Der Kirschbaum
Ich mag diesen Ort sehr. Überall um das Tal herum sind Berge und es fließt ein kleiner Bach direkt an einem Wald vorbei. In der Mitte des Tales ist eine große, dicke Weide.
Seit Jahren komme ich jeden Tag hierher und warte. Sehe einer unbekannten Zukunft entgegen. Ein weiser Mann sagte einmal zu mir, dass hier der perfekte Ort sei, um das zu finden, wonach ich suche. Viel Zeit ist seitdem vergangen, doch ich habe nicht aufgehört zu warten. Ich erinnere mich besonders an die Winter. Einmal fing es an zu schneien und ich habe mich unter einen Baum gestellt. Nach vielleicht zwei Stunden hörte der Schnee auf. Ich blieb die ganze Zeit stehen und sah den Schneeflocken fallen zu. Ich erinnere mich noch gut an die Kälte, die ich damals spürte. Ich machte ein Feuer aus herumliegendem Holz, doch es konnte mich nicht wärmen.
Eines Tages im Frühling lag ich im Gras und schaute in den Himmel, als ich bemerkte, dass ein Mädchen vorbeigelaufen kam. Sie blieb bei mir stehen und gemeinsam aßen wir Kirschen, die sie in einem Korb mit sich trug. Wir saßen zusammen im Gras und spielten mit einem Maikäfer, der sich auf ihren Fuß gesetzt hatte. Am nächsten Tag kam sie wieder vorbei und brachte mir Kirschen. So fingen wir an jeden Tag zusammen zu verbringen. Ich zeigte ihr die Berge, das Tal, die Wälder. Wir fischten im Bach, lagen zusammen im Gras und schauten in den Himmel. Jeden Tag kam sie vorbei und brachte mir Kirschen. Der Sommer verging so sehr schnell und ich bemerkte irgendwann, dass ich nichtmehr ins Tal ging, um zu warten. Ich ging ins Tal, um sie zu sehen.
Am Ende des Sommers beschlossen wir gemeinsam einen Kirschbaum zu pflanzen, um irgendwann seine Kirschen ernten zu können. Bis es soweit sein sollte, wollten wir jeden Tag ins Tal gehen, um den Baum zu pflegen, zu gießen und ihn großzuziehen. Also grub
sie mit ihren Händen ein Loch in der Nähe des Baches. Sie nahm einen Kern und legte ihn in das Loch. Beide sprachen wir unsere Wünsche in Gedanken aus und legten sie mit dazu. Sie verschloss das Loch und schaute mich mit einem Lächeln an. Wir legten uns danach Kopf an Kopf ins Gras und schauten in den Himmel. Er war tiefblau und einige kleine Wolken zogen vorbei. Wir schliefen ein und als ich aufwachte, schlief sie noch immer. Dabei lächelte sie ein wenig. Ich war glücklich.
So verbrachten wir auch den Herbst gemeinsam. Wir sahen, wie die Blätter sich färbten, die Vögel in den Süden flogen und die Bäume langsam kahl wurden. Ich fand heraus, dass sie an jenem Tag im Frühjahr nur durch Zufall den Weg durch das Tal nahm. Sie lebte weit entfernt und ging für gewöhnlich den Pfad durch die Berge. An jenem Tag gab es jedoch eine Steinlawine und der Weg wurde unpassierbar. Also lief sie durch das Tal und wir begegneten uns. Dafür bin ich heute sehr dankbar und frage mich manchmal wie alles gelaufen wäre, hätte es nie diese Lawine gegeben. Sie wäre wahrscheinlich nie durch das Tal gelaufen, wir wären uns nie begegnet und hätten nie diesen wundervollen Kirschbaum pflanzen können, der heute mehr Kirschen trägt, als irgendein anderer Baum, den ich kenne.
Wir hielten unser Versprechen und kamen jeden Tag ins Tal. Als die Pässe im Winter gefroren waren, blieb sie bei mir. Es wurde oft sehr kalt, doch es machte mir nichts aus, da wir zusammen waren. Ich spürte die Kälte kaum. In meinem Inneren war jeder Tag der Tag, an dem das Mädchen mir Kirschen brachte. Wir gingen manchmal am Bach Eisfischen, oder spielten mit dem Schnee. Jedes Mal wenn wir Fußspuren im Schnee entdeckten, gingen wir ihnen nach. Manchmal sahen wir Rehe oder Wildschweine. Ich erinnere mich an eine Schneeeule im Wald. Sie saß auf einem nicht allzu hoch gelegenem Ast und beobachtete uns. Plötzlich flog sie los und kreiste über unseren Köpfen. Dann setzte sie sich auf einen Ast in Kopfhöhe und gab Laute von sich, als ob sie uns etwas mitteilen wollte. Ich erkannte in ihr den Geist des weisen Mannes, der mir einst den Rat gab in diesem Tal zu warten. Am nächsten Tag ging ich allein in den Wald, um die Eule aufzusuchen und mich bei ihr zu bedanken. Ich fand sie auf einer Weide sitzend in einer Lichtung in der Mitte des Waldes. Als sie mich entdeckte, flog sie auf den Boden und zeigte auf eine Stelle. Ich beseitigte den Schnee und fing an mit einem Ast, den ich gefunden hatte zu graben. Unter der Wurzel des Baumes war ein wundervoller, türkisblauer Stein versteckt, der schönste den ich je sah. Nachdem ich das Loch wieder verschlossen hatte flog sie davon.
Als es wärmer wurde und der Schnee anfing zu schmelzen, verbrachten wir wieder mehr Zeit im Tal. Eines Tages, als wir in die Nähe des Baches kamen, rannte sie plötzlich los. Als ich sie erreichte, sah ich, dass an der Stelle, an der wir den Kern vergruben haben, ein kleiner Trieb aus dem Boden sprießte. Nicht sehr groß, aber doch hoch genug, dass er das Gras um ein Stück überragte und man ihn deutlich ausmachen konnte. Unsere Freude war groß.
Als die Pässe wieder frei wurden, musste sie zurück in ihre Heimat. Ich fertigte einen Ring aus dem Stein, den ich im Wald gefunden hatte und schenkte ihn ihr. Ich blieb im Tal, um auf den Baum aufzupassen und versprach ihr auf sie zu warten. Es war das erste Mal, dass wir voneinander getrennt waren. Die Tage und Nächte waren lang. Jede freie Minute musste ich an sie denken.
Eines Tages mitten im Frühjahr erwachte ich, nachdem ich eingeschlafen war und sie saß bei mir. Neben ihr stand ein Korb voller Kirschen. Wir aßen sie gemeinsam und beschlossen, dass wir nie wieder voneinander getrennt sein wollen und für immer im Tal bleiben. Der Baum wuchs heran. Wir waren Eins, sie wurde ein Teil der Welt, ich der andere und nur zusammen waren wir vollständig. Wir fingen an uns ein kleines Holzhaus zu bauen. Wir fällten Bäume, bearbeiteten Bretter und zimmerten uns Stück für Stück unser Haus, direkt am Bach, mit Blick auf den Kirschbaum.
Heute hat es wieder geschneit. Ich sitze auf einer Bank und betrachte ihn. Seine Äste sind mit Schnee bedeckt. Alles ist still. Die Schneeflocken tanzen in der Luft. Im Haus brennt ein Feuer im Kamin. Ich bleibe noch ein wenig sitzen und hänge meinen Gedanken nach. Sie kommt raus und nimmt meine Hand. Beide schauen wir in den Schnee ohne etwas zu sagen. Seit jenem Tag im Frühling, als das Mädchen mir Kirschen brachte, war mir nie mehr kalt.