte dir etwas zeigen", sagte Julia sanft und zeigte auf die Bäume.
"Was denn?"
"Einen Ort... der sehr schön ist. Und der mir viel bedeutet. Wenn wir dort sind, erzähle ich dir mehr davon."
"Du machst mich ja richtig neugierig", meinte er, und Julia lachte leise.
Es war ganz still unter den Bäumen.
"Hier ist es", sprach Julia nach einiger Zeit. Sie deutete auf eine Bank aus Marmor. "Setzen wir uns hier hin?", wollte sie wissen und Arthur nickte nur.
Er konnte den Blick, den Julia ihm zuwarf, nicht deuten. Verlegen sah er zu Boden. Sein rechtes Bein begann nervös zu zucken.
"Ich möchte dir eine kleine Geschichte erzählen."
"Ich werde zuhören", versprach Arthur, unterdrückte das Zucken und lehnte sich zurück. "Worum geht es?", fragte er.
"Warte es ab. Ich fange jetzt an. Also... vor langer, langer Zeit war diese Stadt hier noch viel kleiner, und dieser Park war ihr Zentrum. Die Leute trafen sich hier, das ist ja heute auch noch so, und hier wurden Freundschaften geschlossen, hier fanden sich Liebespaare zusammen, aber ebenso kam es vor, dass Beziehungen zerbrachen. Damals hatten die Menschen auch noch ihren alten Tag- und Nachtrhythmus. Eines Tages trafen sich hier wo wir jetzt sitzen einige Schüler, die alle in eine Klasse gingen. Sie waren ungefähr so alt wie wir. Also kurz davor, die Schule zu verlassen. Unter ihnen war auch jemand, der einige Angst vor der Zukunft hatte. Und er war sich sicher, dass er die anderen, obwohl es wirklich nicht immer einfach war, vermissen würde. Natürlich konnte er sich das nicht eingestehen - was sollten sie sonst denken? Er genoss die Zeit; sie würde ja nicht wiederkommen. Nun passierte aber etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte: so kurz vor dem Ende verliebte er sich. Was an sich nichts Ungewöhnliches war. Doch er behielt es für sich, aus Angst vor den Folgen. Irgendwann war es dann soweit. Sie hatten ihre Abschlüsse in der Tasche und gingen ihrer Wege. Manche hielten noch Kontakt miteinander, doch es wurde immer seltener, und der, von dem ich dir erzähle, sah sie nie wieder."
Arthur hatte die Augen geschlossen gehabt, jetzt öffnete er sie wieder.
"War das schon alles?"
"Ja. Es war ausreichend."
"Wofür?", fragte er unsicher.
"Das musst du besser wissen als ich."
"Du hast gesagt, dieser Ort bedeutet dir sehr viel. Hat das was mit der Geschichte zu tun?"
"Nein. Das liegt an etwas, das du gleich sehen wirst wenn du auf das Meer schaust."
"Der Sonnenaufgang?"
"Ganz genau."
"Ist die Geschichte wirklich passiert? Oder hast du sie dir ausgedacht?"
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich irgendwann einmal ereignet hat, irgendwo. Vielleicht nicht hier, vielleicht in einer anderen Welt, denn die Möglichkeiten sind unendlich. Vielleicht erzählt ja gerade jemand eine Geschichte in der wir vorkommen? Und dieser jemand wird ebenfalls gefragt, ob sie wirklich passiert ist. Was soll er darauf sagen? Egal was er darauf antwortet: Es wäre eine Lüge."
Einige Sekunden ließ Julia ihren Blick auf Arthur ruhen, und er blickte tief in ihre Augen, schien sich darin zu verlieren, bis Julia langsam den Kopf wegdrehte und mit einer Hand in Richtung des Meeres zeigte, das man von hier oben so schön sehen konnte. Zuerst war es nur ein rotes Leuchten über dem Wasser, aber das Licht wurde immer heller und mit ihm auch das Blau des Himmels. Die Sonne stieg höher, und einzelne Strahlen blendeten ihre Augen. Arthur und Julia befanden sich im Zentrum des Lichtes. Irgendwo erklang Musik. Sie schien genau zur aufsteigenden Sonne zu passen und ließ Arthur einen Schauer über den Rücken laufen.
"Was war das?", fragte er als das Schauspiel beendet war.
"Die Musik? Die kommt von da hinten. Da lebt eine Gruppe von Menschen, die zusammen jeden Morgen meditieren und den Beginn eines neuen Tages feiern."
