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- Anmerkungen zum Text
Also ich habe den Text zwar als Horror und Humor getaggt, bin mir aber mit der Einteilung unsicher. Klassischer Horror ists sicherlich nicht. Hoffe trotzdem, dass es einigermaßen funktioniert.
Der Keller
Thoby stand vor der offenen Kellertür und kaute auf seiner Oberlippe herum. Das schwülwarme Wetter bildete kleine Schweißperlen auf seiner Stirn, während er unschlüssig in die Dunkelheit herabschaute. Mit einer Hand am Türrahmen, um sich im Zweifelsfall festzuhalten zu können. Dieselbe Hand wanderte nun langsam an der Wand entlang, auf der Suche nach dem Lichtschalter. Klick. Die Dunkelheit blieb.
„So ein Mist!“
Die Glühbirne war schon vor einigen Tagen durchgebrannt, und scheinbar hatte sich bisher noch niemand dazu berufen gefühlt, mit einer Leiter auf der schmalen Treppe herum zu balancieren und Abhilfe zu schaffen. Thoby seufzte. Er hatte eine Gänsehaut, und der unverwechselbare Kellergeruch, der ihm entgegenschlug, machte die ganze Sache auch nicht besser. Irgendwo da unten, am Ende der Stufen, lag sein Flummi.
Mit einem müden Lächeln schmetterte Thoby´s Mutter alle Einwände ihres Sohnemann's ab. Zwar hatte das, was Dennis gesagt hatte, eine gewisse Berechtigung, denn welcher Vierzehnjährige hat schon Lust, auf kleine Geschwister aufzupassen, wenn er doch stattdessen auf den Bolzplatz zum Kicken gehen könnte? Es half aber nichts.
„Wir haben das besprochen Dennis. Sei so gut und mach euch später eine Portion Nudeln, ja? Hab euch lieb. Bis dann.“, flötete sie routiniert und verschwand aus der Tür.
Das Gesicht, das Dennis machte, nachdem die Haustür ins Schloss gefallen war, deutete darauf hin, dass er ganz sicher Besseres zu tun hatte, als Nudeln zu kochen. Thoby schickte sich an, vorsichtshalber das Weite zu suchen, um bloß keinen Streit vom Zaun zu brechen, als Dennis sich unvermittelt zu ihm umdrehte.
„Hör mal zu du Pimpf. Wenn du glaubst, dass ich hier den ganzen Nachmittag damit verschwende, für dich Babysitter zu spielen, kannste dir das ganz schnell wieder aus dem Kopf schlagen!“ Blitzschnell schnappte er nach Thobys Flummi, den der unbedachterweise nicht rechtzeitig in der Hosentasche hatte verschwinden lassen.
„Und, dass ich mich hier in die Küche stelle, um dir dein Essen zu kochen, kannste auch knicken! Wenn du Hunger bekommst, kannste dein Glück ja drüben bei den Melkmans versuchen. Vielleicht haben die ja ein bisschen Katzenfutter für dich übrig?“
Thoby verzog angeekelt das Gesicht, ließ seinen Flummi aber nicht aus den Augen. Dennis hatte damit begonnen, den Gummiball lässig gegen die Zimmerwand zu werfen und mit der linken Hand wieder aufzufangen. Dabei bewegte er sich für Thobys Geschmack, aber etwas zu sehr in Richtung der offenstehenden Kellertür.
„Gib mir meinen…“
Dennis zeigte sich unbeirrt von Thobys zaghaftem Versuch, sein Spielzeug zurückzufordern und fuhr mit Punkt drei seiner kleinen Ansprache fort.
„Wenn Mama nachher nach Hause kommt und du auch nur andeutest, dass ich nicht hier war, dann...“ Dennis sah Thoby böse an und suchte offensichtlich nach einer angemessen bedrohlichen Formulierung.
„Dann gnade dir Gott!“
Thoby schluckte. Er konnte mit dieser komischen Wortwahl zwar nicht sonderlich viel anfangen, aber der Blick, den ihm sein Bruder zuwarf, zerstreute jeden Zweifel darüber, was der gemeint haben konnte. Heruntergebrochen ging es wohl darum, besser die Schnauze zu halten.
Dennis hielt Thoby den Flummi hin. Der zögerte. Und griff dann blitzschnell zu. Aber nicht schnell genug. Schon war der Ball wieder außerhalb seiner Reichweite.
