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Der Kassenpatient
Der Kassenpatient oder „The person you`ve called is temporarily not available“
Ein Drama in fünf Akten
1. Akt, 1.Szene, Krankenhaus, Zimmer 242
„Und das sind Onkel Klaus und ich vor unserem Hotel.“
„Aha ... hm ... schön.“
„Und das ist der Jupp, unser Reiseleiter von Neckermann.“ erklärt mir Tante Gitte und deutet auf das ungefähr tausendreihundertundvierte Urlaubsfoto ihres Sommerurlaubs in Griechenland. Gelangweilt schaue ich aus dem Fenster auf den Krankenhausparkplatz.
„Und das bin ich vor unserem Frühstücksbüffet. Das war immer toll, nur Schwarzbrot hatten sie leider nicht.“
„Ist es denn wahr?!“, meine ich mit gespieltem Erstaunen und hoffe, dass Tante Gitte möglichst bald alle ihre Fotos, die auf meiner Bettdecke verstreut sind, endlich zusammenpackt. Denn das einzige, was ich jetzt seit gut einer Stunde sehe ist: Onkel Klaus vorm Pool, Tante Gitte vorm Pool, Onkel Klaus am Strand, Tante Gitte am Strand und Tante Gitte zusammen mit gequält lächelnden Einheimischen vor einer aus Ruinen bestehenden Touristenattraktion aus dem dritten Jahrhundert. Übrigens ein Bild bei dem man aufgrund von Tante Gittes Körperumfang und ihrem triumphierenden Lächeln meinen könnte, sie allein wäre für den abbruchreifen Zustand des Tempels hinter ihr verantwortlich.
Ich lasse meinen Blick von meinem Gipsbein über Tante Gitte, die gerade die nächste Fototasche hervorzaubert, auf meinen Nachttisch gleiten, auf dem sich noch immer mein unberührtes Mittagessen, ein Telefon, eine Blumenvase mit Tulpen meines Vorgängers, ein Radio, eine Schachtel Pralinen und drei Rätselhefte von Tante Gitte befinden.
„Ja, Karsten, ich muss dann aber auch langsam mal wieder weiter.“, meint Tante Gitte und packt den Gitte-und-Klaus-in-Griechenland-Fotoroman wieder zusammen.
„Ich muss nämlich noch zum Frisör“, fährt sie fort während sie mir ALLES LIEBE UND GUTE BESSERUNG VON TANTE GITTE auf meinen Gipsfuß schmiert, auf dem mittlerweile fast die gesamte Station Zwei, meine Familie und mein marokkanischer Zimmernachbar Youssuf El-Hamrazi (25, Automechaniker) unterschrieben haben „ich gehe nämlich heute Abend ins Theater – Hamlet von Scheykschpier!“
Tante Gitte im Theater, und dann noch in einen Shakespeare! Es geschehen noch Zeiten und Wunder! Ich überlege noch, ob ich Tante Gitte besser darauf hinweisen soll, dass man im Theater nicht rhythmisch mitklatscht es in der Pause keinen Kölsch-Stand gibt und Karl Moik nicht den Hamlet spielen wird, als sich auf einmal ziemlich abrupt das marode Erinnerungszentrum meines Abiturientengehirns zu Wort meldet. Moment! Theater? Shakespeare?
„Scheiße!“, entfährt es mir, aber Tante Gitte ist Gott-sei-Dank schon in der Tür und winkt mir zum Abschied noch einmal fröhlich zu, bevor sie die Tür von Zimmer 242 krachend zuzieht.
Siedendheiß fällt mir ein, dass ich ja heute Abend mit Anke ins Theater wollte. Nein, nicht wollte. „Gewollt überredet worden bin“ ist vielleicht der bessere Ausdruck, denn eigentlich sollte ja Ankes neuer Freund Björn (nach Arne dem Kfz-Mechaniker) mit ihr gehen, aber dieser konnte gerade an diesem Tag nicht mitkommen, ansonsten ist er ja für jeden vierstündigen Shakespeare anstelle von Fußball im Fernsehen zu haben, aber ausgerechnet heute Abend ging es nicht!
Also fragte Anke, die nicht alleine ins Theater gehen wollte, ihren besten Freund, nämlich mich, und da ich Anke leider noch nie einen Gefallen abschlagen konnte, habe ich nach einer halben Stunde Überredung und drei Kölsch am letzten Freitag schließlich schweren Herzens zugestimmt.
Diesen kulturellen Höhepunkt meines bisherigen Deutsch-GK-Lebens habe ich aber im allgemeinen Chaos gestern und heute völlig vergessen, so dass Anke, die mich an diesem Abend vor dem Stadttheater erwartet, noch gar nicht weiß, dass ich mit einem Schienbeinbruch im St.Polonius-Krankenhaus liege.
„Wollen Sie nichts essen?“, reißt mich Lernschwester Clara, die mittlerweile herein- gekommen ist, um meinem marokkanischen Zimmernachbarn irgendwelche Pillen anzudrehen, aus meinen Überlegungen.
Ich werfe einen kurzen Blick auf das zähe, schwarze Viereck, das einen Sauerbraten darstellen soll, und wahrscheinlich mindestens viermal gekocht wurde, lasse meinen Blick auf den neongelben Klumpen Kartoffelbrei weiterwandern, der im Dunkeln wahrscheinlich leuchtet, und bleibe schließlich angewidert an zwölf bis vierzehn holzigen Spargelstückchen hängen, die, wenn man sie an die Wand wirft, was wahrscheinlich das sinnvollste wäre, noch bis Nikolaus daran hängenbleiben würden. Auch das Schälchen mit Ananasjoghurt, das mehrmals vom Servierwagen gefallen zu sein scheint, da sich der Inhalt nur am Rand und teilweise außerhalb der Schale befindet, kann mein vernichtendes Gesamturteil nicht mehr retten.
„Nein, ich will nichts essen. Es sei denn, das hier wird noch mal als etwas anderes wiedergeboren.“, füge ich hinzu und Lernschwester Clara schaut mich verwirrt an.
„Aber Sie müssen doch was essen!“
„Aber nicht das da!“, entgegne ich und greife mir das Telefon um Anke abzusagen, und einer längeren Diskussion mit Schwester Clara zu entgehen. Nach dem Disput mit der Oberschwester, als ich heute Mittag zweimal unabsichtlich an die Notruftaste gekommen bin, habe ich für heute keine Lust mehr auf Auseinandersetzungen mit dem Krankenhauspersonal.
