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Teil zur Serie: Das Judenhaus
Chrissy (2): Der Keller des Judenhauses
„Aufstehen!" Mama rüttelte mich am Arm.
Benommen öffnete ich die Augen. Ich war noch so müde. „Du musst Opa helfen, Hasenfutter holen. Er wartet in der Waschküche auf dich. Frühstücken kannst du später."
Schnell zog ich mich an.
„Guten Morgen, meine Kleine."
Die Waschküche war der größte Raum im Haus. In der linken Ecke stand der große Kessel. Großvater hatte das kleine schmiedeeiserne Türchen geöffnet, um Holz nachzulegen, damit das Wasser heiß wurde. Großmutter hatte heute Waschtag. Auch das Badewasser, für die lange Zinkwanne in der Mitte des Raums, wurde aus dem Kessel in die Wanne geschöpft. Hier wurden wir gebadet, meine zwei kleinen Schwestern und ich, nacheinander eingeseift und gründlich geschrubbt. Dass wir im Winter manchmal blaue Lippen bekamen, gehörte dazu, denn der Raum konnte nicht beheizt werden.
Einmal im Jahr wurde der Waschkessel zum Wurstkessel. Ein Schwein wurde geschlachtet. Die arme Sau musste in unserer Badewanne ausbluten.Bratwürste, Blutwürste und Schinkenwürste drehten sich dann im Kessel.
„Guten Morgen, Opa!"
Opa Johann war ein kleiner Mann, viel kleiner und dünner als meine Oma. Ich hatte Großmutter gefragt, warum das bei ihr und Opa verkehrt herum sei und der Opa viel kleiner ist als sie.
„Ich habe den Opa gar nicht heiraten wollen, unsere Eltern haben uns verheiratet. Das war früher so."
Vielleicht, so dachte ich, ist deshalb mein Opa immer draußen im Garten bei den Hasen und Oma im Haus, wenn sie doch gar nicht verheiratet sein wollten.
Opa Johann und ich pflückten viel Futter. Wir machten den Sack voll mit Löwenzahn. Großvater hatte einen großen Stall und zwanzig Hasen. Wenn es Hasenbabys gab, durfte ich mir eins aussuchen und ihm einen Namen geben. Ich wollte immer das Kleinste und das bekam von mir den größten Löwenzahn. Wurde ein Mümmelmann geschlachtet, gab es jedes Mal Ärger, denn ich weigerte mich, den Braten zu essen.
Mein Opa öffnete den Hasenstall und fütterte die Langohren. Hungrig stürzten sie sich auf ihr frisches Futter. „Hier im Haus haben Juden gewohnt, hast du das gewusst?",fragte ich unvermittelt.
„Hm…“, Großvater redete nie viel, „…das war eine Familie." „ Vielleicht hatten die auch ein kleines Mädchen?", ergänzte ich.
„Deine Großmutter hat die Bilder damals versteckt, ich habe keine Ahnung, ob da ein kleines Mädchen dabei war.“
Mein Frühstückshunger war vergessen. So schnell ich konnte, lief ich ins Haus.
Oma stand vor dem Waschkessel und rührte mit einem großen Kochlöffel die Wäsche um.
„Wo hast du die Bilder von den Juden?“, bestürmte ich sie.
Verblüfft schaute sie mich an. „Wie kommst du denn darauf?“
Ich erzählte ihr, dass ich es von Opa wusste.
„Dass der aber auch nicht sein Maul halten kann!“ Oma war wütend.
„Warum hast du die Bilder versteckt?", wollte ich wissen.
„Weil die ganze Welt damals verrückt war und man nie wusste, was noch alles passierte. Da hab ich sie vorsichtshalber vergraben. In eine Blechbüchse gelegt und im Keller verbuddelt. Vor ein paar Jahren habe ich danach gesucht, sie aber nicht mehr gefunden."
„Oma, was war denn auf den Bildern drauf?“ Ich platzte fast vor Neugier.
„Ich glaube, es waren Familienfotos. Ich weiß es nicht mehr so genau. Jetzt lass mich die Wäsche waschen.“ Für Oma war das Gespräch beendet.
Ich ging durch den kleinen Flur zu unserer Wohnung . Vor der Kellertür blieb ich stehen und trat von einem Fuß auf den anderen. Ich hasste den Keller, doch ich wollte unbedingt die Fotos finden. Außerdem konnte ich ja das Licht einschalten, anders als wenn Papa mich in den Keller sperrte und ich im Dunkeln war. Ich hatte mich überwunden und drehte den Lichtschalter herum, der sich neben der Tür befand. Dann öffnete ich den Riegel der Holztür und stieg die schmalen, steinernen Stufen hinunter. Die Glühbirne, die in einer Fassung von der Decke hing, schützte mich vor der Dunkelheit. Der Keller roch feucht und modrig. Einen Fußboden gab es hier nicht. Im Sommer und Herbst wurden die gelben Rüben für den Winter eingegraben. Dafür lehnten an der Wand ein Spaten und eine Schaufel. Ich nahm den Spaten und wunderte mich, wie schwer er war. Wo sollte ich nur anfangen zu graben?
