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Der Keller
Das Maison Rimbaud in der Rue de la Vierge hatte als eines der ältesten Häuser von Saint-Brieuc gegolten. Nun musste es abgerissen werden, um dem Neubau eines Autobahntunnels zu weichen. Commandant Gustave Joubert stand am Rande der Baugrube, und blickte auf das herab, was von der Villa noch übrig war. Sie hatte die vergangenen 20 Jahre leer gestanden und war dem Verfall preisgegeben gewesen. Dennoch empfand Joubert ein wenig Wehmut. Es war ein imposantes Gebäude gewesen, mit einer wechselhaften und geheimnisvollen Vergangenheit. Es hatte sich zuletzt im Besitz des exzentrischen Kunstsammlers Armand Leduc befunden, der 1975 unter mysteriösen Umständen spurlos verschwunden war.
Bei den Abbrucharbeiten waren die Bauarbeiter auf mutmaßlich antike Mauerreste gestoßen, so dass die Arbeiten gestoppt und das archäologische Institut der Universität in Rennes verständigt worden war. Die Archäologen hatten schließlich hinter einer alten Holztür menschliche Überreste entdeckt. Es hatte sich dabei um vollständig verweste, allem Augenschein nach sehr alte menschliche Skelette gehandelt, doch auf Grund der Artefakte, die man bei ihnen gefunden hatte, hatten sich die Archäologen gezwungen gesehen, die Kriminalpolizei zu verständigen. Insbesondere der sehr unterschiedliche Grad der Verwesung der einzelnen Skelette hatte den Verdacht erregt, dass man es nicht mit einem antiken Grab zu tun hatte. Der Fall war auf Jouberts Schreibtisch gelandet, und er hatte sich sofort an die Geschichte um Leducs Verschwinden erinnert, die zwar vor seiner Versetzung als junger Polizeianwärter zur Kommandantur in Saint-Brieuc im Jahre 1978 stattgefunden, doch landesweit eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit erregt hatte.
Leduc, ein schrulliger Kunsthändler und Sammler, der ursprünglich aus der Auvergne stammte, hatte das Anwesen nach dem 2. Weltkrieg vom französischen Staat gekauft, nachdem es während des Krieges von der Gestapo als Hauptquartier und Vollzugsanstalt für politische Gefangene genutzt worden war. Leduc war äußerst gewieft darin, Gemälde und Kunstgegenstände von regionalen Künstlern günstig zu erstehen, und überteuert an die lokale Oberschicht zu veräußern. Sein Geschäft lief ausgezeichnet, und bald schon wuchs seine Sammlung auf ein Volumen an, das ihn dazu inspirierte, kleinere Kunstausstellungen in seinem Haus zu arrangieren, die sehr beliebt waren und über die Grenzen der Bretagne hinaus bekannt wurden. Schließlich hatten sein Handel und seine Ausstellungen ein solches Ausmaß angenommen, dass er sich genötigt sah, größere Renovierungs- und Umbaumaßnahmen an dem Gebäude vornehmen zu lassen. Das Haus an sich, mit seinen drei Stockwerken, dem Erkertürmchen an der zur Straße zugewandten Seite und dem halbrundförmigen Anbau an der Westfassade, war von seiner Größe her durchaus geeignet für Veranstaltungen wie Vernissagen oder auch Kunstauktionen, doch war es etwas in die Jahre gekommen, und durch die Wehrmacht waren im Inneren etliche Wände neu gezogen oder verschoben worden und hatten dem Haus dadurch eher den Charme eines Verwaltungsgebäudes denn des eines repräsentativen Haus der Künste verliehen. Die Arbeiten im und am Haus hatten etwa zwei Monate angedauert, als sie schließlich im März 1975 zum Erliegen kamen. Leduc hatte die Umbaumaßnahmen penibel genau überwacht. Doch am 2. März war er spurlos verschwunden. Bauarbeiter hatten ihn noch am Tag seines Verschwindens im Haus gesehen, doch das war der letzte Hinweis auf seinen Verbleib. Er war wie vom Erdboden verschluckt, und auch eine großangelegte Suche konnte nicht klären, was mit ihm geschehen war. Die Suche war nach einem halben Jahr ergebnislos abgebrochen und die Kunstsammlung und das Anwesen in Ermangelung eines Testamentes und eines direkten Nachkommens an eine Nichte Leducs übergeben worden. Das Maison Rimbaud selbst hatte sie kurz danach weit unter Wert an die Stadt verkaufte, weil sie in Paris lebte und sich nicht um die Immobilie kümmern konnte Die Stadt hatte das Maison Rimbaud nicht lange genutzt, und in der Folge hatte das Gebäude leer gestanden und war zusehends verfallen.
