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Der Keller
"Komm' aus dem Keller", schallte der Ruf der Mutter von oben, "Du wirst krank!" Tim wusste das. Er weiß es, wenn er die kalten, feuchten Stufen in den Keller hinunter steigt. Er weiß es, wenn er in der Dunkelheit den Lichtschalter sucht. Er weiß es, wenn er in den tiefsten Raum des Kellers geht und sich dort auf den nassen Betonboden kauert. Er will nicht sterben, wie die anderen. Tim findet oft tote Spinnen, die er genüßlich zerpflücken kann, oder Tausendfüßler, oder Ohrenkneifer, am liebsten aber lebendige Kellerasseln, mit denen er als Kugel Stunden lang spielen kann. Das Warten ist unangenehm. Als die anderen noch lebten, war alles viel bunter, aufregender und wärmer. Mit lebendigen Kellerasseln ließ sich das Warten aber ertragen, irgendwann mussten sie ja endlich kommen. Schließlich hatte die Mutter gesagt, dass sie kommen und die Mutter hatte immer recht. Sie hat vorher gewusst, dass die Zwillinge krank werden, wenn sie ihren Schal nicht anziehen. Und als sie schon lange krank waren, hat sie gewusst, dass sie sterben würden. Das hat sie Tim selbst gesagt. "Wo sind sie denn jetzt?", hatte er die Mutter danach gefragt. "Unter der Erde!", hatte die geantwortet. Tim kannte den Keller nur vom Versteckspielen. Wenn man gewinnen mochte. Dann versteckte man sich im Keller, denn da sucht einen niemand. Der Keller macht Angst und der Keller ist kalt. Wenn man die Treppen als Sieger empor kam, gab es Poklatschen von der Mutter. Nur für die Zwillinge nicht, die hielten bei so etwas immer zusammen. "Du wirst krank, willst du so enden, wie dein Vater?", schimpfte die Mutter bei den Poklatschen. Aber die Poklatschen taten gar nicht weh, denn sie waren die Poklatschen des Siegers.
"Du wirst krank!", sagte die Mutter auch oft, wenn er später nach den Zwillingen im Garten grub, oder im Keller nach ihnen Ausschau hielt . Einmal, als er wieder aus dem Keller kam, nahm sie ihn und klatschte Tim wie früher auf den Po, nur viel stärker und sie weinte dabei. "Du darfst nicht mehr in den Keller gehen, hörst du, nie mehr! Da unten sind die Zwillinge und der Vater und die machen dich krank und wollen dich zu sich holen!" Diese Poklatschen taten sehr weh, denn sie waren so stark und nicht für den Sieger und die Mutter weinte. Auch, wenn die Zwillinge immer zusammen hielten, würden sie so etwas niemals tun. Tim wusste das. Er weiß es, wenn er die kalten, feuchten Stufen in den Keller hinunter steigt. Er weiß es, wenn er in der Dunkelheit den Lichtschalter sucht. Er weiß es, wenn er in den tiefsten Raum des Kellers geht und sich dort im tiefsten Raum auf den nassen Betonboden kauert.