"Davon höre ich jetzt zum ersten Mal."
"Liest du keine Zeitung?"
"Nein, nicht allzu häufig."
"Das solltest du ändern."
"Ich werde dran denken."
Julia atmete tief ein und wieder aus. Dann meinte sie:
"Arthur... ich denke, ich gehe jetzt nach Hause. Ich bin müde."
"Darf ich dich ein Stück begleiten?"
"Wenn du willst."
Die beiden standen von der Bank auf und drehten sich um. Die Sonne schien warm auf sie herab. Arthur ging neben Julia her und dachte nach. Über den Sinn der Geschichte. Über den Sonnenaufgang. Über sich. Über Julia.
"Also...", begann er, doch Julia unterbrach ihn sofort.
"Arthur... wir könnten uns heute Abend wieder hier treffen. Zum Sonnenuntergang."
"Ja... ja, warum nicht?", freute sich ihr Begleiter.
"Gut... sehr gut! Also, bis dann."
"Ja. Bis dann."
Julia ging in das Haus, das sie inzwischen erreicht hatten und verschwand. Arthur blickte noch lange auf die Tür bevor auch er sich auf den Weg nach Hause machte.
* * *
Die Jalousien in dem Zimmer waren heruntergezogen, so dass die Sonne nicht bis zu Arthur durchdringen konnte. Er saß in seinem Sessel und hatte den Computer aktiviert. Blaues Licht ging von dem halbtransparenten Hologramm aus, das vor ihm schwebte und auf dem bunte Symbole darauf warteten, berührt zu werden und so ihre Aufgabe zu erfüllen. Sie waren geschaffen worden um zu dienen, und sie stellten in der kalten Microsoft - Realität mit ihrem Aussehen den einzigen Bezug zur alten Welt dar. Arthur fragte sich, wann sie das Leben vollständig ersetzen würden, wann die Nutzer der Computer selbst zu solchen kleinen Sinnbildern werden würden wenn sie sich nur noch im Netz aufhielten. Die Ausarbeitung eines Vortrags. Das Thema lautete: "Der Einfluss der Technik auf die Evolution des Menschen". Wie passend. Und doch längst überholt. Seit die Programmierer die Software mit der Fähigkeit ausgestattet hatten, selbständige Entscheidungen zu treffen, sich gegenseitig wahrzunehmen, auf sich zu reagieren, wenn es nötig war, Allianzen einzugehen um so ihre eigene Effizienz und damit die des gesamten Systems zu erhöhen. Natürlich befanden sich ihre Reaktionen auf dem Niveau von einfachsten Tieren, unfähig, Forderungen zu stellen, unfähig, jemals etwas anderes zu tun als das wofür man sie geschaffen hatte. Und doch... Er berührte eines der Mitglieder dieser neuen Arbeiterklasse, wobei die Berührung rein geistig ablief und keinerlei Anstrengung abverlangte, so wie es sich für den Herren seiner Sklaven gehörte, und auf dem Bildschirm seines alten PDA erschien die Meldung, dass die Daten empfangen wurden. Arthur schaltete beide Geräte aus und gähnte. Er zog sich aus und ließ sich in die Schlafkammer fallen. Die künstlich erzeugte Schwerelosigkeit darin umfing ihn und seine Muskeln entspannten sich. Er schwebte in der Mitte der Kammer, wenn er zur Seite abdriftete, wurde ein sanfter Druck auf ihn ausgeübt, der ihn wieder ins Zentrum schob, und nach kurzer Zeit war er eingeschlafen. Warmer dichter plasmischer Nebel entstand, umspülte Arthur, drang in seine Poren und alle Körperöffnungen und sorgte dafür, dass er sich, nachdem die von seinen Organen produzierten Reststoffe entfernt worden waren, in einigen Stunden so fühlen würde wie nach einem ausgiebigen Bad in echtem Wasser, das so selten geworden war.