Eine der ersten Dinge, die Joubert bei seiner Ankunft in der Rue de la Vierge aufgefallen war, war ein unangenehmer Geruch, der über der Baugrube hing. Das Haus war bereits größtenteils abgetragen und der Schutt abtransportiert worden, und die Bagger hatten damit begonnen, die weitläufigen Kellergewölbe auszugraben. Viele der Bauarbeiter und das Team der Spurensicherung, das bereits vor Ort war und mit dem Aufbau ihrer Gerätschaften begonnen hatte, trugen Atemschutzmasken, weil dieser üble Gestank rund um den Fundort der Leichen ohne sie nicht auszuhalten war. Joubert tat es ihnen gleich, und hatte sich Arbeitsschuhe angezogen, um sicher über das lose Geröll hinab zu der Holztür zu klettern. Dort zog er sich Plastiküberzüge über die Schuhe und betrat den kleinen Raum, in dem die Leichen lagen. Hier drinnen war der Gestank noch intensiver, und Joubert vermutete die Ursache dafür bei den verwesten Leichen, aber am Verwesungsgrad war ersichtlich, dass diese schon sehr lange, mindestens mehrere Jahre dort gelegen hatten, ja, einige fast schon zu Staub zerfallen waren. Der Gestank schien seinen Ursprung in dem Raum selbst zu haben, und in dem, was hinter den drei Türen lag, die Joubert im Halbdunkel in den Seitenwänden des Raumes erkennen konnte. Er betrachtete die Skelette lange, kniete sich nieder, um sie im Licht der aufgebauten Baustrahler besser untersuchen zu können. Das Auffinden lag noch keine zwei Stunden zurück, und die Forensiker hatten die Leichen noch unberührt gelassen. Sie waren nebeneinander an die Wand neben der Eingangstür gelehnt. Es waren nur noch die Knochen da und Fetzen von Kleidung, ansonsten waren Organe, Muskeln und Haut vollständig verwest. Sie waren klein, und Joubert schauderte, denn es musste sich augenscheinlich um Kinder handeln. Allerdings hatten sie unterschiedliche Proportionen, von denen drei nicht zu denen von Kindern passten. Bei der Leiche, die am nächsten bei der Tür lag, war der Verwesungsprozess im Verhältnis am wenigsten fortgeschritten, auch wenn Joubert grob einschätzen konnte, dass auch sie schon mehrere Jahrzehnte dort gelegen haben musste. Doch während bei den anderen vier Skeletten keinerlei Überreste außer der Knochen vorhanden war, hatte diese Leiche noch Überreste von Kleidung, sowie eine verrostete Taschenlampe, eine Armbanduhr, einen Kompass und drei zylinderförmige Gegenstände, die wie Batterien aussahen.
Joubert stand auf und blickte sich in dem Raum um. Er schätzte ihn auf etwa 30 Quadratmeter. Der Boden war festgetretenes Erdreich, und die Wände stark verwittertes Mauerwerk. An den drei anderen Wänden befand sich jeweils eine weitere Holztür. Über den Türen waren unterschiedliche, ihm unbekannte Symbole in die Wand geritzt. Der Raum war von der Spurensicherung noch nicht freigegeben, und so ging Joubert wieder hinaus. Er unterhielt sich noch kurz mit dem Vorarbeiter, der die Leichen entdeckt hatte, und dem Leiter der Spurensicherung, und fuhr dann zurück in die Kommandantur.
Während er die nächsten Tage auf die Ergebnisse der forensischen und pathologischen Untersuchungen wartete, und der Abgleich mit der Datenbank von vermissten Personen, insbesondere Kindern, keine nützlichen Ergebnisse lieferte, verbrachten er und die Ermittlungsgruppe die meiste Zeit damit, sich durch einen Stapel alter Dokumente und Bücher zu arbeiten, um etwas über das Maison Rimbaud in Erfahrung zu bringen. Sie stießen auf Akten, die das seltsame Verschwinden von Armand Leduc dokumentierten. Er galt seit 1975 vermisst. Möglicherweise stand der Fund der Leichen im Zusammenhang mit Leducs Verschwinden. Ihm kam der schlimme Verdacht, dass Leduc möglicherweise Kinder entführt und in seinem Keller gefangen gehalten hatte, und schließlich abgetaucht war. Das war nun 40 Jahre her, und einer groben Schätzung zufolge müsste Leduc heute über 90 sein, falls er noch lebte. Da dies durchaus im Bereich des Möglichen lag, ließ Joubert alte Fotos von Leduc so nachbearbeiten, dass sie einen alten Mann zeigten, der einem 90-jährigen Leduc ähneln könnte, und eine landesweite Fahndung nach ihm ausschreiben.
Aus den gut erhaltenen Dokumenten ließ sich eine ereignisreiche Geschichte des Maison Rimbaud nachzeichnen. Natürlich hatte Joubert gewusst, dass das Maison Rimbaud geheimnisumrankt war, hielt sich aber lieber an Fakten. Nur so war für ihn erfolgreiche Ermittlungsarbeit möglich. Es wurde vermutet, dass sich an der Stelle, an der das Haus bis zuletzt gestanden hatte, eine römische Siedlung befunden hatte, und das Maison auf oder zumindest über dessen Grundmauern erbaut worden war. Erstmals urkundlich erwähnt war ein kleines Schlossgebäude an der jetzigen Stelle im Jahr 1483, aus einer Schenkungsurkunde des Klosters Boquen. Danach war es in den Besitz der alten Adelsfamilie de Villeblanche gefallen, die wegen verschiedener blutrünstiger Familienstreitigkeiten und unerklärlicher Sterbefälle eine zweifelhafte Bekanntheit in der Bretagne erlangt hatte. Der letzte Graf, Geoffrey de Villeblanche, verstarb kinderlos 1851. Er soll in seinen letzten Lebensjahren dem Wahnsinn anheimgefallen sein. Er hatte behauptet, in seinem Schloss von Geistern verfolgt zu werden. Das Schloss verfiel in den folgenden Jahren zusehends, bis der Unternehmer Claude Rimbaud, der sein Vermögen mit dem Ausbau der Eisenbahn in der Bretagne gemacht hatte, große Teile des ursprünglichen Schlosses abreißen und an seiner Stelle eine repräsentative Villa im Stil der Belle Époque errichten ließ. Rimbaud hatte sich auf seinem Dachboden erhängt, nachdem innerhalb eines Jahres zunächst seine Frau an Tuberkulose verstorben war, und seine beiden Töchter beim Spielen im Keller spurlos verschwunden waren. Danach fiel das Haus an die Stadt, da Rimbaud keine Erben hatte, und die richtete dort ein Sanatorium ein. Es gab zahlreiche Geschichten von Spuk und Geistererscheinungen in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts. Für Joubert klang das nach einem Klischee, war doch diese Zeit eine goldene Ära für derart Hirngespinste. Im Ersten Weltkrieg diente die Villa als Lazarett, und die Spukgeschichten hielten sich auch die nächsten Jahre, als das Gebäude leer stand. Nachdem sie in den 1920er Jahren eine Zeitlang als Hotel genutzt wurde, und die Gäste immer wieder über seltsame Klopfgeräusche und Geistererscheinungen berichteten, und es zu seltsamen Todesfällen gekommen war, galt die Villa endgültig als heimgesucht und verflucht. Sie stand dann bis zum Zweiten Weltkrieg leer, bis die Gestapo dort einzog. Schließlich war sie in Armand Leducs Besitz übergegangen.