„Weißt du, was dein Problem ist, kleiner Mann?“ Dennis sah seinen Bruder mit einem spöttischen Grinsen an. Thoby schüttelte stumm den Kopf, streckte aber nach wie vor seine Hand in Richtung Gummiball aus. War ja schließlich seiner.
„Du bist eine Pfeife. Ein kleines Weichei. Und ich fürchte, du wirst auch immer ein Weichei bleiben.“
Thoby bemerkte, wie ihm sofort die Tränen in die Augen stiegen. Das war nicht fair! Mit brüchiger Stimme begann er zu protestieren.
„Das stimmt nicht Dennis! Ich bin kein Weichei! Gib mir meinen Flummi wieder!“ Tränen liefen ihm über die Wangen.
„Hol ihn dir doch.“, mit einer beiläufigen Bewegung warf Dennis den Ball die dunkle Kellertreppe herunter.
„Musst einfach nur da runter gehen und dein scheiß Spielzeug wiederholen. Kein Problem für einen mutigen Kerl wie dich, oder?“ Grinsend stolzierte Dennis mit seinem Fußball unter dem Arm in Richtung Haustür. Dann drehte er sich noch einmal um und raunte: Aber Vorsicht Thoby! Da unten gibt’s nen Monster.“
„Thoby wir sollten ernsthaft darüber sprechen, was es womöglich für einen fatalen Eindruck macht, wenn wir deinen Flummi nicht hochholen, bevor der wieder nach Hause kommt.“ Dieser berechtigte Einwand stammte von Lieutenant Wilson. Seit Monaten der treueste Freund Thobys. Thoby hatte zwar immer noch nicht den leisesten Schimmer, was genau ein Lieutenant war, aber es klang gut. Wie aus einem dieser Filme, die er eigentlich noch gar nicht gucken durfte. Lutännent! Außerdem hatte sich ihm sein Freund nun einmal so vorgestellt, und der konnte ja schließlich auch nichts für seinen Namen. Vor ein paar Monaten war Thoby von einem besonders gruseligen Albtraum aufgewacht und hatte ganz schlimme Angst gehabt. Und dann saß da plötzlich Lieutenant Wilson in seinem Tarnanzug und der roten schiefen Mütze auf dem viel zu kleinen Schreibtischstuhl und nickte ihm höflich zu. Ungefragt hatte er dem verdutzten Thoby dann erklärt, dass Alpträume zwar wirklich keine feine Sache, aber eben auch nur Träume waren und ihm geraten, für den Moment doch einfach die Nachttischlampe anzumachen. Und tatsächlich, das half!
Seither hatte sich Lieutenant Wilson zu einer ganz wesentlichen Konstante in Thobys ansonsten eher von Ab´s als Auf´s geprägtem Leben gemausert. Wichtige Entscheidungen besprach er seither stets mit seinem neuen Freund.
Und so galt es auch in diesem Fall die Frage: Keller, ja oder nein?, sorgsam gemeinsam zu ergründen. Nach Sichtung der Faktenlage waren sie sich schnell einig. Es führte kein Weg daran vorbei, den Gummiball wiederzubeschaffen. Nicht nur, weil es einfach richtig daneben war, so einen guten Flummi dem Keller zu überlassen. Nein, vor allem auch deshalb, um Dennis zu zeigen, dass er, Thoby, mitnichten ein Weichei war! Er war einfach nur klein. Lieutenant Wilson hatte ihm das alles ganz genau erklärt. Und Thoby war absolut einverstanden damit gewesen.
Er war weder eine Pfeife noch ein Weichei, sondern klein! Und seinen Flummi würden sie sich gefälligst zurückholen!
Es gab da nur ein Problem. Der Keller. Ja, der Keller. Das war natürlich so eine Sache. Thoby stand am Rand der Treppe und schaute skeptisch in die Dunkelheit hinab.
Er hatte ja schon so manches Gerücht gehört. Über Keller ganz im Allgemeinen. Offensichtlich verhielt es sich doch so, dass Kreaturen mit unlauteren Absichten eben in erster Linie an dunklen Orten hausten. Das war jedenfalls das, was er in den diversen vergilbten Comicheften seines Bruders hatte nachblättern können. Und ihr Keller, nachdem ja nun auch noch diese blöde Glühbirne den Geist aufgegeben hatte, erfüllte ziemlich viel von dem, wie Thoby sich den idealen Ort für ein Monster vorstellte. Es war dunkel. Es war nasskalt. Und es roch muffig.