* * *
Der Lehrer war zu Hause, so gut wie jedenfalls. Er musste nur noch seine Karte in den dafür vorgesehenen Schlitz an der Tür stecken, ein paar Tasten drücken und schon würde sich sein Heim für genau fünf Sekunden öffnen, in denen er die Chance hatte, hineinzugehen. Fünf Sekunden waren ein Kompromiss, der einzige, der zwischen der Angst, beobachtet zu werden, die im Übrigen den einzige Grund dafür darstellte, überhaupt einen Kompromiss zu schließen, und der leider notwendigen körperlichen Bewegung des Betretens möglich gewesen war. Ein Blick auf das in der Wand seiner Küche eingelassene Display zeigte ihm, dass bereits vierundsiebzig komma fünfdreisechs Prozent der heute abgegebenen Arbeiten der Klassen c.eins, c.drei, d.zwei und f.fünf vom mit der im Bildungsministerium installierten zentralen Datenbank verbundenen Computer kontrolliert worden waren. Zufrieden nickte der Lehrer, zog sich aus, öffnete eine Dose des neuen angeblich so wirkungsvollen Energydrinks, der alles, was bisher dagewesen war, übertreffen sollte, und legte sich dann auf ein Relikt der Vergangenheit, auf sein Bett also, und klinkte sich ein ins Netz. Einige schnelle Augenbewegungen brachten ihn ins populärpsychologische Zentrum, wo er bereits einen Termin mit einem der Expertensysteme hatte, die die Psychiater in einfachen Fällen abgelöst hatten, denn die Studierten mussten sich auf gewinnbringendere Patienten konzentrieren, zu denen der Lehrer zweifellos nicht gehörte.
Die weiche Stimme eines weiblichen Sprachprozessors empfing ihn, und er nahm einen Schluck aus der silbernen Dose. Die nächste Stunde war ein gegenseitiges Frage- und Antwortspiel an dessen Ende der Computer versuchte, dem Lehrer einen Rat anzubieten, mit dem sich sein Leben, das ihn so quälte, erträglicher gestalten ließ. Schon in den Anfangszeiten, als die Computer noch große klobige Kisten auf Schreibtischen waren und sie ihre Daten auf handgroßen Plastikscheiben speicherten, in dieser Zeit wurden bereits einfache Vorgänger solcher Systeme getestet, und die Patienten, die an den Versuchsreihen teilnahmen, gaben hinterher an, sich wirklich besser zu fühlen, denn einer seelenlosen Maschine das Herz auszuschütten hatte nicht die Nachteile, mit denen sie sonst zu kämpfen hatten. Das "Was soll der nur denken, wenn ich ihm jetzt erzähle dass und warum ich dieses und jene empfinde?" war verschwunden, denn Computer konnten nicht denken, damals jedenfalls, und natürlich hatte sich das teilweise geändert, doch persönliche Meinungen, überhaupt Persönlichkeit, war ihnen noch immer fremd, und so waren sie wieder der ideale Gesprächspartner.
In einer Ecke des Bildes vor ihm erschien die blinkende Meldung 100% - Werte: 70% - 11p, 12% - 14p, 5% -10p, 13% - 4p - Ihre durchschnittliche Bewertung: 9.75 und der Lehrer stieß ein verächtliches Geräusch aus, das vom Expertensystem mit einem "Bitte wiederholen Sie. Ich habe Sie nicht verstanden" quittiert wurde. Neun komma siebenfünf. Viel zu wenig. Je niedriger die vom Ministerium ermittelte Bewertung war, desto weniger Geld würde seinem Konto gutgeschrieben werden. Er wurde nach erbrachter Leistung bezahlt, und für viel Leistung bekam er viel Geld. Und viel Leistung bedeutete in seinem Fall, dass möglichst viele seiner Schüler möglichst gute Noten bekamen. Er trank aus der Dose. Als sie leer war, warf er sie in eine Ecke. Dabei riss sie einen Bilderrahmen herunter, der sofort zersprang auf den harten weißen Kacheln, die vom weißen Licht der flackernden Neonröhre an der Decke der Küche beleuchtet wurden.
* * *
Schwarzblaue Kunststoffkugeln glänzten angsteinflößend durch die von Sonnenlicht erhellten Glaskuppeln der orbitalen Fabriken, in denen für das sorgenfreie Leben auf der Erde gesorgt wurde, zumindest für das der Leute, die es sich leisten konnten. Sie kontrollierten die Ausführung der von verurteilten Verbrechern geleisteten Arbeit und waren sofort zur Stelle, wenn es einen von ihnen wegen Missachtung der Betriebsordnung zu bestrafen galt.
* * *
Julia hatte Engelsflügel, die sie in einen virtuellen Himmel trugen. Die mikroskopischen Rezeptoren in ihrem durchsichtigen Sensoranzug simulierten das Gefühl von Wind, der sie vorwärts trieb und die von der Sonne erhitzte Haut wieder abkühlte.