Der vorläufige Bericht aus der Pathologie erreichte Joubert zwei Tage später, und er brachte verwirrende Ergebnisse. Bei den obduzierten Leichen handelte es sich um drei erwachsene Männer und zwei Mädchen. Die Männer wurden auf ein Alter zum Zeitpunkt des Todes zwischen 50 und 80 Jahren geschätzt, die der Mädchen auf zwischen sieben und zehn Jahren. Hier stutzte Joubert das erste Mal. Der Größe der Skelette nach zu urteilen musste es sich bei allen fünf um Kinder handeln. Oder waren es kleinwüchsige Männer gewesen? Und noch etwas war erstaunlich: alle Leichen waren mehrere hundert Jahre alt, die älteste wurde gar auf ein Alter von über 2000 Jahren geschätzt. Joubert war verwirrt. Er wusste, dass die Menschen vor so vielen hunderten von Jahren deutlich kleiner als heutige Menschen gewesen waren. Aber so klein? Keines der Skelette war viel mehr als etwa eineinhalb Meter groß gewesen. Und wenn die beiden Kinderskelette die Töchter von Rimbaud waren, die vor 100 Jahren verschwunden waren, wie konnten ihre Überreste dann auf mehrere hundert Jahre geschätzt werden? Entweder es war bei den Untersuchungen ein Fehler unterlaufen, was Joubert bezweifelte, oder sie hatten es mit wirklich alten Funden zu tun. Dass eines der Skelette über 2000 Jahre alt gewesen sein sollte, käme einer archäologischen Sensation gleich. Das hieße, dass man tatsächlich auf Mauerreste aus der Römerzeit gestoßen war, und das würde die Vermutung bestätigen, dass das Maison Rimbaud, oder besser gesagt, deren Vorläuferbauwerke, wirklich sehr alt waren. Doch was dazu gar nicht passen wollte war die unwiderlegbare Tatsache, dass man bei einer Leiche einen metallischen Gegenstand gefunden hatte, der einer batteriebetriebenen Taschenlampe ähnelte, und eine Armbanduhr um den Handgelenkknochen. Saßen sie womöglich einem Streich von Grabräubern auf, die erst kürzlich in die Villa eingedrungen und diese Gegenstände dort hinterlassen hatten? Joubert fiel ein Foto eines der Gegenstände ins Auge, dass der Armbanduhr. Es stellte eine Vergrößerung der Innenseite dar, und dort entdeckte er eine Gravur: “A.L.”. Das konnte Armand Leduc bedeuten.
Am Tag darauf konnten sie Leducs Nichte ausfindig machen, die Erbin der Villa und der Kunstwerke, und sie konnte tatsächlich die Armbanduhr identifizieren, weil sie von ihrem Großvater an Leducs Vater und dann an ihn weitervererbt worden war. Ein DNA-Abgleich bestätigte, dass es sich bei dieser Leiche um Leduc handelte. Er war allerdings die Leiche des Mannes, der zum Zeitpunktes Todes etwa 80 Jahre alt gewesen war, und dessen sterbliche Überreste auf ein Alter von über 500 Jahren datiert worden waren. Joubert war schleierhaft, wie das sein konnte. Leduc war etwa 50, als er verschwand. Und das war 40 Jahre her, und nicht über 500. Wie passte das zusammen? Eine 500-jährige Leiche, mit einer Taschenlampe in der Hand, Batterien und einer Armbanduhr in der Tasche?
Doch ein Fund erregte Jouberts Aufmerksamkeit besonders. In dem Bericht war von einem alten Bauplan die Rede, auf der handschriftliche Aufzeichnungen gefunden worden waren, die eine Art Tagebuch darstellten. Joubert sah ein Foto davon, aber trotz Vergrößerung konnte er die kleine Schrift kaum lesen. Neugierig begab er sich in die forensische Abteilung und ließ sich den Plan zeigen. Es war ein uraltes Blatt Papier, die Handschrift stark vergilbt uns kaum leserlich. Das Blatt Papier lag unter einer Glasplatte und war von unten beleuchtet, um sicherzustellen, dass sie nicht zerfiel, bevor sämtliche Untersuchungen abgeschlossen waren. Die Handschrift war winzig, aber deutlich geschrieben, und füllte fast den kompletten Bauplan. Joubert nahm an, dass dies dem Umstand geschuldet war, dass der Verfasser nur wenige Papier zur Verfügung gehabt hatte, um seine Botschaft niederzuschreiben. Dass wiederum ließ darauf schließen, dass diese Aufzeichnungen eher spontan und ungeplant entstanden waren.
Und dann begann Joubert zu lesen.
Werter Finder meiner Aufzeichnungen. Wenn du dies liest, bin ich mit Sicherheit bereits tot. Ja, wenn ich die Umstände meiner Situation in Betracht ziehe, vermutlich bereits zu Staub verfallen, vom Zahn der Zeit zerfressen, denn ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass ich mich aus meiner ausweglosen, katastrophalen Lage befreien kann oder mich jemand hier unten finden wird, ob tot oder lebendig. Ich verdurste, ich verhungere, und ich bin so schwach, dass ich kaum noch den Stift zu halten vermag, mit dem ich diese Zeilen niederschreibe. Und dies liegt nicht nur daran, dass die Kraft aus meinem Körper weicht und das Licht, mein letzter treuer Begleiter, mich auch bald verlassen wird. Ich sehe mich einer Macht gegenüber, einer Macht, deren Wirken ich nicht begreife, und deren Gewalt ich mich nicht entziehen kann.