Es sprach also einiges dafür, seinen Flummi einen Flummi sein zu lassen und sich stattdessen mit der guten alten Legokiste zu beschäftigen. Andererseits... ja, andererseits würde er sich dann wieder tagelang die Kommentare seines Bruders anhören müssen.
„Und denk mal darüber nach, was Dennis das nächste Mal in den Keller werfen könnte, wenn du das einfach so stehen lässt.“, ergänzte der Lieutenant.
Mmh. Da hatte Wilson natürlich einen Punkt. Dem war schließlich alles zuzutrauen. Diesem Arsch. Wie wäre denn Folgendes, versuchte Thoby sich selbst zu überreden. Er würde langsam und vorsichtig die Treppe herabsteigen. Und sobald er seinen Flummi gefunden hatte, würde er die Treppe wieder heraufrennen, die Tür hinter sich zumachen und zweimal den Schlüssel herumdrehen. Schnell war er ja, das sagten alle. Der Lieutenant nickte ihm aufmunternd zu.
„Nur Mut, Soldat!“
Langsam kämpfte sich Thoby voran. Ein vorsichtiger Schritt. Dann ein Zweiter und ein Dritter. Seine knubbeligen Knie zitterten, und er hielt sich ganz fest am kühlen Geländer. Noch eine Stufe. Und noch eine. Ängstlich blickte er über die Schulter zurück zum Lieutenant. Der stand oben in der Kellertür, war wegen des Lichts in seinem Rücken aber kaum zu erkennen. Die Geste, die er machte, sah so aus, als ob er salutiere. Thoby erwiderte den Gruß, presste grimmig seine Lippen aufeinander und tapste weiter die Stufen hinab.
Schließlich war er unten angekommen und blinzelte in die Dunkelheit. Warum bauten die Erwachsenen eigentlich die besten Häuser und verpassten es dann, vernünftig-große Fenster im Keller einzusetzen? Der schmale Lichtschein, der durch die winzigen Fenster fiel, war ja eine Frechheit! Vorsichtig schlich Thoby durch den Raum und suchte nach seinem Flummi. Erst tastete er unter dem Holzregal herum. Doch bis auf einige Staubflusen und etwas undefinierbar Verschrumpeltes fand sich nichts. Zwischen der Waschmaschine und dem Trockner war ebenfalls keine Spur von seinem Spielzeug. Tapfer arbeitete er sich voran. Weiter hinten standen ein paar alte Gartengeräte, eine Schubkarre, Dennis Fahrrad und ein Eimer. Thoby zwängte sich durch das Gerümpel und begann, in den Ecken herumzusuchen. Und tatsächlich, da war er. Sein Flummi.
„Ich hab ihn!“, rief Thoby und drehte sich polternd um.
Ihm fielen sofort zwei wesentliche Veränderungen auf. Die Tür am oberen Ende der Treppe war verschlossen. Und er war nicht mehr alleine im Keller.
Zwei Tage später saßen sie gemeinsam beim Abendessen. Es gab Kartoffelbrei, Fischstäbchen und Erbsen. Wenn man Thoby gefragt hätte, in folgender Reihenfolge: Zunächst die Fischstäbchen, gefolgt vom Kartoffelbrei und dann in himmelweitem Abstand irgendwann die Erbsen. Konzentriert schob er die Erbsen von einer Seite des Tellers zur anderen. In der Hoffnung, durch irgendeinen Trick die Anzahl dieser faden Angelegenheit verringern zu können.
„Die Katze von der kleinen Josephine ist verschwunden!“
„Was? Die war doch noch ganz neu?“
„Ja, Josephine und Frau Melkmann haben vorhin geklingelt und gefragt, ob wir das Tier vielleicht irgendwo gesehen haben. Das arme Mädchen. War die ganze Zeit am Weinen.“
„Mmh, also ich hab nichts gesehen. Vielleicht isse ja weggelaufen?“
„Ja, vielleicht. Thoby? Hast du die kleine Katze von Josephine gesehen?“
Thoby gab seinen Versuch auf, durch geschickte Umlagerung der Fischstäbchen und des Kartoffelbreis möglicherweise die Erbsen auf seinem Teller zu minimieren und schüttelte stumm den Kopf. Dabei sank er Stückchen für Stückchen tiefer in seinen Stuhl.