"Wo bist du so lange gewesen?" hatte ihre Mutter sie gefragt, als sie erst so früh nach Hause gekommen war, und ihre Antwort hatte aus einem Achselzucken bestanden, das den nicht mehr ganz klaren Blick ihrer Mutter mit Missachtung strafte. "Antworte mir!" hatte sie noch geschrien, doch Julia war dem längst entflohen in ihre eigene künstliche Welt.
Ihre Schwingen, weit ausgebreitet und schön, brachten sie zu einem Berg, so hoch, dass dessen Gipfel nicht zu erkennen war, und auch nicht dessen Fuß, der sich in einem unendlich tief unter ihr liegenden Meer befinden musste. Jedesmal, wenn sie sich zu diesem Berg aufmachte, entdeckte sie neue Felsspalten, die, wenn Julia sie betrat, sie an neue bisher nicht gekannte Orte des Netzes brachten. Mit jedem Mal änderte sich die Struktur des Berges, neue Ziele wurden hinzugefügt, nicht mehr vorhandene entfernt.
Sie hatte bisher kein schöneres Interface gesehen, und Arthur hatte es ihr programmiert. "Die gleiche Langeweile überall...", hatte sie gesagt. "Ich kann es ändern, ich kann dir dein eigenes Reich erschaffen", hatte er geantwortet. Sie hatte ihm erzählt von den auf Papier gemalten Darstellungen phantastischer Welten, die so niemals in der Realität entstehen konnten. Doch hier war es möglich. Sie fragte sich, wie Arthur das Netz sah.
Julia überlegte, ob sie landen und in die Weiten des Netzes eintauchen sollte, doch sie fühlte sich zu müde dafür. Sie blickte in die endlosen Höhen über sich, fragte sich, ob da etwas war, aber dann flog sie nach Hause wo sich die halborganischen sensorischen Fühler aus ihrem Körper lösten und sich zurückzogen in den nass geschwitzten Anzug.
Julia öffnete ihre Augen, blickte sich müde um und öffnete den Verschluss des Anzugs.
Sie ging zur Schlafkammer auf der anderen Seite ihres Zimmers, und der Boden unter ihren Füßen fühlte sich ungewöhnlich weich an.
* * *
In den fünfundzwanzig Sekunden des nervösen Wartens schnürte sich dem Gefangenen mit der Nummer 66 / 83 vor Angst die Kehle zu, aber schließlich war es vorbei und am Himmel über den Straßen der am Meer liegenden Stadt erstrahlte für kurze Zeit ein neuer Stern, der sogar jetzt am Tage zu erkennen war.
* * *
Ein dezentes rhythmisches Summen unterbrach Arthurs Schlaf und immer noch müde öffnete er die Augen, während er gleichzeitig gähnte und mit einer Handbewegung die von der Schlafkammer erzeugten sich selbst entgegenwirkenden Schwerkraftfelder abschwächte, bis sie einen Nullwert erreicht hatten, der es ihm ermöglichte, ohne Schwierigkeiten aufzustehen.
Bis auf das Summen blieb es still. Die Sonne warf durch die Schlitze der Jalousien Dutzende nach links geneigte fünfundvierzig - Grad - Schatten auf den grauen Teppich. Über seinem Schreibtisch und dem Sessel davor hatte sich ein Holofenster geöffnet in dem der noch immer aktuelle Spruch "Sie haben Post" nach Aufmerksamkeit schrie. Der Nebel der Schlafkammer wurde abgesaugt von versteckten Ventilationssystemen die gleichzeitig angenehme Kühle erzeugten, die seine Haut trocknete.
Ein Augenzwinkern ersetzte den auch heute noch möglichen manuellen Klick auf OK. Noch ein Augenzwinkern rief den Namen des Absenders ab. Die Angewohnheit, sich im Netz Pseudonyme zu geben, wie sie zu seinen Anfangszeiten noch üblich war, hatte sich im Laufe der Entwicklung gelegt. Heute trat man sich offen gegenüber, und die frühere Anonymität war verschwunden. Die Nachricht trug die Signatur einer Regierungsbehörde. Bei so etwas war es immer besser, sich eine Kopie auf Papier zu machen, denn seltsamerweise wurden elektronische Verträge, Beweise usw. von vielen Institutionen nicht anerkannt. Ohne sich den Inhalt anzusehen, gab Arthur den Befehl zum Drucken und ging ins Nebenzimmer, um sich neue Sachen anzuziehen. Die silbrig und schwarz glänzende Kombination aus T-Shirt und Hose mit den stilisierten Totenkopfsymbolen schmiegte sich von selbst an seinen Körper als er auf die richtige Stelle an der Hose drückte. Dann las er die Nachricht.