Nicht da, wo die Rüben vergraben waren, sonst hätte Oma die Blechdose schon längst gefunden. Sie musste irgendwo anders sein. Mein Blick wanderte durch den Keller. An der Wand stand das große Holzregal mit dem Eingemachten, daneben ein Holzfass für das Sauerkraut und in der Ecke die große Kiste mit Kartoffeln. Ich würde es neben der Kartoffelkiste versuchen. Mit aller Kraft drückte ich den schweren Spaten in den Boden. Stellte einen Fuß neben den Stiel und versuchte, den Spaten noch tiefer in die Erde zu drücken. Genau wie ich es bei Opa gesehen hatte. Es ging sehr schwer. Mühsam plagte ich mich Stückchen für Stückchen vorwärts.
„Essen!“, hörte ich von oben die Stimme meiner Mutter.
Schnell trampelte ich die aufgeworfene Erde wieder fest. Ich würde Ärger bekommen, wenn jemand merkte, dass ich hier unten etwas suchte.
An diesem Tag konnte ich nicht mehr weiter graben. Doch von nun an schlich ich mich bei jeder Gelegenheit in den Keller und grub mühsam Stück um Stück den Boden um.
Umsonst, es war alles umsonst gewesen. Nichts. Vor Enttäuschung liefen mir Tränen über das Gesicht. Ich hatte mir so viel Mühe gegeben, fast jeden Tag war ich in den Keller geschlichen und hatte gegraben.
Traurig stieg ich die Stufen hinauf.
Im Garten ging ich zum Hasenstall und holte meinen Schnuffel heraus. Zärtlich strich ich über das weiche Fell und erzählte ihm, warum ich so traurig war. Tränen tropften auf den kleinen Hasen.
„Was ist denn los?“ Opa war aus dem Haus gekommen.
„Nichts", schluchzte ich.
„Ach komm“, sagte der Großvater. „Ich muss in den Keller und die alte Holzkiste erneuern. Dazu müssen die Kartoffeln raus, du kannst mir helfen."
Vorsichtig setzte ich Schnuffel zurück in seinen Stall. Dann ging ich mit Opa in den Keller.
Wir füllten die Kartoffeln in große Eimer, die Großvater neben die Holzkiste gestellt hatte.
Er zog die alte Kiste aus der Ecke. „Ich werde jetzt Holz zum Ausbessern holen. Du kannst inzwischen gut auf die Kartoffeln aufpassen." Er lächelte mich seltsam an.
Ich blickte auf das kleine Eck im Keller, wo die Holzkiste gestanden hatte.
Schnell holte ich den Spaten. Schon beim vierten Stich hörte ich ein schepperndes Geräusch. Ich kniete mich hin und grub mit den Händen weiter. Dann sah ich die Blechdose. Sie war alt und rostig. Großvater kam mit ein paar Brettern die Kellertreppe herunter. Ich stand da mit dem Spaten und der Dose.
Opa sagte nichts.
Er legte die Bretter neben die Holzkiste, dann brummelte er: „Du kannst von mir aus gehen. Wenn ich fertig bin, rufe ich dich."
Den Spaten stellte ich zurück an die Wand, und so schnell ich konnte, rannte ich die Stufen hoch.
Ich würde die Blechdose in meinem allerliebsten Versteck, dem Heuboden öffnen.
Es gab hier nur so viel Platz, dass man für die Hasen und Schweine etwas Heu für den Winter lagern konnte. Jetzt war der Heuboden leer, deshalb stand er offen. Opas Leiter lehnte immer darunter. Ich stieg hinauf und kroch, soweit es ging, hinein, damit man mich von unten nicht sehen konnte. Ich stellte die Dose vor mich auf den Holzboden. Es war gar nicht so leicht, den verbeulten, zusammengerosteten Deckel zu öffnen. Ich fand vier Schwarzweißfotografien. Zwei wurden im Winter gemacht, es lag Schnee. Die Frau und der Mann hatten lange, dunkle Mäntel an. Das kleine Mädchen, das vor ihnen stand, trug einen kurzen, hellen Mantel und eine Wollmütze, unter der dunkle Locken hervorschauten. Es lachte in die Kamera. Auf dem anderen Foto waren nur die Eltern, auf dem dritten die Tochter allein abgebildet. Sie trug ein Sommerkleid, und in die dunklen Haare war eine Schleife gebunden. „Schwarze Lackschuhe!",entfuhr es mir. Ich hatte noch nie so schöne Schuhe gesehen. Das Mädchen lachte. Sie sah so fröhlich aus, und ich dachte: „Vielleicht ist es genauso alt wie ich. Auf dem letzten Foto waren eine Oma, ein Opa und die Eltern mit dem Mädchen zu sehn. Dieses hatte wieder das Sommerkleid an und eine Puppe mit langen Zöpfen im Arm. Ich staunte: „Dieses Mädchen hatte eine Puppe für sich allein.
Zwischen den Fotos lag ein zusammengefalteter Zettel:
"Liebe Sarah, wir werden jetzt abgeholt. Ich weiß nicht, wann wir zurück sind. Warte auf mich! Wenn ich wiederkomme, dann spielen wir wieder zusammen, versprochen.
Deine Judith!"