Alles in allem lief´s für die Haus- und Nutztiere der Gäßlergasse in den folgenden Tagen nicht sonderlich gut. Nachdem zunächst die Katze der kleinen Josephine Melkmann verschwunden war, traf es nur zwei Tage später den Pudel von Alois Degler.
„Angeleint! Der war angeleint! Und das Gartentor war verschlossen! Wie soll der Hund mit seinen kleinen Beinchen denn da drüber gekommen sein?“ Herr Degler, der Zeit seines Lebens mit dem Verhalten seiner Mitmenschen ein ums andere Mal gehadert hatte, war nach diesem dreisten Angriff auf sein unschuldiges Haustier vollständig desillusioniert. Als schließlich auch noch zwei Hühner(!) aus dem Gehege der Familie Sprauer verschwanden, machte sich allgemeine Verunsicherung bei den Anwohnern der Straße breit.
Am darauffolgenden Sonntag war Dennis erneut dazu verdonnert worden, auf Thoby aufzupassen. Er hatte protestiert. Vergeblich. Und nachdem die Mutter schließlich weggefahren war, hatte er konsequenterweise beschlossen, eben ein weiteres Mal auf seine geschwisterlichen Pflichten zu pfeifen. Auf dem Weg zu seinen Bolzplatzschuhen sah er seinen kleinen Bruder an der Kellertür lehnen und blöde in seine Richtung grinsen. Einen Fuß lässig auf einem Fußball. Auf seinem Fußball!
„Sag mal, bist du bescheuert? Gib sofort...“, weiter kam er nicht.
Mit einer leichten Fußbewegung gab Thoby dem Ball einen Stoß und der hüpfte die Treppe herunter.
„Hol dir doch deinen Ball, wenn du so mutig bist.“
Dennis war überfordert von der völlig unerwarteten Revolte des Bruders. Einigermaßen fassungslos stand er zunächst da, gab Thoby schließlich im Vorbeigehen eine verunglückte Ohrfeige und eilte fluchend seinem Ball hinterher.
„Du kleiner Pisser kannst was erleben, wenn ich...“
Thoby schloss langsam die Tür und drehte den Schlüssel zweimal herum. Dann verschwand er in seinem Zimmer und spielte mit seinem Flummi.
Der Lieutenant hatte ihm die ganze komplizierte Angelegenheit vor einer Woche erklärt.
„Weißt du Thoby, manchmal ist der Feind deines Feindes eben dein Freund. Und dieses Ding im Keller, dass dich beinahe erwischt hätte, ist vielleicht sogar ein echter Glücksfall. Ein hungriger Glücksfall, der im Keller haust!“
Thoby verstand nicht ganz was der Lieutenant meinte, nickte ihm aber ernst zu. Schließlich war er es auch gewesen, der das Wesen im Keller davon abgehalten hatte, werweißwas mit ihm anzustellen. Irgendeine Art Deal hatten die beiden jedenfalls ausgehandelt, während er selbst stocksteif vor Angst daneben gestanden hatte. In den folgenden Tagen hatte er dann damit begonnen, Futter in den Keller zu schaffen. Nachdem nun aber die Sache mit Dennis erledigt war, machte sich Thoby so seine Gedanken, wie es jetzt weitergehen sollte. Mal ganz davon abgesehen, dass seine Mutter am Boden zerstört war und nur noch weinte.
„Nun, zunächst solltest vielleicht in Zukunft du derjenige sein, der den Sprudel von unten hochholt,“ hatte Wilson empfohlen und ihm zugezwinkert.
Aber Thoby war ja nicht auf den Kopf gefallen. Er fragte sich natürlich auch, was passieren würde, wenn das Ding wieder Hunger bekam.
„Hunger? Tja, da müssen wir uns natürlich was überlegen, richtig?“ Zum ersten Mal schien Wilson nicht sofort eine Antwort parat zu haben. Er brummte eine Weile vor sich hin und fuhr dann schließlich fort.
„Deine Nachbarin? Die kleine Josephine? Kommt die nicht manchmal zum Spielen vorbei?