Von: UNPD.PC23654.0An : Arthur_J_Ambrose.PC23654.2354
Mit Bedauern müssen wir Ihnen den Tod Ihres Vaters mitteilen. Während der Erfüllung seiner Pflicht in Orbitalfabrik Haven verstarben er, zwölf weitere Mitarbeiter sowie alle Verurteilten an den Folgen einer Explosion deren Ursache bis jetzt ungeklärt ist. Es wird angenommen, dass es sich um einen Anschlag handelt, die Ermittlungen laufen jedoch noch. Als Vollwaise steht Ihnen für die Zeit, in der Sie Ihre Schulausbildung vollenden, ein staatlicher Unterhalt in Höhe des Gehaltes Ihres Vaters zu. Sie können sich unseres Beileids gewiss sein.
MfG United Nations Police Department,
(2048-03-26 14:28 UTC)
* * *
Trotz der wohligen Wärme, die ihren Körper umgab, konnte Julia keinen Schlaf finden. Ihre Haut glänzte vom Nebel der Kammer und ihr Atem ging schnell. Sie legte eine Hand auf ihr Herz und versuchte, sich durch Konzentration auf den Rhythmus in Trance zu versetzen und auf diese Weise etwas Ruhe zu finden. Nach neun erfolglosen Minuten gab sie es auf. Sie überlegte, was sie nun machen sollte. Sie dachte daran, etwas für die Schule zu tun. Sie fragte sich, wie lange ihre Mutter es noch aushalten würde bevor sie sich endgültig im Suff verlor. Streiflichtartig sah sie Arthurs Gesicht vor sich. Julia schloss die Augen und nahm die Hand vom Herzen, und wie zufällig streifte sie dabei ihre Brust, und ein angenehmer Schauer durchströmte sie. Die Ziffern der Uhr auf ihrem PDA erhöhten sich, und als sie die volle Stunde anzeigten, war Julia endlich eingeschlafen.
* * *
Wild verstreute Kleidung. Auf dem Boden des Zimmers. Das mit den Jalousien. Also wieder zurück bei Arthur. Sein Sensoranzug dringt in seinen Körper ein. Er stellt die Intensität der Rezeptoren auf die höchste Stufe. Die Sicherheitswarnungen ignoriert er. "Mach schon, mach schon, mach schon!" befiehlt er dem System, ungeduldig, weil es ihm nicht schnell genug geht. Froh, in dieser Welt zu leben. Die ständige Möglichkeit zur Flucht. Drei unsichtbare Muskelzuckungen. Er ist da. Zwölf Krediteinheiten, von seinem Konto abgehoben. Abfrage des Altersnachweises. Blitzartige Bildwechsel. Er spürt den brennenden Schmerz. Mehr als sonst. Fast unerträglich. Von den Rezeptoren ausgesandte Stromstöße durchlaufen seinen Körper, der sich in spastischen Krämpfen ergeht, während sein Atem immer mehr rast und er keine Luft mehr bekommt und weil er die Sicherheitssysteme abgeschaltet hat, gibt es nichts, das ihn davor bewahrt, hier und jetzt in einer Simulation eines Computer zu sterben, während einer Kakophonie aus Farbe, Ton, Geschmack, Geruch und Schmerz, die seinen Geist verbrennt, der dem nicht mehr gewachsen ist, während sein Körper sich immer noch bemüht, anzukämpfen gegen die unnatürlichen Einflüsse, die ungehindert ungefiltert die Synapsen zerstören.
* * *
Um siebzehn Uhr achtundzwanzig wachte Julia aus ihrem kurzen Schlaf auf. Sie zog sich einen schwarzen Overall an. In eine der Taschen steckte sie ihr PDA. In einer Stunde war Sonnenuntergang. Ihr fiel auf, dass noch Aufgaben ausstanden, die sie hätte erledigen müssen. Sie hatte keine Lust, darüber nachzudenken. Sie würde nicht abgefragt werden; ihre Bewertung war schon seit Wochen hoch genug.
Sechzehn Minuten später verließ sie die Wohnung. Langsam ging sie in Richtung des Parks, und ihre Schuhe hallten vom Boden wieder. Sie genoss die laue Abendluft und das noch gelbe Licht der tiefstehenden Sonne, das sich bald über Orange in Rot verwandeln und dann verschwinden würde. Einige Vögel flogen von Baum zu Baum, und wenn sie sich auf einen Ast setzten und sich gegenseitig betrachteten, sangen sie. Julia sah Mücken, die in Schwärmen die Spaziergänger umkreisten. Der Sand, die Bäume und die Sträucher dufteten nach dem Regen, der schon den ganzen Tag lang in kleinen Schauern gefallen war. Einzelne Tropfen liefen die Blätter entlang und fielen zu Boden. Regenbögen lagen über dem Meer.