„Ich lass es Ihnen besser noch hier stehen, vielleicht kriegen sie ja doch noch Hunger.“, meint Schwester Clara und wendet sich nun Youssuf (doppelter Kreuzbandriß) zu, um ihn und seine Familie, die mittlerweile eingetroffen ist, daran zu erinnern, dass das Rauchen von Wasserpfeifen in den Krankenzimmern nicht gestattet ist.
Ich schiebe meine Telefonkarte in das Telefon und wähle Ankes Nummer 9...2...4...6...7...
„Kein Anschluss unter dieser Nummer“, teilt mir eine unfreundliche Frauenstimme mit. Ich probiere es noch einmal - mit gleichem Erfolg. Nach dem vierten Versuch fällt mir ein, dass Kapcinskys, also Ankes Eltern, ja seit zwei Wochen ISDN und eine neue Nummer haben.
Diese steht aber nicht in meinem Adressbuch, sondern auf einem Zettel, der in meiner Schreibtischschublade liegt. Kein Problem! Dann rufe ich Anke eben auf ihrem Handy an. Ich schlage die Nummer nach und zwölf Ziffern später kommt ein fröhliches:
„The person you‘ve called is temporarily not available.“
Da die Mitarbeiter der Telekom erstaunlicherweise zu wissen scheinen, dass mein Englisch nicht das Beste ist kommt direkt danach das ganze noch einmal in meiner Muttersprache.
„Der gewünschte Gesprächsteilnehmer ist zur Zeit nicht zu erreichen.“
Mein nächster Anruf geht nach Hause.
„TUT ... TUT ...Ja, hallo hier auch. Hör mal, irgendwo in meiner ... nein, mir geht’s gut, alles in Ordnung, Mom, ja ... irgendwo in meiner Schreibtischschublade, ich glaube links unten ist ein grüner Zettel, da steht die neue Telefonnummer von Ankes Eltern drauf. Kannst Du den bitte für mich suchen und mir die Nummer durchgeben. Danke. Tschüs, ach ja, kannst Du mir heute Abend was zu Essen mitbringen, egal was!“
In den nächsten zehn Minuten warte ich auf einen Rückruf meiner Mutter, während Youssufs marokkanische Familie mittlerweile angefangen hat, Gebetsteppiche auszurollen und merkwürdige Gesänge anzustimmen. Denn heute sei, so erklärt mir Youssuf einer der höchsten islamischen Feiertage des Jahres, dessen Namen aus ungefähr vier „As“ und zwei Dutzend Rachenlauten besteht, und ich bei dem Versuch ihn möglichst originalgetreu nachzusprechen beinahe meine Zunge verschluckt hätte. „Auf jeden Fall“ so erklärt mir Youssufs Vater unaufgefordert „muss an diesem Tag die ganze Familie zur Ehre Allahs versammelt sein um gemeinsam zu Beten.“
Diese ganze Familie umfasst mittlerweile gut zehn Personen und in Krankenzimmer 242 wird es langsam aber sicher ziemlich voll.
Da meine Mutter immer noch nicht angerufen hat, schnappe ich mir meinen Terminplaner, den ich glücklicherweise mitgenommen habe, und beginne in meinem Adressbuch zu blättern. Das wichtigste Element dieses Planers neben den Terminen für Schulferien und der Liste der deutschen Autokennzeichen (TS = Traunstein) ist das Telefonverzeichnis, da ich den Terminplaner sowieso nicht brauche. Denn wichtige Termine kann ich sowieso nicht vergessen, da bei jeder Veranstaltung garantiert zwei Stunden vorher jemand bei mir anruft und fragt, ob ich ihn nicht mitnehmen könne.
Als nächstes probiere ich es bei Henrike, Ankes bester Freundin, die wahrscheinlich Ankes neue Nummer hat, aber dort ist leider besetzt. Also rufe ich bei der Auskunft an.
Eine nette Frauenstimme teilt mir mit, dass ich mich noch einen Moment gedulden solle und wiederholt diese wichtige Botschaft nach ungefähr fünfzehn Sekunden Schlagermelodie noch einige Male.
Eine neue Schwester kommt herein und bittet Familie El-Hamrazi doch etwas leiser zu beten, da sich die Patienten in den umliegenden Zimmern gestört fühlen.
„Auskunft Deutsche Telekom, mein Name ist Silke, wie kann ich Ihnen helfen?“, meldet sich nach ungefähr zwanzig Warteschleifen eine weibliche Stimme, die klingt als hätte man ihre Besitzerin gerade aus dem Bett oder aus einer Kaffeepause geholt.
Nachdem ich Silke unzählige Male „Kapcinsky“, Ankes Nachnamen, buchstabiert habe, hat sie auch endlich die gesuchte Nummer gefunden und lässt mich mürrisch wissen, dass die gewünschte Nummer jetzt angesagt wird. Ich habe aber leider nichts zum Schreiben zur Hand.
„Hallo ... Schwester (den Namen auf ihrem Schildchen kann ich im Moment nicht lesen), könnten sie mal bitte eben eine Nummer für mich aufschreiben.“, meine ich zu ihr als sie gerade das Zimmer wieder verlassen will.
Sie schaut mich an, als hätte ich Gott-weiß-was von ihr gefordert, notiert aber schließlich die angegebene Nummer „Zweiundneunzig, Sechsundvierzig, Sieben“ auf meinem Gipsbein, da auch sie kein Papier da hat. Allerdings nicht in Ziffern, sondern in Buchstaben und ich frage mich ob es in diesem Krankenhaus auch (abgesehen von meiner Schwester Lydia, die in der Anästhesie arbeitet) normale Krankenhausangestellte gibt. Nach der Belegschaft von Station Zwei zu urteilen, habe ich berechtigte Zweifel.
„Danke und könnten Sie vielleicht Schwester Lydia von unten bitten vorbeizukommen.“, meine ich, da ich sehe, dass meine Telefonkarte dem Ende entgegengeht.
Sie nickt, nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen hält sie mich wahrscheinlich für genau so bescheuert wie ich sie, und verlässt das Zimmer.
Ich blicke mit knurrendem Magen auf mein ekliges Mittagessen, das man wahrscheinlich selbst aus der dritten Welt wieder zurückgeschickt bekäme. Ich warte auf meine Schwester Lydia und eine neue Telefonkarte und beschließe, mich solange an den Krokantmokkabohnen von Tante Gitte zu erfreuen.