Mein Name ist Armand Leduc, Eigentümer und Bewohner des Maison Rimbaud in der Rue de la Vierge 144. Ich bin Junggeselle und kinderlos, und in Ermangelung eines Erben vermache ich diese Niederschrift und meinen gesamten Besitz der Stadt von Saint-Brieuc, die mir seit meiner Ankunft ein so liebenswertes Zuhause war.
Ich schreibe diese Zeilen zu einem Zeitpunkt, an dem ich alle Hoffnung verloren habe, lebend aus diesem Grab herauszukommen. Als Grab muss ich dieses riesige Gewölbe, dessen Wände und dessen Decke ich in der Dunkelheit nicht mehr abzuschätzen vermag, wohl bezeichnen, denn ich bin zu schwach, um noch mehr zu tun als hier an der kalten Mauer zu sitzen und darüber Zeugnis abzulegen, was sich zugetragen hat. Sollten meine Aufzeichnungen gefunden werden, so sollen sie der Nachwelt als eindringliche Warnung dienen vor dieser Abscheulichkeit, in die ich geraten bin und die mich in eine aussichtslose Lage gebracht hat. Ich habe seit fünf Tagen nichts mehr gegessen, und das brackige Wasser, welches von den feuchten Wänden von irgendwo in der Dunkelheit herabrinnt, ist zu wenig, um meinem alten Körper mit genug Flüssigkeit zu versorgen. Ich werde, nachdem ich meinen Bericht zu Papier gebracht habe, meine letzte Reise antreten. Es wird nur ein einfacher, kleiner Schritt sein, aber ich weiß, dass er mir den Tod bringen wird.
Ohne Eitelkeit darf ich von mir behaupten, dass ich in Saint-Brieuc eine bekannte, und ich darf auch annehmen, geschätzte Persönlichkeit bin, und mein plötzliches, spurloses Verschwinden wird nicht lange unbemerkt geblieben sein. Zumal sich auch die Fragen aufdrängen, was nun mit meinem Besitz, den Haus, und den zahlreichen Kunstgegenständen, zu deren Zweck die Umbaumaßnahmen stattfinden.
Doch nun genug der Vorrede. Ich möchte mit meinen eigenen Worten wiedergeben, was mir in den vergangenen Tagen zugestoßen ist, und dies gibt hoffentlich alle Antworten auf die vielen Fragen. Während der Umbaumaßnahmen in meinem Haus waren die Arbeiter im Keller hinter einer mit rohen Kiefernholzbrettern verkleideten Wand im hinteren Weinkeller auf eine dem Anschein nach uralte, niedrige hölzerne Tür gestoßen und hatten mich umgehend über ihren Fund in Kenntnis gesetzt. Ich war verblüfft, hatte ich doch nichts von diesem versteckten Durchgang gewusst. Ein späterer Blick auf alte Baupläne offenbarte ebenfalls nichts von dieser Tür, doch wusste ich, dass dieser Teil des Kellers zu einem früheren Bau gehört hatte, der schon vor der Errichtung der Villa an jener Stelle gestanden hatten. Über die lange Geschichte dieses Hauses und seiner Vorgänger möchte ich keine langen Worte verlieren, denn die Zeit drängt. Es sei nur so viel bemerkt, dass ich auf eine gewisse Weise freudig überrascht war, welche Geheimnisse dieses Haus wohl verbarg.
Die Tür war einfacher Machart, doch trotz der Feuchte im Keller dem Alter entsprechend gut erhalten. Die Scharniere, die Klinke und das Schloss waren zwar verrostet, doch bereits beim ersten Betätigen der Klinke ging die Tür problemlos auf. Ein kalter, unangenehm riechender Luftzug wehte mir entgegen, und ich fragte mich, ob hinter dieser Tür ein Gang liegen mochte, der an anderer Stelle eine Verbindung zur Erdoberfläche hatte.
Ich muss gestehen, dass ich aufgeregt wie ein kleines Kind war in der Erwartung, was sich hinter dieser Tür verbergen mochte. Mich starrte ein pechschwarzes Loch an, und ich musste mir zunächst eine Taschenlampe aus der Küche holen. Als ich voller Spannung durch die offene Tür leuchtete, wurde ich ein wenig enttäuscht, denn dahinter verbarg sich lediglich ein weiterer, kleiner Kellerraum, vielleicht fünf Meter im Quadrat. An jeder der drei anderen Wände befand sich eine weitere Tür, ganz ähnlich derjenigen, durch die ich in den Raum blickte.
Die Wände waren gemauert und weiß gekalkt, der Boden festgetretenes Erdreich. Der Raum war nicht besonders hoch, etwas über zwei Meter, schätzte ich. Ansonsten war er leer. Der Vorarbeiter, der direkt hinter mir stand und mich über die Tür in Kenntnis gesetzt hatte, fragte mich, ob er noch etwas für mich tun könne. Ich verneinte und entließ ihn, während ich selbst in den Raum trat und den Schein der Taschenlampe von Neuem über die Wände gleiten ließ. Erst jetzt bemerkte ich, dass über jeder der vier Türen ein Symbol in die Wand geritzt war. Jedes war anders, und ich hatte dergleichen noch nie gesehen. Sie nahmen in der Größe zu, angefangen von der Tür zu meiner linken, welches das kleinste war, im Uhrzeigersinn bis hin zu dem über der Eingangstür, dem größten. Im ersten Augenblick erinnerten sie mich an mittelalterliche Runen, doch wirkten sie viel filigraner und kunstvoller. Sie waren jeweils in eine kleine Steinplatte eingraviert, und die Vertiefungen waren mit einer dunklen Farbe bemalt. Die Steinplatten, schätzungsweise 20 Zentimeter im Quadrat, waren über den Türen in das Mauerwerk eingelassen.