Siebzehn Uhr fünfzig setzte Julia sich auf die Bank aus Marmor und wartete auf Arthur. Währenddessen beobachtete sie die Menschen, die an ihr vorbeigingen. Ein paar Kinder rannten zur Schule. Schön war es zu sehen, wie unbeschwert sie waren. Sie hatten das Schlimmste noch vor sich. Der Gegensatz dazu: zwei alte Frauen mit weißen Haaren, die ihre Zeit hinter sich gelassen hatten. Sie beschwerten sich über die heutige Welt, über die Gottlosigkeit der Menschen, sie ärgerten sich über die Kinder und darüber, dass Julia ihnen den Platz auf der schönsten Bank des Parks wegnahm. Sie ließ sich davon nicht beeindrucken. Von der anderen Seite kam ein uralt aussehender Mann, der sich auf die Erde neben der Bank setzte und eine Violine aus einem Lederkoffer holte; eine echte Violine, aus Holz und mit Saiten, kein elektronisches Imitat mit Rezeptoren und Synthesizern. Julia hatte so etwas noch nie gesehen. Der alte Mann ignorierte ihre verwunderten Blicke und begann zu spielen. Seine schmalen Augen hatte er dabei geschlossen. Etwas gelangweilt spielte sie mit dem Verschluss ihres Overalls. Die langsame Melodie machte sie schläfrig, und sie hatte Mühe, in dieser angenehmen Abendstimmung die Augen offenzuhalten. Für einen kurzen Moment hatte sie Lust, die Nacht hier zu verbringen und nicht zur Schule zu gehen. Sie überlegte, ob sie nicht wenigstens den Sonntag hier verbringen sollte, vielleicht zusammen mit Arthur.
Viertel nach sechs tauchte er auf. Die Farbe des Himmels begann sich zu wandeln. Er stand vor ihr und versperrte den Blick auf die Sonne. Seine Hände zitterten, ebenso seine Beine. Nach Sekunden, die seltsam gedehnt wirkten, setzte er sich neben sie, ohne ein Wort zu sprechen. Besorgt blickte Julia ihn an, doch er beachtete sie nicht. Statt dessen hörte er der Musik des alten Mannes zu, sein Gesicht bekam einen verträumten Ausdruck. 'Was ist mit dir?', dachte Julia, doch sie hatte nicht den Mut zu fragen.
Die wenigen Wolken über dem Meer schimmerten. Ihr Silber wurde durchdrungen von gelben und roten Strahlen. Ganz langsam wurde es dunkler im Park.
Julia stieß Arthur leicht an. Sie wollte nicht, dass er es verpasste. Wortlos öffnete er wieder seine Augen. Durch das Glänzen am Himmel geblendet neigte er den Kopf, so dass er nicht mehr direkt hinauf schaute. Das Zittern hatte sich gelegt. Er atmete tief ein und aus. Langsam ging es ihm besser, obwohl seine Augen eingefallen und gerötet in ihren Höhlen lagen.
Die Sonne war kleiner geworden. Am Horizont stand nun eine rote, leicht ins rosa gehende, schmale Ellipse, die immer weiter im Meer versank. Der Himmel nahm ihre Farbe an. Schatten tauchten die Bank in Dunkelheit, Julia seufzte. Arthur schenkte ihr ein schwaches, fast unsichtbares, Lächeln, das sie müde erwiderte.
Die Vögel verstummten. Der Violinenklang wurde leiser, erweckte jetzt den Eindruck eines Traumbildes, das sich langsam auflöste.
Gleichzeitig erhoben sie sich von der Bank und schauten zwei Möwen hinterher, die zur Sonne flogen. Bald waren sie nicht mehr zu erkennen. Die Musik wurde wieder lauter; tiefere Töne, nur zwei verschiedene, die sich langsam abwechselten, und als die Sonne verschwunden war, hatte der alte Mann sein Lied beendet. Starr blickte er auf das dunkle Wasser.
Kälte kam auf. Julia zog ihren Overall enger. Sie verließen den Park. Sie hatten noch eine halbe Stunde Zeit, um die Schule zu erreichen.