1. Akt, 2. Szene, Krankenhaus, Schwesternzimmer
„Also der Beinbruch von 242 ist jawohl ziemlich daneben.“
„Ach, das ist der, der nichts essen will, nicht wahr?“
„Genau, sicher irgendein Yuppie, wahrscheinlich erfolgreicher Jungmanager, oder so. Hängt die ganze Zeit nur am Telefon, tut fürchterlich wichtig und dann soll ich für ihn auch noch Sekretärin spielen.“
„Das ist doch der mit dem Mullah auf dem Zimmer, der uns den ganzen Tag schon mit der Notruftaste nervt!“
„Genau der! Aber gerade hat er gesagt ich sollte Schwester Lydia von unten zu ihm schicken. Aber Schwester Lydia ist doch aus der Anästhesie?!“
„Was will der denn mit Betäubung, der ist doch erst heute morgen operiert worden.“
„Wahrscheinlich will er nur ein Schmerzmittel und tut ganz wichtig.“
„Na gut, dann gebe ich ihm eben ein Schmerzmittel, vielleicht ist er dann ruhig!“
„Also lange halt ich das nicht mehr aus!“
2. Akt, 1.Szene, Krankenhaus, Zimmer 242
Meine Mutter hat noch nicht angerufen, meine Schwester ist noch immer nicht da, statt dessen kommt die nervtötende Oberschwester wieder und gibt mir irgendwelche Tabletten „gegen die Schmerzen“. Meine Frage, was denn bitte für Schmerzen sie meinen würde, wird einfach ignoriert. Statt dessen kommt ein mißbilligendes:
„Sie haben ja noch immer nichts gegessen.“
Doch zweiundzwanzig Krokantmokkabohnen.
„Nein und könnten Sie es bitte mitnehmen (denn immer wenn ich einen Moment wegschaue, könnte ich schwören, es hat sich gerade bewegt.)“, bitte ich in meinem freundlichsten Tonfall und schmeiße unbemerkt von der Oberschwester die Tabletten in die Blumenvase, wo sie sich sprudelnd zwischen den Tulpenstengeln auflösen.
„Ich hol’s nachher ab, vielleicht bekommen Sie ja doch noch Hunger.“, meint die Oberschwester, während sie mich an der Schulter nach vorne reißt um völlig überflüssigerweise mein Kopfkissen aufzuschütteln.
Ich schlucke einen spontanen Kommentar herunter, ärgere mich darüber, dass ich nur Kassenpatient, also Patientenabschaum bin und warte bis die Oberschwester endlich das Zimmer verlassen hat - ohne meinen Mittagsmatsch! Und für einen kurzen Moment bin ich versucht Sauerbraten, Kartoffelbrei und Spargel an die Wand zu klatschen, da alles besser zu sein scheint, als der moderne Kunstdruck der dort hängt. Da ich aber Angst habe versehentlich den Fernseher (meine einzige Rettung!) zu treffen, lasse ich es bleiben.
Langsam, aber sicher beginne ich mich über so ziemlich alles hier in diesem Krankenhaus aufzuregen. Das fing schon gestern Abend bei meiner Einlieferung an, als sich der unfähige Zivi an der Pforte darüber beschwerte, dass ich meine achtstellige Krankenversicherungs-nummer nicht auswendig konnte und meine Versicherungskarte aus Versehen nicht dabei hatte. Dann kam der Ambulanzarzt, der trotz offensichtlicher Schmerzen im Bein erst einmal begann, meine Brust abzuhorchen, worauf ich ihm mitteilte, dass ich nicht erkältet sei. Der absolute Höhepunkt in der Unfallstation des St.Polonius-Krankenhauses am gestrigen Abend war aber der muffige Röntgenassistent, der mein gebrochenes Bein erst einmal mit richtig Schwung auf den Röntgentisch knallen musste. Spätestens jetzt, gab es garantiert einen Grund für meine heutige Operation. Mein Kommentar „Das war eigentlich das gesunde Bein!“, sorgte neben einem Lacher der Krankenschwester leider dann auch dafür, dass ich gute zweieinhalb Stunden auf meine Röntgenbilder warten musste.
Mitten im zwölften Kapitel des Korans, von dessen Geleier ich mittlerweile schon leichte Kopfschmerzen habe, bietet mir Youssuf seine Telefonkarte an und ich nehme dankend an.
Langsam wähle ich Ankes Nummer, die ich mühsam aus dem Gekrakel der Schwester von meinem Gipsbein ablese, und die mir seltsam bekannt vorkommt ... 92 ... 46 ... 7 ...
Nach dem zweiten „Kein Anschluss unter dieser Nummer“ fällt mir auf, dass es sich hier wieder um Kapcinskys alte Nummer handelt.
Ich verfluche gerade Silke von der Auskunft und die gesamte Telekom, als das Telefon klingelt und meine Mutter mir mitteilt, dass sie einen Zettel gefunden habe. Auf diesem stehe zwar ANKE, er sei aber weiß und nicht grün. Ich leihe mir einen Stift von Youssufs Onkel Chokri El-Hamrazi und lasse mir die Nummer sicherheitshalber zweimal durchgeben.
Mit einem Anflug von Euphorie wähle ich die neue Nummer kriege aber nur ein Piepen am anderen Ende. Nach einiger Zeit habe ich keine Lust mehr, mich weiter mit Kapcinskys Faxgerät zu unterhalten und lege auf.
Ankes Handy ist noch immer ausgeschaltet und bei Ankes Freundin Henrike ist wie gerade besetzt. Wahrscheinlich führt sie gerade eines ihrer Endlosgespräche mit Roger, bei denen ich einmal Zeuge sein durfte. („Sollen wir heute ins Kino.“ „Wenn Du willst.“ „Ich will das aber nicht allein entscheiden.“ „Von mir aus können wir auch woanders hingehen.“ „Also nicht ins Kino?!“ „Von mir aus können wir auch ins Kino gehen.“ „Aber Du willst nicht direkt, oder?“ „Was willst Du denn gerne?“ „Ich mach das, wozu Du Lust hast.“ u.s.w)
Also probiere ich es als nächstes bei Ankes zweitbester Freundin Corinna. Eine Nummer die ich erstaunlicherweise nicht nachschlagen muss. Bei ihren Eltern geht keiner dran, also versuche ich es auf ihrem Handy. Warum haben eigentlich alle ein Handy, und sind trotzdem nie zu erreichen, frage ich mich, während es im Hörer tutet.