Ich holte einen der Backsteine von einer der gemauerten Wände im Keller, die die Bauarbeiter eingerissen hatten, und blockierte damit das Türblatt, damit die Tür nicht wieder ins Schloss fiel und der unangenehme Geruch aus dem Raum entweichen konnte. Dann öffnete ich die Tür auf der linken Seite und leuchtete hinein. Dahinter befand sich ein weiterer Raum, der nahezu identisch mit dem Raum schien, in dem ich mich noch befand. Auch hier entdeckte ich jeweils drei Türen an den anderen Wänden, mit denselben Symbolen. Allerdings schien dieser neue Raum etwas größer zu sein als der Erste, und die Decke war etwas höher. Meine Spannung und Entdeckerlust nahmen zu, und ich kehrte um, um einen Blick hinter die anderen beiden Türen zu werfen.
Der Raum, der der Eingangstür (wenn ich sie so bezeichnen darf) gegenüberlag, sah gleich aus, war aber noch etwas größer und höher, und der dritte, auf der von der Eingangstür rechten Seite, war von allen dreien der größte. In jedem der Räume zweigten drei neue Türen ab. Ich schlussfolgerte daraus, dass man über weitere Zwischenräume im Kreis gehen konnte, d.h. wenn man sich eine Draufsicht der Räume vorstellte, dass sie etwa wie in einem Schachbrettmuster angeordnet sein mussten, mit Durchgangstüren zu jedem angrenzenden Raum.
Ich hatte keinerlei Vorstellung davon, als wie groß sich dieser Keller herausstellen würde und welchem Zweck er gedient haben mochte. Die Räume, die ich bisher gesehen hatte, waren allesamt leer, aber was mochte sich hinter all den anderen Türen verbergen? Die Räume waren schlicht, die Wände und die Türen dem Alter entsprechend verwittert, aber ich konnte auf den ersten Blick keinerlei Spuren entdecken, dass hier vielleicht einmal etwas gelagert worden war. Und was bedeuten die seltsamen Symbole über den Türen?
Die Antworten auf all diese Rätsel mussten warten, denn ein Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass ich in einer halben Stunde eine Verabredung mit einem Klienten hatte, der ein Bild kaufen wollte. Ich beschloss, zurückzugehen und morgen wieder auf Erkundungstour zu gehen. Ich trat durch die Eingangstür und schloss sie sorgfältig hinter mir. Mittlerweile hatte sich der unangenehme Geruch etwas verzogen. Ich instruierte den Vorarbeiter, dass die Tür bis zu meiner Rückkehr am nächsten Tag verschlossen bleiben sollte.
Am nächsten Tag kehrte ich in den Keller zurück, ausgerüstet mit einer kleinen Taschenlampe mit Ersatzbatterien, einem Kompass, einem Bleistift und mit alten Bauplänen des Hauses, die den Keller exakt so abbildeten, wie ich ihn bisher gekannt hatte, ohne diese neuen Räume. Außerdem zusätzliche Blätter mit Papier. Auf ihnen wollte ich die Grundrisse der neuen Räume skizzieren, falls sich der neue Keller als so groß entpuppen sollte, dass ich die Baupläne erweitern musste.
Wie am vorangegangenen Tag ging ich zuerst durch die von der Eingangstür aus links gelegene Tür. Als ich sie öffnete und in den dahinterliegenden Raum trat, fiel die Eingangstür zu. Ich hatte vergessen, sie zu blockieren, aber das war vielleicht dieses Mal gar nicht nötig gewesen. Der üble Geruch vom Vortag hatte sich weitgehend verzogen.
Das Hämmern und Bohren der Handwerker im Keller war augenblicklich verstummt. Es war totenstill. Doch ich war viel zu aufgeregt, um mir darüber allzu viele Gedanken zu machen. Hätte ich geahnt, welches Unheil in dem Augenblick seinen Lauf nehmen würde, als die Tür ins Schloss fiel, hätte ich meine Erkundungen abgebrochen und wäre ich auf der Stelle umgekehrt.
Die Taschenlampe war stark und leuchtete den nächsten Raum gut aus. Ich kniete mich auf den Boden und breitete den Bauplan aus, und zeichnete die beiden neuen Räume mit den Türen ein. Dann stand ich wieder auf und ging erneut zu der linken Tür. Ich wollte systematisch vorgehen, und mir erschien es eigentlich nur logisch, dass eine der Türen wieder in den ursprünglich, mir bekannten Keller führen musste, auch wenn man von außen keine Tür sehen konnte. Vielleicht lag ein winziger, schmaler Raum zwischen diesem Raum, in dem ich mich nun befand, und meinem Keller, eine Art blinder Raum, ohne Verbindung zum Keller.
Umso überraschter war ich, als ich hinter der Tür einen viel größeren Raum vorfand. Ja, er war sogar noch etwas größer als dieser, und wieder gab es drei Türen, die von ihm abgingen. Ich nahm kaum Notiz davon, dass die Durchgangstür mit einem lauten Knall zuflog, so verwirrt war ich. Hatte ich so einen schlechten Orientierungssinn? Als ich, fast schon ein wenig irritiert, wieder die linke Tür öffnete und dahinter einen Raum entdeckte, der nicht mein Keller war, und der wieder etwas grösser und höher war, blieb ich stehen und drehte mich um.
Die Durchgangstür war wieder zugefallen, aber das war mir erst einmal egal. Ich setzte mich auf den Boden und zeichnete meine Entdeckungen auf den Bauplänen nach. Was war das für ein Labyrinth unter meinem Keller? Einerseits war ich verwirrt, andererseits spürte ich in mir eine fast schon kindische Spannung und Vorfreude auf all die Entdeckungen, die ich noch machen sollte. Nur eines wollte ich nicht begreifen: Wieso war hinter keiner der Türen mein ursprünglicher Keller? Hatte ich mich so täuschen lassen? Waren die Wände vielleicht gar nicht rechteckig, sondern war ich einer optischen Illusion aufgesessen? Ja, das musste es sein. Ich war bis eben überzeugt gewesen, dass ich einen recht guten Orientierungssinn hatte, aber da hatte ich mich offenbar getäuscht.