* * *
"Arthur, bitte beginnen Sie!" erklang die gönnerhafte, leicht überhebliche Stimme seines Lehrers. Er hatte gewusst, dass es so kommen würde. Dass er seinen Vortrag vor allen anderen halten musste.
"Ich... kann nicht erst ein anderer?" fragte er, und seine Stimme klang weinerlich als er nach Unterstützung in der Klasse suchte.
"Warum möchten Sie nicht anfangen?" wollte der Lehrer wissen, und irgendwo erklang der leise Kommentar "Jetzt fängt der Alte wieder mit seinen Analysen an..."
"Ich habe Angst." antwortete Arthur in einem Tonfall, der eigentlich klarmachte, dass das keinesfalls die Wahrheit war, dass er in Wirklichkeit nach einer Möglichkeit suchte, es hinauszuzögern, weil er simplement keine Lust hatte.
"Warum haben Sie Angst? Wovor?"
Das Interesse des Lehrers war erwacht, und wenn Arthur und der Kurs Glück hatten, würde sich das Spielchen über die restlichen siebzehn Minuten der Stunde erstrecken.
Gespielt verunsichert blickte Arthur zu Boden. Er sagte nichts, und das stachelte seinen monsieur professeur weiter an.
"Sehen Sie" setzte der Lehrer, jetzt nicht mehr auf Französisch, zu einer umfassenden Einschätzung von Arthurs Person an. "Irgendwie krank, sowas, ich meine, sich die Schüler vorzunehmen und an ihnen das auszuprobieren, was man irgendwann mal über Psychologie gelesen hat", sagte jemand.
"Schon seit einiger Zeit beobachte ich Sie, und ich bin etwas besorgt", fuhr er fort. "Wenn ich mir Ihre Mitschüler in ihrem Verhalten ansehe und sie dann mit Ihnen vergleiche... Sie sitzen oft alleine an einem Tisch in der Cafeteria, und Sie... zeichnen. Während alle anderen im Netz unterwegs sind, lesen Sie ein Buch. Gedruckt auf Papier. Denken Sie nicht, dass das etwas... ineffizient ist? Nun, wie auch immer... wenn ich sowas sehe, dann drängt sich mir der Gedanke auf... Da stimmt doch was nicht. Und ich weiß nicht, was ich mit Ihnen machen soll."
Geheuchelte Verzweiflung legte sich über den Triumph im Blick des professeur. Wie ein Aasgeier wartete er auf eine Antwort, auf die er sich dann stürzen und sie ausweiden konnte.
"Glauben Sie mir... mein Computerkonsum ist absolut ausreichend... haben Sie sich mal meine Augen angesehen?"
Erst jetzt fiel dem Lehrer Arthurs angestrengter Blick auf, die Gequältheit seines Gesichtsausdrucks, der auf das einzige wirkliche Problem hindeutete, das kein Therapeut der Welt beseitigen konnte.
"Wenn Sie nicht mal in der Lage sind, das zu erkennen... wie kommen Sie zu der Anmaßung, sich Gedanken über die Psyche anderer Leute zu machen?"
Nach diesem mit schärfster Verachtung ausgestoßenen Satz stand Arthur auf und verließ schweigend das chambre. Sechzehn Augenpaare folgten seinen ruhigen Schritten.
Schwere Stille legte sich über den Französischkurs der Klasse c.zwei. Eine Stille, die bis zum Ende der Stunde anhielt. Schweigend gingen die Schüler zur Tür hinaus. Als der Lehrer allein war, nahm er sein PDA zur Hand und machte einen Termin im Psychologischen Zentrum. Er brauchte dringend Hilfe. Ganz ganz dringend sogar.
* * *
Draußen war es kalt. Julia und Arthur standen inmitten einer Gruppe aus mehreren Schülern, die sie irgendwie als Freunde ansahen. Sie taten das, was Schüler schon immer taten: auf anderen Vertretern dieser seltsamen Spezies rumhacken und über sie lästern, und jeder wusste, dass auch er selbst das Opfer von Gerüchten wurde, wenn er nicht anwesend war. Und es störte niemanden, denn es gehörte dazu.
Die Stunden nach dem Zwischenfall im Französischkurs waren relativ ereignislos verlaufen. Arthur hatte Julia von seinem professeur erzählt, und irgendetwas daran schien sie lustig zu finden.