„Hallo hier ist Corinna Gerber ...“
„Hi Corinna, hier ist Karsten und ...“
„ ... ich bin zur Zeit leider nicht zu erreichen, Du kannst mir aber nach dem Piepton eine Nachricht auf meiner Mailbox hinterlassen. Tschüss. PIEP.“
„Hallo Corinna, hier ist Karsten und ... äh ... ich liege gerade im Krankenhaus und ...“
In diesem Moment geht die Zimmertür auf und ein ohrenbetäubender Gesang erschallt, der von ungefähr zwanzig etwa sechzigjährigen Männern im Trachtenanzug kommt, die sich unaufgefordert in unser Zimmer drängeln. Die El-Hamrazis und ich mit dem Telefonhörer in der Hand starren die Männer verblüfft an, und diese brechen ihr „Üb immer Treu und Redlichkeit“ schließlich ebenso verwundert ab. Nachdem eine Schwester gekommen ist und den Mitgliedern des MGV Concordia Niedernhöhe erklärt, dass ihr Sangesbruder Hubert F. gestern schon entlassen worden ist, entschuldigt sich der Vorsitzende noch eben schnell bei uns und drängelt sich mit seinen Kollegen wieder hinaus.
Ich nehme den Telefonhörer ans Ohr und wende mich wieder Corinnas Mailbox zu.
„ ... äh, Corinna also nochmal, ich bin hier im Krankenhaus und ...“
„ PIEP. Danke für deine Nachricht. KLICK.“
Da dieses sicherlich eine der merkwürdigsten Nachrichten war, die Corinna auf ihrer Mailbox je empfangen hat, beschließe ich gleich noch mal anzurufen.
„St. Polonius Klinik, Waldner mein Name, wie kann ich Ihnen helfen?“ meldet sich eine Stimme die überhaupt nicht nach Corinna klingt und mich unterbricht obwohl ich noch gar nicht mit Wählen fertig war.
„Was machen Sie denn in meiner Leitung?“, frage ich die junge, affektiert wirkende Männerstimme am anderen Ende.
„Sobald Sie die Null wählen, werden Sie automatisch hausintern mit der Pforte verbunden.“
Ach, das ist der Zivischnösel von gestern Abend!
„Aha“, mache ich um etwas Zeit zu gewinnen, da ich dem blöden Kerl einen Spruch reindrücken will, mir aber im Moment noch nichts einfällt.
„Kann ich denn sonst etwas für Sie tun?“, fragt der Zivi in einem fast glaubhaften Tonfall.
Ich überlege kurz.
„Würden Sie für mich zu Burger King fahren?“
„Nein.“
„Dann war’s das. Danke.“, meine ich und beende das Gespräch.
In diesem Moment geht die Tür auf (ich hatte mich gedanklich schon auf eine Volkstanzgruppe oder ein Blasorchester gefasst gemacht), aber es sind nur Jörg und Heiko, die gerade vom Jahreskurs Geschichte kommen.
Während sich Jörg und Heiko vom Gang zwei Stühle organisieren, versuche ich es noch mal auf Corinnas Handy, aber leider ist auch diese Telefonkarte mittlerweile am Ende.
Jörg schnappt sich gleich zielsicher eines von Tante Gittes Rätselheften, während Heiko versucht Krankenhaussmalltalk zu machen.
„Und wie geht’s Dir so?“
„Hm.“
„Und wie war die Operation?“
„Keine Ahnung, ich hab geschlafen.“
„Ach ja, klar. (Pause) Du wirst es nicht glauben, Rebecca und Roman sind nicht mehr zusammen!“
„Ich weiß. Das war letzte Woche, ich liege erst seit gestern hier.“
„Ach ja ... ähm ...
Er wirft einen Blick auf mein Mittagessen. Kann man es überhaupt als Essen bezeichnen, denn es scheint mir außer Farbstoffen so überhaupt keine Vitamine, Nährstoffe, Kohlehydranten und den ganzen anderen Kram zu enthalten? Dafür ist es wahrscheinlich auch keimfrei und bis 2017 haltbar.
„ ... Karsten, wenn Du dein Essen nicht mehr, ich mein, ich hab seit heute Morgen nichts mehr gegessen und ...“
„Nur zu. Bedien` dich!“, meine ich und überlege ob Heiko dafür ausreichend krankenver-sichert ist.
„Ist das Autokennzeichen von Traunstein „TS“?“ fragt Jörg von einem Kreuzworträtsel aufschauend, während ich fasziniert beobachte, wie Heiko sich den ersten Bissen in den Mund schiebt.
„Aufgussgetränk mit drei Buchstaben?“, grübelt Jörg weiter.
„Bäh!“, macht Heiko und spuckt den Bissen wieder auf den Plastikteller zurück.
Nachdem uns Jörg mitteilt, dass „Bäh“ zwar passt, aber keinen Sinn ergibt und Heiko überlegt, ob er dieses Essen morgen zur Analyse mit in den Chemie-LK nehmen soll, erkläre ich ihm, dass sich in diesem Krankenhaus alle weigern, mein Essen abzuräumen.
Mit den Worten „Du musst als Kassenpatient genau wissen, wie Du was erreichst“, greift Markus zum Tablett und schmeißt mein Essen, verdünnt mit etwas Wasser aus der Blumenvase in die Bettpfanne unter meinem Rollbett, die ich vorher noch gar nicht zur Kenntnis genommen hatte.
„Wo kann man hier klingeln? Da?“ fragt Heiko und ehe ich noch reagieren kann, drückt er die Notruftaste.
„Kennst Du ein Aufgussgetränk mit drei Buchstaben?“, fragt Jörg, der von alldem nichts mitbekommen zu haben scheint, Heiko.“
„Gin.“
„Passt, aber das zweite ist ein „E“.“
Lernschwester Clara stürmt herein und fragt, was denn jetzt schon wieder los sei, worauf Heiko auf die volle Bettpfanne deutet. Sie beginnt diese auf der Toilette auszuleeren und Jörg fragt sie, ob sie ein Aufgussgetränk mit drei Buchstaben kennen würde, während Heiko unterdessen angefangen hat Familie El-Hamrazi „Die Karawane zieht weiter ...“ beizubringen, was jedoch kläglich scheitert.