Unwillkürlich musste ich anfangen zu lachen. ‘Du alter Fuchs, lässt dich so von einem dunklen Keller ins Bockshorn jagen’, dachte ich. Hier untern konnte man schnell die Orientierung verlieren. Da fiel mir plötzlich mein Kompass ein, und ich holte ihn aus der Tasche. Mit Hilfe des Kompasses müsste es möglich sein festzustellen, wie meine jetzige Position im Verhältnis zu meinem Keller stand. Ich legte ihn neben den Nordpfeil auf dem Bauplan und leuchtete mit der Taschenlampe darauf. Verwirrt musste ich feststellen, dass sich die Kompassnadel wie wild im Kreis drehte. Er zeigte überhaupt keine Richtung an und war damit nutzlos. Entweder funktionierte er hier unten wegen irgendwelcher magnetischen Störungen nicht, oder er war mir kaputtgegangen.
Ich beschloss, nun etwas systematischer vorzugehen. Ich schloss die linke Tür und öffnete dann die mittlere, betrat den dahinter liegenden Raum aber nicht, sondern leuchtete hinein. Er schien wieder etwas größer, wieder mit drei abgehenden Türen und den Symbolen darüber, aber das war erst einmal irrelevant. Ich notierte auf meinem Plan diesen Raum, ohne dessen genauen Grundriss zu skizzieren (im Falle, dass er eine unregelmäßige Grundform hatte, die ich mit bloßem Hineinschauen nicht genau erkennen konnte), und schloss dann die Tür wieder. Dann ging ich an die rechte Tür und wiederholte den Vorgang. Dieser Raum war noch etwas größer als der linke und der mittlere.
Mit dieser Information, eingezeichnet auf meinem Plan, ging ich zurück zu der Tür, durch die ich in den Raum eingetreten war. Doch bevor ich zurück in den vorherigen Raum ging, kam mir noch eine Idee. Ich riss ein kleines Stück Papier vom Bauplan ab und legte es in die Mitte des Raumes, um zu markieren, dass ich in diesem Raum schon gewesen war. Ich öffnete die Tür, trat hindurch und schloss sie wieder, und als ich den Lichtkegel nach vorne richtete, blieb ich wie angewurzelt stehen. Der Raum in dem ich mich nun befand, indem ich mich ja bis vor wenigen Minuten schon einmal befunden hatte, schien gewachsen zu sein. Er war deutlich grösser und höher als vorher, fast schon eine Halle. Wie konnte das sein? Was für eine Surrealität war das? Ich konnte mich nicht verlaufen haben, unmöglich. Ich war durch dieselbe Tür zurück gegangen.
Ich musste mich setzen, weil ich mittlerweile geradezu erschöpft war, hungrig und durstig. Ich lehnte mich an die kalte Wand direkt neben der Tür. Ein schwaches Rinnsal mit Wasser rann von der Decke hinab und hatte eine kleine Pfütze gebildet.
Ich war noch nicht lange unterwegs, und dennoch hatte ich Gliederschmerzen, als sei ich kilometerweit gegangen. Wieviel Zeit war verstrichen? Ich blickte auf meine Armbanduhr und erschrak. Es war fast acht Uhr abends. Ich konnte es kaum glauben. Ich war doch erst gefühlt eine halbe Stunde unterwegs. Um zehn Uhr war ich losgegangen.
Ich überlegte, ob mir meine Sinne einen Streich spielten, ob die Luft hier unten irgendein Gas enthielt, welches mir die Sinne vernebelte. Vielleicht war zu wenig Sauerstoff in der Luft? Das könnte es sein, dachte ich mir. Doch dann sah ich genauer auf die Zeiger meiner Uhr. Sie liefen viel schneller, als sie sollten. Der Minutenzeiger raste fast über das Zifferblatt. Innerhalb subjektiv gefühlter Sekunden verstrichen auf der Uhr Minuten, und plötzlich war auf der Uhr eine Stunde vergangen. Ich stieß einen frustrierten Laut aus. Jetzt war auch noch meine Uhr kaputtgegangen. Verzweifelt schüttelte ich sie und drehte an den Rädchen, doch sie lief unbeirrt weiter.
Mein Magen knurrte, und ich musste etwas trinken, mein Rachen war schon ganz ausgetrocknet. Wieso hatte ich mir kein Proviant mitgenommen? Natürlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass ich mehr als eine, vielleicht zwei Stunden hier unten verbringen würde, doch ich hätte mir wenigstens eine Jacke mitnehmen können. Ich hatte nun jegliches Interesse an meiner Erkundung verloren. Mir wurde bereits kalt, und ich wollte nur noch zurück in mein Haus, etwas trinken, essen und mich aufwärmen. Ich musste mir für meine nächste Begehung bessere Ausrüstung mitnehmen, und am besten noch einen Begleiter und Essen und Trinken. Vielleicht war dieses Kellerlabyrinth so groß, dass es Stunden dauern würde, alles zu erkunden.
Wenn die Symbole über den Türen immer dieselben waren, und ich hatte sie mir nun alle vier eingeprägt, dann müsste ich jetzt von mir aus gesehen die rechte Tür öffnen, um wieder in den allerersten Raum zu gelangen. Ich öffnete die Tür, und rechnete insgeheim schon wieder mit einer neuen Überraschung.
