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Der Kater im Sack
„Also wenn ich du wäre, hätte ich mich wahrscheinlich schon längst erhängt!“ feixt Anne mit einer Mischung aus Anerkennung und selbstgefälligem Grinsen. Wir treffen uns nur noch selten, aber nun sitze ich seit Langem mal wieder auf ihrer Couch und präsentiere ihr die Highlights des vergangenen Jahres wie im Zeitraffer: Ja, die Arbeit läuft mäßig und der Familie geht es gut. Wir sind bereits bei den wirklich interessanten Dingen, nämlich sämtlichen schmutzigen Details meines Liebeslebens.
„Scheiße, Jule, du glaubst gar nicht wie sehr mir deine Eskapaden gefehlt haben.“
Anne blickt mich verschmitzt und mit geröteten Wangen an. Ich blicke skeptisch zurück.
„Anne, korrigiere mich, wenn ich falsch liege, aber bist du nicht gerade frisch verlobt? Solltet ihr nicht gerade eure eigenen Eskapaden erleben?“
„Sollten wir, ja. Und weißt du noch was? Kauf' niemals den Kater im Sack!“
„Oh!“, sage ich.
„Genau!“, sagt Anne.
Die Beiden kennen sich ganze 4 Monate und werden vermutlich genauso schnell Teil der steigenden Scheidungsrate sein.
Natürlich bin ich zu der Hochzeit eingeladen, aber wir fanden es doch ganz sinnvoll, dass ich den Bräutigam vorher mal kennen lerne. Im Moment kenne ich nämlich ausschließlich den fetten Klunker an ihrer Hand mit dem er um selbige angehalten hat. Wenn er so schmalzig ist wie der Ring, kann ich ihn schon jetzt nicht leiden.
„Ach, ich bin sicher ihr kriegt das noch hin. Ich freu' mich jedenfalls riesig ihn endlich mal zu treffen!“, lüge ich und lächle. Meine Einstellung zu Monogamie und schlechtem Sex – und das auch noch in Kombination – behalte ich an dieser Stelle lieber für mich.
„Ja, na klar“ lächelt auch Anne ihre Unsicherheit weg. „Erzähl' mir lieber mal, was es mit dem mysteriösen Bild auf sich hat, das du mir geschickt hast. Ich will ALLES wissen!“, fordert sie.
Bei der Erinnerung daran muss ich unwillkürlich schmunzeln. Alle damit verbundenen Gefühle, Gerüche und Geschmäcker werden sofort wieder wach und ich befinde mich in einem wohligen Rausch dank meines körpereigenen Chemielabors.
„Ok, jetzt will ich es erst recht wissen! Wer ist das auf diesem Bild und was zum Teufel hat er mit dir gemacht?“
„Eindruck! Das hat er gemacht.“, antworte ich geheimnisvoll.
„Und offensichtlich ist er ein guter Ego-Push nach deinem ganzen Liebeschaos.“
„Ja, schien mir auch die bessere Alternative zum Erhängen gewesen zu sein.“, frotzele ich.
„Na schön, offensichtlich willst du mir nicht mehr darüber erzählen. Aber dann zeig' mir wenigstens wie Mr. X weiter oben aussieht. Du weißt schon, da wo man einem Menschen normalerweise zuerst hinsieht.“
„Auf die Bauchmuskeln?“, frage ich scheinheilig.
Anne sieht mich mit ihrem typischen Blick an. Eigentlich möchte sie streng wirken und mich für meine doofen Kommentare wortlos strafen, aber das gelingt ihr nie, weil sie meine doofen Kommentare liebt und sie insgeheim lustig findet. Ich muss lachen.
„Ok, ok! Irgendwo hier hab' ich ein Schnappschuss von uns Beiden.“
Als ich das Bild endlich finde und es Anne erwartungsvoll unter die Nase halte, verschwindet ihr 'Anne-Blick' ganz plötzlich und weicht einem Gesichtsausdruck, den ich an ihr vorher noch nie gesehen habe. Vielleicht fällt es mir deshalb so schwer ihn zu deuten. Ich bin mir nicht sicher, ob sie so hingerissen ist, dass es ihr die Sprache verschlägt oder ob ich versehentlich ein verstörendes Nacktbild angeklickt habe.
Ich frage vorsichtshalber mal nach: „Anne?“
Doch bevor ich noch was sagen kann, ist sie schon in Tränen ausgebrochen und wirft mit dem Klunker und Flüchen nur so um sich.
Und plötzlich war der Kater aus dem Sack.