Als Lernschwester Clara kurze Zeit später den Raum wieder verlässt, scheint sie völlig von der Rolle zu sein, Jörg hat sein Aufgussgetränk (Was ist das denn überhaupt?) noch immer nicht gefunden, Heikos Akt der Völkerverständigung ist endgültig gescheitert, nachdem er in seiner Erdkunde-Unkenntnis Bagdad als Hauptstadt Marokkos deklariert hat, und meine Schwester beziehungsweise eine neue Telefonkarte und damit die Chance, Anke zu erreichen sind noch immer nicht in Sicht.
„Islamischer Pilgerort mit fünf Buchstaben, das erste ist ein „M“?“
„Mainz.“, meint Markus (Religion bis zur 7) zielsicher.
„Passt.“, sagt Jörg und trägt es ein, während zehn Marokkaner neben mir gleichzeitig die Augen verdrehen.
2. Akt, 2. Szene, Krankenhaus, Schwesternzimmer
„Was wollte der Beinbruch von 242 denn jetzt schon wieder?“
„Er hat endlich gegessen, aber alles direkt wieder ausgeschieden.“
„Ausgeschieden?“
„Ja, die ganze Bettpfanne war voll, und es sah so aus als hätte er ziemliche Verdauungs-schwierigkeiten.“
„Auch das noch.“
„Auf jeden Fall, hat er mich nach einem Aufgussgetränk gefragt.“
„Ich versteh den Kerl nicht, erst will er eine Betäubung und jetzt einen Tee bei Durchfall.“
„Soll ich ihm was für die Verdauung bringen lassen?“
„Ja, mach das! Und ich schau noch mal in seine Krankenakte.“
„Hoffentlich gibt er dann Ruhe, ich halt das nicht mehr lange aus!“
3. Akt, 1. Szene, Krankenhaus, Zimmer 242
Jetzt bin ich kaum einen Tag im Krankenhaus und brauche schon wieder einen neuen Gips, denn nachdem die El-Hamrazi zum Abschied noch alle unterschrieben haben, ist fast kein Platz mehr darauf. Sollten nun mehr als fünf weitere Besucher kommen, muss ich mir mindestens noch einen Arm brechen um für alle sinnlosen Genesungswünsche und Unterschriften Platz zu haben. Jörg lässt mir zum Abschied noch ein immens wichtiges Matheblatt da und Jörg bringt mir, bevor sie gehen, noch eben von der Pforte eine neue Telefonkarte mit.
Ich stecke die dritte Telefonkarte ins Telefon und versuche es zum weiß-nicht-wievielten-Male auf Ankes Handy, wo mir die freundliche Frauenstimme von eben zu meiner großen Überraschung mitteilt, dass der gewünschte Gesprächspartner noch immer nicht zu erreichen sei.
Fluchend lege ich auf und versuche es bei Henrike, wo noch immer, jetzt schon seit über zweieinhalb Stunden besetzt ist. Sollte dieses Gespräch nach Grönland oder Zimbabwe gehen, so muss die Gebäudereinigungsfirma von Henrikes Papa wohl bald Konkurs anmelden.
Gerade als ich mit dem Gedanken spiele, es erneut auf Corinnas Mailbox oder noch mal bei der Auskunft zu versuchen, zuckt zum zweiten Mal an diesem Tag ein Gedankenblitz durch mein Gehirn, der krachend ins Kreativzentrum einschlägt – BJÖRN!
Björn, Ankes Freund müsste ihre neue Nummer eigentlich auch haben! Warum bin ich da nicht schon viel früher drauf gekommen?
Mit zittrigen Fingern durchblättere ich mein Telefonverzeichnis und finde ihn schließlich unter „B“ wie Björn, da ich mir seinen Nachnamen (Feuerer) aus mir unerfindlichen Gründen nicht merken kann.
„TUUUT .... TUUUUT .... TUUUUT ...“
Zweiundzwanzig „Tuts“ später, ich will gerade schon resigniert wieder auflegen, meldet sich eine völlig verschlafene Stimme und nuschelt einen Namen, den ich beim besten Willen nicht verstehen kann. Während ich noch überlege, ob ich mich wohl verwählt habe, fällt mir wieder ein, dass Björn ja in einer WG wohnt.
„Hallo, ist Björn da?“, frage ich freundlich.
„Ich schau mal.“, teilt mir die Stimme mit, die klingt, als hätte ich ihren Besitzer gerade bei einer wilden Marihuanaparty gestört.
Ich höre schlurfende Schritte, ein Rülpsen und dann:
„Ist nicht da, soll ich wasaaaaaaaaaaahausrichten?“
Die letzten beiden Wörter werden durch ein lang gezogenes Gähnen miteinander verbunden.
Bevor mein, von dieser Unterhaltung völlig geschaffter, Gesprächspartner wieder auflegt, kann ich aber von ihm noch unter größtmöglicher Anstrengung die Nummer von Björns Dienststelle, wo er sich wahrscheinlich gerade aufhält, herausquetschen.
Als ich gerade aufgelegt habe und ich die Nummer der DEVK-Versicherung, die ich auf die Rückseite von Tante Gittes Pralinenschachtel geschrieben habe, wählen will, kommt die Praktikantin, die mir heute Mittag das Essen gebracht hat, herein und winkt fröhlich mit zwei länglich bunten Kapseln, die sie mir mit einem Glas Wasser unter die Nase hält. Während ich noch überlege, ob es sich hier um mein Abendessen oder etwas anderes (Viagra kann es nicht sein, die sind ja weiß!) handelt, stopft sie mir die beiden Kapseln in meinen erstaunt geöffneten Mund und schiebt das halbe Glas Wasser hinterher.
„Und wofür war das jetzt?“, frage ich, noch immer den Telefonhörer in der Hand.
„Die sind für ihre Verdauung.“, meint sie fröhlich und verlässt das Zimmer.
Verdauung? Ich habe seit dem Frühstück vor der Operation heute Morgen und zweiundzwanzig Krokantmokkabohnen nichts mehr gegessen. Und überhaupt, kriegen alle Leute mit gebrochenem Schienbein was für die Verdauung?
Ich will Youssuf danach fragen, aber dieser ist nach 2000 Mal „Mohammed“ und 64.000 Mal „Allah“ verständlicherweise eingeschlafen.
Noch immer etwas verwirrt und mit mittlerweile knurrendem Magen, rufe ich bei der DEVK an, um von Björn Ankes Nummer zu erfahren und ihr so für heute Abend abzusagen.