Und ich wurde nicht enttäuscht. Was dahinter lag, war von den Ausmaßen nunmehr ein richtiges Gewölbe. Meine Lampe schaffte es gerade noch, mit dem Licht zum anderen Ende und zur Decke zu leuchten. Ich konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, was ich in diesem Moment fühlte. Waren es ein Anflug von Panik und Angst, die mich befielen? Oder mittlerweile Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung? Ich hatte mich verlaufen, konnte mir aber kaum vorstellen, wie ich das geschafft haben sollte. So kompliziert konnte es schließlich nicht sein, ein paar Räume einfach wieder in umgekehrter Reihenfolge zu durchschreiten.
Ich durchquerte diesen Raum, dieses Gewölbe, in gerader Linie und öffnete die mittlere Tür. Dahinter lag ein gewaltiger Raum, noch größer als das Gewölbe, in dem ich mich befand. Also unmöglich der Ausgangsraum. Dasselbe Bild, als ich einen Blick durch die rechte und die linke Tür geworfen hatte. Ich entschied mich schließlich, durch die rechte Tür zu gehen, nachdem ich auch hier ein Papierstück fallen ließ. War ich zu Beginn immer links gegangen, so erschien es mir trotz aller seltsamer Umstände am sinnvollsten, nun immer rechts zu gehen. Sollte ich im Kreis gehen, so würde ich schließlich auf den Raum treffen, in dem ich den ersten Papierschnitzel hatte fallen lassen, und hatte so zumindest einen Anhaltspunkt, wie diese Räume zusammenhingen.
Nachdem ich in den nächsten Raum gegangen war, stand ich eine Weile unschlüssig da. Ich sah erneut auf meinen Kompass, der sich wie wild drehte und auf meine Armbanduhr, deren Zeiger sich auch noch einmal schneller fortbewegten. Diese mechanischen Hilfsmittel konnte ich also vergessen, aber in meiner jetzigen Lage vermochten sie mir sowieso nicht weiterzuhelfen. Ich konnte ja nicht einmal mehr sagen, in welcher Himmelsrichtung der erste Raum lag.
Doch ich bemerkte noch etwas Merkwürdiges. Ich war mir fast sicher, dass sowohl Kompass als auch Uhr schwerer geworden zu sein schienen, deutlich schwerer als zu Beginn meiner Erkundungstour, und sie schienen auch etwas grösser. Ich musste schleunigst aus dieser schlechten Luft raus, mein Verstand war schon ganz vernebelt. Zusätzlich beunruhigte mich, dass die Batterien meiner Taschenlampe zur Neige gingen, der Lichtstrahl war deutlich schwächer, und so wechselte ich sie gegen neue aus.
Die Taschenlampe lag schwer in meiner Hand. Mein Magen machte sich nun deutlich bemerkbar, und mein Mund war trocken wie Schmirgelpapier. Ich musste mich beeilen, zurückzugehen. Mir kam eine Idee. Ich hatte vorhin an einer Tür einen Rinnsal Wasser gesehen, der von der Denke die Wand hinunterlief. Ich leuchtete alle vier Türen ab, und tatsächlich war solch ein Rinnsal auch hier erkennbar. In meiner Verzweiflung tat ich etwas, was ich sonst aus Würde nie getan hätte, aber ich war einfach zu durstig. Ich hielt meine rechte Hand in dem Rinnsal und fing damit etwas Wasser auf, welches ich schließlich gierig in meinen Mund einflößte. Ich schmeckte Kalk auf meiner Zunge, doch ansonsten schien das Wasser genießbar. Das Rinnsal war schwach, und so dauerte es sicher eine gute Viertelstunde, bis ich meinen Durst einigermaßen gestillt hatte.
Die kleine Erfrischung weckte meine Lebensgeister und meinen Elan wieder ein bisschen. Ich überdachte meine Lage, und mir kam ein Gedanke. Ich öffnete die Tür, aus der ich aus dem vorherigen Raum gekommen war, und leuchtete die Mitte des Raumes den Boden ab. Das Stückchen Papier, das ich dort abgelegt hatte, lag nicht mehr da. Fast hatte ich mit dieser Erkenntnis gerechnet, und so nahm ich sie niedergeschlagen zur Kenntnis. Ich hatte mich vollkommen verirrt, jegliche Orientierung hier unten in der Dunkelheut verloren.
Ich schloss die Tür wieder und folgte in Ermangelung anderer Alternativen meinem Plan, immer die jeweils rechte Tür jedes Raumes zu nehmen. Ich öffnete also diese Tür und trat hindurch. Dahinter lag gähnende Schwärze, ein riesiger Raum, dessen Ende der Lichtkegel meiner Taschenlampe nicht mehr erreichte. Ich hörte den Widerhall meiner Schritte auf dem blanken Boden, der von fernen Wänden und dem hohen Gewölbe zurückprallten. Meine Beine waren müde, und jeder Schritt kostete mich mittlerweile Überwindung. Die Taschenlampe lag schwer in meiner Hand. Ich machte mich dennoch auf den langen Weg zur rechten Tür. Etwa in der Mitte der Halle rutschte plötzlich meine schwere Armbanduhr von meinem Handgelenk und fiel mit einem lauten Klirren auf den Boden. Ich hob sie auf und wollte sie mir wieder anziehen, doch ich sah, dass das Armband viel zu weit war für mein dünnes Handgelenk. Natürlich hatte ich unbändigen Hunger, aber hatte ich etwa so viel abgenommen in der kurzen Zeit, dass mein Handgelenk so dünn geworden war? Meine Sinne waren vernebelt, und meine Gedanken kreisten so sehr um Essen und darum, die nächste Tür zu erreichen, dass ich mir darüber jetzt keine Gedanken machen konnte. Erschöpft kam ich bei der Tür an. Ich wurde wahnsinnig vor Durst und Hunger, und meine Haut auf den Händen war schon ganz rissig. Ich musste viel Flüssigkeit verloren haben. Meine Taschenlampe wurde immer schwächer und setzte mich vor die Tür, unfähig sie zu öffnen und dahinter eine neue Abscheulichkeit zu entdecken.