Für Arthur war die Schule vorbei; Freitags hatte er nur sechs Stunden und konnte so sehr früh nach Hause kommen, wenn er sich beeilte, noch vor eins. Er bedauerte, dass Julia noch nicht Schluss hatte, er wollte ihr von einigen Dingen erzählen. Vor allem davon, warum er heute so seltsam war. Vielleicht hatte sie schon eine Ahnung, vielleicht auch nicht, aber er wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte. Oder... doch, irgendwie schon. Aber sich das einzugestehen war sehr schwer, und er versuchte, dieses Denken abzustellen.
Er verabschiedete sich von den anderen und machte sich auf seinen kurzen Weg zu der Wohnung, die man ihm bald wegnehmen würde wenn er nicht eine Möglichkeit fand, sie nach dem Abschluss zu finanzieren.
Aus irgendeinem Grund blickte Arthur zum Himmel. Er sah bunte Werbeholos, das Blinken der Positionslampen von Flugzeugen und Raumschiffen und, herausfallend aus der von Menschen erzeugten Welt, den alten Mond, dessen blasses Leuchten schon lange nicht mehr zur Orientierung in der Nacht genutzt wurde.
Sterne sah er nicht. Sterne... noch nie hatte er einen Stern mit eigenen Augen gesehen, außer der Sonne natürlich. Er hatte vier Stunden Astronomie in der Woche, aber den Anblick eines klaren Sternenhimmels kannte er nur aus Lehrprogrammen im Netz. Es gab noch viele unberührte Orte auf der Erde, wo man das Band der Milchstraße noch ungetrübt erkennen konnte, aber wer in einer so großen Stadt geboren wurde, verließ sie selten, außer zu Flügen in andere große Städte, in denen ebenfalls nichts zu sehen war. Irgendwie bedauerte er das. Er fragte sich, ob sein Vater jetzt irgendwo dort oben war und ihn beobachtete, aber im gleichen Moment merkte er, wie kindisch solche Gedanken waren, und sofort verdrängte er sie. Da stimmt doch was nicht. hörte er die körperlose Stimme seines Lehrers. In der Tat. Da stimmt was ganz und gar nicht. dachte er und setzte seinen Weg nach Hause fort. Er musste nachdenken. Er würde heute nicht mehr weggehen.
* * *
Es ist Sonntag. Der einzige Tag, an dem die Stadt zur Ruhe kommt. Und Julia liegt auf einer Decke neben der Bank aus Marmor und lässt sich von der Sonne wärmen. Wie Arthur hat sie blasse Haut, aber dank der menschlichen Fähigkeit sich alles Untertan zu machen geht von den Strahlen heute keine Gefahr mehr aus.
Arthur sitzt neben ihr. Er hat Julia alles erzählt, sie hat ihn getröstet, ihm Mut gemacht.
"Wer weiß mit wem etwas nicht stimmt." hat sie gesagt.
"Wie meinst du das?" hat er geantwortet.
"Woher wollen die Menschen wissen, was normal ist und was nicht? Sie halten etwas für normales Verhalten, wenn alle es tun, weil es dann als typisch für die Spezies angesehen werden kann. Nur sind wir keine Tiere, die immer enge Grenzen zu befolgen haben. Bei den Menschen ändert sich das Normale mit jeder Minute. Ständig tauchen neue Dinge auf, die wenig später als normal gelten. Letztendlich ist dabei aber gar nichts mehr normal."
Der Himmel ist beherrscht von Blau. Die Hitze, die so stark ist wie lange nicht mehr macht die Menschen müde. Julia legt die Hand auf ihre Augen. Arthur blickt in eines seiner alten ach so ineffizienten Bücher aus Papier.
Monsieur professeur hängt jetzt bestimmt im Netz. Da stimmt doch was nicht. Er lacht leise. Ein dumpfer Schlag ertönt. Julias Arm ist auf die Decke gefallen. Sie schläft. Arthur sieht sie an und seufzt. Als er sich wieder dem Buch zuwenden will, hört er bekannte Klänge hinter sich. Es ist der Klang der Violine. Er spürt den alten Mann hinter sich. Es ist das Lied vom Sonnenuntergang. Als es beendet ist, dreht sich Arthur um und will den Mann etwas fragen, doch er ist bereits weit entfernt, und bevor er ihn erreichen kann, biegt er um eine Ecke und ist verschwunden. "Wer ist das?" fragt sich Arthur. Nachdenklich geht er zurück zu ihrer Decke. "Was ist los..." fragt Julia im Halbschlaf. "Nichts..." flüstert er. Mit dem zugeklappten Buch in der Hand blickt er aufs Meer hinaus. "Nur Sonntag ist..." fügt er hinzu.