Eine Dame namens „DEVK-VersicherungenSchmitz-HolzkampmeinNamegutenTagwaskann-ichfürsietun?“ meldet sich und ist sich nach längerem Überlegen sicher, noch nie von einem Björn Feuerer in ihrem Haus gehört zu haben, verspricht aber mich durchzustellen. Wohin sie mich durchstellen will, verrät sie mir nicht!
Nach den folgenden Gesprächen mit Herrn Arens (Lebensversicherungsabteilung), Frau Sadlowski (Wasserschaden), Herrn Hallmackenreuther (Brandschutz) und einer Praktikantin mit Namen Monika (nette Stimme, aber keine feste Abteilung) scheint sich der Verdacht zu erhärten, dass sich Azubi Björn wohl entweder in der Unfallversicherungs- oder Auslandskrankenversicherungsabteilung aufhalten muss. Ich werde zu einer gestresst klingenden Sekretärin durchgestellt, die verspricht, mich mit seinem Büro zu verbinden. Statt dessen lande ich aber wieder bei Frau Schmitz-Holzkamp vom Anfang, die mich sofort wieder zurückverbindet und die Sekretärin so an den Rande eines Nervenzusammenbruchs bringt. Als sie mich ein zweites Mal verbindet, bin ich nach unzähligen Warteschleifen mittlerweile soweit, dass ich das lustige DEVK-Versicherungslied ganz mitsingen kann. Als mir eine neue Sekretärin (die alte ist sicher schon unterwegs in mein Krankenhaus) zu meiner großen Überraschung mitteilt, dass sich in diesem Büro keiner meldet und mir rät es später noch mal zu probieren, lege ich entnervt auf.
Während ich, den DEVK-Song vor mich hin summend, zu einem Rätselheft greife, öffnet sich die Tür und mein persönlicher Alptraum Sarah kommt fröhlich winkend herein.
Schlagartig wird mir bewusst, dass ich nur ein dünnes Nachthemd trage und durch ein Gipsbein gehandicapt bin. Plötzlich muss ich an Hitchkocks „Das Fenster zum Hof“ denken. Bevor ich mich jedoch daran erinnern kann, ob bei diesem Film der Held im Rollstuhl am Ende überlebt hat oder nicht, knallt sich Sarah auf mein Bett und setzt sich mit ihrem Hinterteil von der Größe des Libanons auf meine linke Hand, die friedlich schlummernd unter der Bettdecke lag.
„Ich hab gehört, Du hattest gestern beim Sport einen schlimmen Unfall?“, fragt Sarah mitfühlend.
„Ja“, krächze ich und versuche vorsichtig meine linke Hand von der tonnenschweren Last zu befreien. Ob man es allerdings als „Sportunfall“ bezeichnen kann, wenn man in der Pause eines Volleyballturniers auf der Toilette, bedingt durch die Zielungenauigkeit meines Vorgängers, ausrutscht und mit dem Bein gegen ein Porzellanpissoir (zu Deutsch: Stehklo) donnert, scheint mir allerdings etwas zweifelhaft.
„Und, tut`s denn noch sehr weh?“, fragt Sarah und rutscht ein bißchen weiter auf mein Bett.
„JAAAAAAAAH“, brülle ich, da mir Sarah gerade neben ihrem Gewicht nun auch noch ihre Geldbörse mit ihrem gesamten Kleingeld in die Hand gebohrt hat. Sie dagegen interpretiert meinen Schrei als Antwort auf ihre Frage.
„Schau mal, ich hab` Dir auch was mitgebracht.“, säuselt Sarah weiter und zieht ein Freundschafts-Glücksbändchen aus ihrem Rucksack, der so aussieht, als hätten für seine Produktion eine ganze Schafherde samt Hütehund ihr Leben lassen müssen.
„Das bringt Dir Glück.“, meint sie mit einer Überzeugung, die nur jemand hinbekommt, der selbst an so einen Schwachsinn glaubt und schnürt es mir trotz schwacher Proteste um mein rechtes Handgelenk. Innerhalb weniger Sekunden merke ich, dass sie mir gerade eine recht wichtige Ader abgeschnürt hat, während sie fröhlich eine Diddl-Maus mit Gipsbein und unzähligen Herzchen auf mein Gipsbein schmiert.
Da meine linke Hand noch immer eingequetscht ist und Youssuf mir nicht helfen kann, da er fröhlich vor sich hin schnarcht greife ich mit meiner rechten Hand zum Nachttisch. Kurz bevor sie endgültig taub wird drücke ich den Notrufknopf um Sarah loszuwerden, bevor ich endgültig draufgehe.
„Übrigens“, röchele ich „hab` ich gleich noch eine ganz wichtige Untersuchung, die sicher sehr anstrengend wird, Sarah!“
„Oh wie schade, ich dachte ...“
Gott-sei-Dank erfahre ich nicht mehr, was Sarah sich in ihrem kranken Hirn dachte, denn Lernschwester Clara betritt völlig entnervt das Zimmer und wirft mir einen eisigen Blick zu.
„Schwester, ist wegen meiner Kernspintomographie und der EEG-Untersuchung schon alles vorbereitet?“ frage ich, wobei ich die erstbesten beiden medizinischen Fachbegriffe einstreue, die mir in diesem Moment einfallen.
Schwester Clara zeigt mir einen zu ihrem geistigen Horizont passenden Gesichtsausdruck und stammelt völlig verwirrt:
„Wer ... wer ... wer hat das angeordnet?“
„Dr. Käutner“, sage ich mit aller Selbstsicherheit, die ich in meinem jetzigen Zustand noch zustande bringe. Den Namen „Dr. Käutner“ habe ich übrigens irgendwann einmal bei den Krankenhauserzählungen meiner Schwester Lydia aufgeschnappt.
„Dr. Käutner“, murmelt Schwester Clara und verlässt, in ihrem Weltbild tief erschüttert, das Zimmer.
Mittlerweile bin ich unfähig meine rechte Hand zu bewegen und die Schmerzen in meiner Linken werden so stark, dass ich anfange Sterne zu sehen. Ich glaube der Held in „Das Fenster zum Hof“ ist gestorben!
Doch da erhebt sich Sarah langsam und mit einem Ruck befreie ich meine Hand. Diesen Ruck hat Sarah leider aber gespürt und schaut mich mit einem Blick an, der bei mir beinahe einen Ohnmachtsanfall auslöst.