Ich blickte auf die große und schwere Taschenlampe in der einen und die Armbanduhr in der anderen Hand, die riesig aussahen im Vergleich zu meinen kleinen, verschrumpelten Händen. Der Kompass und die alten Batterien, die ich immer noch in meinen Hosentaschen hatte, hatten diese enorm ausgebeult.
Ich saß da und atmete schwer vor Anstrengung, und im selben Augenblick traf mich eine Erkenntnis wie ein Donnerschlag, die so ungeheuerlich waren, dass sie nur meiner wahnsinnigen Phantasie entsprungen sein konnten. Doch sie musste wahr sein. Die Räume, in denen ich mich bewegt hatte, waren nicht nur jedes Mal grösser geworden, nein, ich selbst war geschrumpft! Jeder Gegenstand, der nicht zu meinem Körper oder meiner Kleidung gehörte, war hingegen gleich groß geblieben. Deswegen sahen sie jetzt für mich so groß aus. Außerdem wurde mir nun klar, dass die Zeit schneller lief. Ich sah diesen Verdacht bestätigt, wenn ich meine Hände ansah, mein Gesicht befühlte, meine Haare antastete, die deutlich länger geworden waren in so kurzer Zeit, und bereits vollständig ergraut. Mit jeder persönlich gefühlten Minute sank ich mehr zusammen, nahmen meine Schmerzen in den Gliedern zu und mein Blick verschwamm immer mehr.
Nun sitze ich hier, angelehnt an die Holztür, die ich mich noch nicht getraut habe zu öffnen, und schreibe diese Zeilen. Ich bin gefangen in einem Labyrinth, und jeder neue Raum, den ich betrete, wird größer, während ich selbst schrumpfe, und die Zeit verrinnt immer schneller. Mir ist nun klar, dass das mit den seltsamen Symbolen über den Türen zusammenhängt. Ich bin zu folgenden Schlussfolgerungen gelangt, und bitte den werten Leser, sie genauestens zu verinnerlichen und vor ihnen gewarnt zu sein. Jede Tür auf der linken Seite eines Raumes führt in einen neuen Raum, der etwas größer ist als der Vorherige, und in dem die Zeit wieder etwas schneller verrinnt. Der Faktor, mit dem dies geschieht, ist bei der mittleren und der rechten Tür jeweils noch etwas größer, und er ist am größten dann, wenn man sich dazu entscheiden sollte, durch die ursprüngliche Tür umzukehren. Du wirst nun annehmen, ich sei verrückt geworden, und ich kann ihm dies nicht verübeln. Ich selbst glaube meinen Worten kaum, aber es ist die Wahrheit, muss die Wahrheit sein. Hier in diesem Keller sind böse Mächte im Spiel, gegen die ich nichts ausrichten kann.
Ich werde nun zurückgehen durch die Tür, durch die ich gekommen bin, und den grausamen Gesetzen gemäß müsste die Zeit dort so schnell vergehen, dass ich innerhalb weniger Augenblicke sterben werde. Wenn nicht, werde ich so lange immer wieder in den vorherigen Raum umkehren, bis der Herrgott Erbarmen mit mir hat und mich von meinem Irdischen Leben erlöst. Ich werde hier sterben. Ich will hier sterben. Denn ich bin zu schwach und ohne Hoffnung.
Gezeichnet,
Armand Leduc
Der Bericht endete hier, und Joubert legte ihn nachdenklich vor sich auf den Schreibtisch. Er konnte nicht glauben, was er da gelesen hatte. Die Aufzeichnungen eines Spinners. Was sonst sollte es sein? Ein Keller, deren Räume wie ein Labyrinth angeordnet waren, und in dem die Zeit immer schneller verging? In dem ein Mensch schrumpfte? Was für ein Unfug. Aber die Handschriftenanalyse hatte ergeben, dass es die Handschrift von Leduc war. War der Kunstsammler, der zu seinen Lebzeiten schon als sonderbar betitelt worden war, am Ende vollständig verrückt geworden? Hatte er sich im Nebel geistiger Umnachtung in seinem eigenen Keller verirrt und war dort an Erschöpfung gestorben? Er rieb sich den Kopf, er hatte Kopfschmerzen vom Lesen. Er konnte nicht verhehlen, dass der Text ihn in seinen Bann gezogen hatte, und dass er des Rätsels Lösung nur näherkommen konnte, wenn er sich selbst vor Ort ein Bild machte und den Keller untersuchte.
Er fasste einen Entschluss. Er nahm seine Jacke und fuhr zur Abbruchruine des Maison Rimbaud. Die Zelte der Spurensicherung standen noch, doch die Arbeiten waren abgeschlossen und es war kein Forensiker mehr dort. Da war sie, die Tür, hinter der die Leichen entdeckt worden waren. Sie stand offen, und dahinter gähnte ein schwarzes Loch. Die Leichen waren weggeschafft worden, aber die Baustrahler standen noch darin. Joubert trat durch die Eingangstür, und sein Blick fiel auf die drei Türen mit den seltsamen Symbolen. Seine Aufregung stieg, und er konnte spüren, wie es kribbelte und sein Herz schneller schlug. Er fühlte sich magisch von den drei Türen angezogen. Er öffnete die linke Tür und leuchtete mit der Taschenlampe hinein. Der Raum dahinter sah in etwa so aus, wie Leduc ihn beschrieben hatte. Viel zu beschreiben gab es nicht, er war leer und unscheinbar. Er blickte sich noch einmal um. Draußen hörte er die Abbruchbagger ihre Arbeit wieder aufnehmen. Er machte einen Schritt über die Schwelle.
Hinter ihm schlug mit einem dumpfen Krachen die Eingangstür zu. Mit einem Mal waren sämtliche Geräusche der Außenwelt verstummt.