„Naja, dann will ich mal wieder, wenn Du gleich deine schwere Untersuchung hast.“, meint sie zu mir und drückt mir zum Abschied einen nassen Schmatz auf die Wange. Meine Faust will in ihr Gesicht, aber keine der beiden hat dazu noch genug Kraft. Mit einem mitfühlenden „Gute Besserung“ und, aufgrund ihres seligen Lächelns, mit dem sicheren Gefühl heute ein deutliches Signal von mir erhalten zu haben, tapst Sarah hinaus.
Zitternd reiße ich mir das verdammte Freundschaftsband vom Handgelenk und sehe wie sich meine rechte Hand langsam wieder normal färbt. Ich verfluche meinen vorschnellen Entschluss, die Schmerztablette in die Blumenvase geworfen zu haben, und wanke mit meinem Gips zur Toilette, wo ich meine linke Hand erst einmal zehn Minuten unter kaltes Wasser halte.
Danach stolpere ich zu meinem Bett zurück und probiere noch einmal Ankes Freund Björn auf der Arbeit zu erreichen.
Sechs Weiterverbindungen später, unter anderem einem Abstecher in die DEVK-Kantine, teilt mir eine Sachbearbeiterin der Unfallabteilung mit, dass Herr Feuerer das Haus bereits verlassen habe. Nach ein paar wüsten Beschimpfungen und dem Hinweis, dass der DEVK-Song große Scheiße sei, knalle ich wutentbrannt den Hörer auf die Gabel. Daraufhin fällt das Krankenhaustischchen krachend um, und Telefon, Blumenvase, Radio, eine leere Pralinen-schachtel und drei Rätselhefte stürzen zu Boden. Egal, die Telefonkarte war sowieso schon wieder leer!
3. Akt, 2.Szene, Krankenhaus, Schwesternzimmer
„Clara, was ist denn los? Du siehst ja völlig aufgelöst aus?!“
„Ich halt das nicht mehr aus! Dieser Beinbruch von 242! Wisst ihr, was er jetzt will?“
„Schon wieder Tee?“
„Nein, eine Kernspintomographie ...“
„WAS?“
„ ... und ein EEG! Oh Gott, ich halt das nicht mehr aus!“
„Also Kernspintomographie kann ich ja so grade noch nachvollziehen, aber warum zum Teufel sollen wir seine Hirnströme messen?“
„Und das Ganze soll Dr. Käutner angeordnet haben!“
„Dr. Käutner? Der Chefarzt von der Entbindungsstation?“
„Oh Gott, ich halte das einfach nicht mehr aus mit dem, immer hat er was, immer ist irgendwas!“
„Ich hab’s ja gleich gewusst, dass uns dieser arrogante Kassenpatientenschnösel nichts als Ärger machen wird.“
„Denn kann er haben.“
„Ich klär das jetzt ein für allemal. Ich lass mir doch von so einem nicht die ganze Station verrückt machen!“
„ICH HALT DAS NICHT MEHR AUS!“
„Ja, Clara, wir wissen`s jetzt langsam.“
4. Akt, Krankenhaus, Zimmer 242
So kann es nicht weitergehen. Es sind noch knapp zwei Stunden bis zu Theaterbeginn, ich habe Anke noch immer nicht erreicht und keine brauchbare Telefonkarte mehr. Also mache ich mich kurz entschlossen auf den Weg zum Parkplatz und ziehe meinen lila Bademantel über, bei dessen Anblick Joop und Lagerfeld wohl in Ohnmacht fallen würden.
Der Weg zur Tür wird Dank dem Gipsbein zu einer einzigen Stolperorgie, und so lasse ich mich, endlich auf dem Gang angekommen, schweißgebadet in einen leeren Rollstuhl fallen. In diesem rolle ich vorsichtig den langen Krankenhausflur entlang, wobei mein Gips, einem mittelalterlichem Rammbock nicht unähnlich, dauernd gegen irgendwelche Krankenhausbetten stößt. Da vorne ist der Fahrstuhl. Ich rolle dem offenen Fahrstuhl entgegen, als sich die Türen langsam schließen. Ich will bremsen, kann aber nicht richtig, so dass ich unaufhaltsam mit meinem Gipsfuß voran auf die sich schließende Tür zurolle.
KNIRSCH „Aaaah“ Und schon stecke ich mit der vorderen Spitze meines Gipsbeines in der Aufzugtür fest.
Lernschwester Clara, die gerade aus einem Zimmer gekommen ist, starrt mich fassungslos an und lässt vor Schreck ein Tablett fallen.
„Was machen Sie denn da?“, fragt sie mich völlig entsetzt, während ich versuche, meinen Gipsfuß zu befreien.
„Ich habe den Aufzug nicht mehr so ganz gekriegt.“, meine ich und ziehe mit einem Ruck meinen Fuß aus der Aufzugtüre. Die vordere, ziemlich zerdötschte, Gipsmasse sieht jetzt aus, wie ein Teil der Berliner Mauer (nach der Wende).
In einem Tonfall kurz vor der Hysterie sagt Schwester Clara: „Ich bringe sie jetzt besser auf ihr Zimmer“ und schiebt mich zurück, wobei unterwegs kleine Gipspartikel abbröckeln und auf den Krankenhausflur fallen. Danach verlässt Lernschwester Clara fluchtartig das Zimmer und ich hieve mich wieder ins Bett.
Gerade als ich die Augen schließe und beschließe, dass mir für heute erst einmal alles egal ist und Anke auch gut ohne mich ins Theater gehen kann, öffnet sich die Türe und meine Mutter kommt herein.
„Karsten, wie geht’s Dir?“, fragt sie besorgt und blickt dann noch besorgter auf meinen umgefallenen Nachttisch.
„Naja.“, meine ich, während meine Mutter sich hinsetzt und mit dem besorgtesten aller Mütterblicke mein brüchiges Gipsbein begutachtet.
In diesem Moment kommt die Oberschwester herein, schaut mich böse an und meint:
„Und jetzt mal zu ihrer angeblichen Untersuchung!“
„Sind Sie hier zuständig?“, fährt meine Mutter sie an und macht ohne die Antwort abzuwarten weiter „Dann schauen Sie sich doch mal bitte diesen Gips an! Also ich finde das unverantwortlich! Jetzt ist mein Sohn gerade einen Tag in diesem Krankenhaus und schon fällt das Ding hier auseinander! Und dann dieser umgekippte Tisch da! Soll mein Sohn den in seinem Zustand etwa alleine wieder aufstellen, oder was?!“
Die Oberschwester, die dem Redefluss meiner Mutter, an dem übrigens schon mein Direktor, unser Pastor und zwei Polizisten verzweifelt sind, nicht gewachsen zu sein scheint, wirft einen Blick mit der Aufschrift „Herr, lass diesen Tag möglichst bald zu Ende gehen!“ an die Zimmerdecke.
„Außerdem“, fährt meine Mutter, mit dem Elan einer Frau, die jede Woche mindestens einen Leserbrief schreibt, fort „habe ich nicht den Eindruck, dass mein Sohn hier in dieser Einrichtung bestmöglich versorgt wird.“
Dieser Meinung schließe ich mich kopfnickend an.
„Ach übrigens, Karsten, ich habe den Zettel mit dieser Nummer doch noch gefunden.“, meint sie und reicht mir eine siebenstellige Nummer, die mir drei Stunden Zeit ge- und einen halben Nervenzusammenbruch erspart hätte. Dann lässt sie sich weiter über die unsachgemäße Behandlung ihres Sohnes aus.
Gerade als sie bei Punkt drei „Rechte des Patienten“ angekommen und Youssuf mittlerweile wieder aufgewacht ist, kommt Anke herein.
„Dich wollte ich gerade anrufen.“, meine ich.
„Karsten, wie geht’s Dir? Das mit deinem Unfall habe ich heute nachmittag im Jahreskurs gehört. Ich glaube Gerold hat`s mir erzählt.“
Gerold war der, der mich nach meinem Sturz gestern gefunden hat und beim Versuch mich in eine stabile Seitenlage zu bringen, fast noch meine Schulter ausgerenkt hätte.
„Tut`s noch sehr weh?“, fragt Anke mitfühlend und nickt meiner Mutter zur Begrüßung zu, die noch immer auf die Oberschwester einredet und als Beispiel gerade den Fall meines Onkels Rupert, dessen Blutvergiftung einmal hier als Malaria diagnostiziert wurde, erläutert.
„Es geht.“, meine ich und sehe erstaunt, wie ein Mädchen mit einer blonden Hochsteckfrisur, die von drei Haarbändern und drei Holzstäben mühsam zusammengehalten wird, unser Zimmer betritt – Corinna.
„Hi Karsten, hallo Anke. Sag mal, was sollte denn diese merkwürdige Nachricht auf meiner Mailbox?“
„Also das war so ...“, beginne ich und erzähle beiden meine Krankenhausstory. Als ich fertig bin, ist auch die Oberschwester geflüchtet, wahrscheinlich auf direktem Weg zum Chef mit Bitte um Versetzung oder wenigstens Urlaub. Meine Mutter räumt den Inhalt meines Wäscheschranks in den Krankenhausschrank und Youssuf guckt im Fernsehen eine Gameshow.
Ich habe wieder richtig gute Laune, was wohl auch daran liegt, das meine Begegnung der dritten Art (Sarah) keine bleibenden Schäden an meinen Händen hinterlassen zu haben scheint, und so beginne ich mit Anke und Corinna Kreuzworträtsel zu lösen.
„Wer hat denn da bei Aufgussgetränk mit drei Buchstaben „Met“ hingeschrieben?“, fragt Anke und ersetzt Jörgs Lösung kopfschüttelnd durch „Tee“.
Lernschwester Clara, die mittlerweile mit dem Gedanken spielt, ihre Ausbildung einfach abzubrechen, betritt mit dem Abendessen für Youssuf (ohne Schweinefleisch) und mich Zimmer 242.
„Spartanisch lebender Mensch, letzter Buchstabe ist ein „T“?, fragt Corinna.
„Kassenpatient“, meine ich und blicke auf mein Abendessen: Zwei halb aufgetaute Graubrot- scheiben in Briefmarkengröße, ein liebevoller Klecks ranziger Butter, zwei Scheiben chemie-rosafarbener Fleischwurst, die untrennbar aneinander kleben und zum Garnieren ein kleines grünes Blatt. Hierbei könnte es sich entweder um Salat, Brennessel vom Parkplatz oder Reste der Küchentapete handeln.
Ich lächele Lernschwester Clara an, die das Tablett auf meinen wieder aufgerichteten Nachttisch stellt, und ich frage mich, ob Mc Donalds wohl auch nach Hause liefert.
„Wofür ist das Ding hier eigentlich?“, fragt Anke und deutet auf den Notrufknopf.
„Ich weiß auch nicht“, sage ich mit gespielter Ahnungslosigkeit „Ich drücke schon den ganzen Nachmittag, aber es tut sich nichts!“
Sekundenbruchteile später fällt Schwester Clara in Ohnmacht.
„Was ist eigentlich mit unseren Karten?“, frage ich Anke.
„Die habe ich Henrike und Roger geschenkt.“
Henrike und Roger?! Ob Roger wohl weiß, dass gereimte Texte nicht automatisch eine Büttenrede sind und es bei Shakespearestücken weder Marlborowerbung vorher noch Popcorn an der Kasse gibt?
„Hauptstadt von Marokko, fünf Buchstaben, das zweite ist ein „A“?“, fragt Corinna.
„Kabul“, meint Anke zielsicher.
„Passt.“, sagt Corinna, trägt es ein, und Youssuf verdreht zum zweiten Mal an diesem Tag kopfschüttelnd die Augen.
5. Akt, Theater, 2. Rang 5. Reihe Mitte
„Sein oder nicht Sein, das ist hier die Frage?“
„Sein was denn überhaupt?“, fragt Roger flüsternd zu Henrike.
„PSST!“, macht die Dame aus der hinteren Reihe, die Roger noch immer nicht verziehen hat, dass sein Handy mitten im ersten Akt losgegangen ist.
„Erkläre ich Dir hinterher.“, meint Henrike
„Und was redet der überhaupt mit einem Totenschädel? Können die sich nicht genug Schauspieler leisten, oder was?“
„PSST!“
„Henrike?“, fragt Roger kurze Zeit später, während des Monologes von dem, in Rogers Augen, „dänischen Wichtigtuer“ und nachdem er das Programmheft zum dritten Mal gelesen hat, ohne es zu verstehen.
„Ja?“
„Ich glaube, wir wären doch besser in den neuen James Bond gegangen!“