Der Kartenspieler
Alex
Meine Name ist Alexander Hagen, ich bin Polizeibeamter und durfte mich stets körperlicher und geistiger Gesundheit erfreuen. Doch nachdem mir die folgende Geschichte wiederfahren war, wünschte ich, ich wäre verrückt. Nein, ich flehe die Menschen regelrecht an: "Sagt, dass ich verrückt bin!"
Ich glaube, es würde mir dann besser gehen.
Es war Sonntag. Und allein dieser Grund reichte für meine miese Laune. Die Behörden hatten mich angerufen, ich solle einen Fall untersuchen, der sich in der Tischlerei von Rammenau zugetragen hatte. Der Chef, Guido Kaiser, soll dort entweder Selbstmord begangen oder einen tödlichen Unfall gehabt haben. Weiterhin dachte ich mir auch nicht dabei und so nahm ich diesen Auftrag, wie jeden anderen entgegen. Doch das, was ich an Ort und Stelle vorfinden sollte, übertraf meine sämtlichen Erwartungen. Es war das schlimmste Gemetzel, das ich je zu Gesicht bekam. Eine echte Härteprüfung in Sachen Ekelhemmschwelle.
Einer der Altgesellen, Jens Lehnert war sein Name, führte mich in die Werkstatt und zeigte er mir den Ort des Grauens. Und ich kann diesen Ort mit gutem Recht so bezeichnen. Diese Tischlerei hatte an diesem Tag eher etwas von einem Schlachthaus.
“Das ist unsere Dickenhobelmaschine”, erklärte mir Lehnert. Für mich sah es allerdings mehr nach einen übergroßen Mixer aus. Scheiße, das musste man sich mal reinziehen, überall um diese Maschine herum klebte Blut an den Wänden. Fleisch und zerfetzte Gedärme, sowie Knochensplitter lagen um diesen halbmannsgroßen Apparat verteilt. Und als ob das noch nicht genug wäre, stank diese ganze Halle bestialisch nach Innereien. Der Geruch war so streng, dass er die gesamte Halle füllte und einem die Sinne vernebelte. Ich musste mir ein Taschentuch vor die Nase halten, um nicht vollends erstickt zu werden. Der Gestank war schneidend, fast schon als eine Masse fühlbar.
Lehnert erklärte mir, die Maschine war ursprünglich dafür gedacht, Holzleisten und -bretter auf millimetergenaues Maß zu hobeln, so dass diese eine gleichmäßige Breite und Dicke erhielten. Der ganze Apparat war für mich nichts weiter als ein viel zu großgeratener Blech-Quader. In der Mitte, auf Hühfthöhe, war eine Öffnung: der Maschineneinlass, durch den man, unter normalen Umständen, Bretter und Leisten hineinführt. Durch motorengetriebene Einzugswalzen wird das ganze dann automatisch weiter- und an den sich rotierenden Messerwellen vorbeigeschoben. Kurz gesagt hieß das, wenn man seine Finger da reinsteckt, kriegt man sie nicht mehr raus. Man wird, sofern niemand kommt und den Notschalter betätigt, langsam in die Maschine hineingezogen und "gehobelt".
Na vielen Dank, dass ich mir diesen Sonntag noch so schön versüßen durfte.
“Mann-o-Mann”, murmelte ich vor mir hin. Dieser Anblick war einfach nicht zu fassen. Soetwas sah man meist nur in diesen billigen Horrorstreifen aus Hollywood. Nur dass man da die ganze Scheiße nicht riechen brauchte.
“Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment", sagte Lehnert. "Ich glaube, mir wird übel."
Ach, halt die Luft an!, dachte ich mir dazu. Wer hat dich denn gefragt? Ich versuchte meine Gedanken zu der ganzen Sache zu ordnen und spielte in meinem Verstand den gaesamten Tathergang nochmal ab, zumindest so, wie mir das erschien.
Entweder war dieser alte Knacker, der hier gestern noch Chef war, wirklich mit Sorgen, Schulden oder einer untreuen Ehefrau beladen, dass er sich in die Maschine legte und sie anschaltete, oder aber er war einfach nur besoffen und auf einer Bananenschale ausgerutscht.
Ich suchte wieder Lehnert auf, der gerade vom Klo zurückkam und ziemlich blass aussah.
“Wann genau ist das geschehen?”, fragte ich ihn.
“Gestern Abend”, sagte er. “Er arbeitete für gewöhnlich immer Samstags, aber alleine. Es war sozusagen niemand hier, der hätte etwas unternehmen können. Seine Frau hat ihn heute morgen hier aufgefunden.”
“Heute morgen? Na da hat sie aber schon früh angefangen, ihn zu vermissen.”
“Die beiden stehen kurz vor der Scheidung.”
“Aha.” Das war schon mal ein Anhaltspunkt, den ich nicht außer Acht lassen sollte. Herr Kaiser war mit seiner Frau zerstritten. Und so schnell rückt der Verdacht des Selbstmordes in den Hintergrund. So sehr ich auch die Schnauze voll hatte, heute noch weiterzuarbeiten, aber seine Frau interessierte mich auf einmal brennend. “Wo finde ich sie?”
“Wohnt gleich drei Häuser weiter. Keine Ahnung, ob sie heute da ist.”
“Das wäre besser für sie.”
Ich habe schon viele Fälle bearbeitet und geklärt. Und die Fälle, in denen es um betrogene Ehefrauen oder -männer ging, waren Routinearbeiten. Es war doch immer das selbe. Sie will einen anderen - er lässt sie nicht gehen - sie räumt ihn aus dem Weg. Und genau dieses Muster roch ich auch bei diesem Fall hier. Ich konnte es schon beinahe spüren, wie mich die Lösung des Rätsels regelrecht in den Hintern biss.
Ich fuhr die drei Häuser weiter, klingelte an der Tür mit der Aufschrift "Kaiser" und wurde hineingelassen. Frau Kaiser saß in der Küche, laß die Tageszeitung, trank Kaffee und rauchte gemütlich ein Zigarette.
Ich schaltete mein Aufnahmegerät ein, um die Unterhaltung mitzuschneiden. "Schönen guten Morgen", sagte ich. "Ich bin Alexander Hagen und würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen."
"Setzen Sie sich doch." Frau Kaiser klang wie diese Alte aus den Krimifilmen, in denen sie einen Dedektiven anheuerte, um ihren Mann auszuspionieren. Zumindest nicht wie jemand, der heute morgen noch die zermahlenen Teile eines Menschen entdeckt hat. Und erst recht nicht wie eine Frau, die gerade ihren Mann verloren hatte.
Ich setzte mich ihr gegenüber und studierte ihre Gesichtszüge. Sie sah noch verdammt gut aus, dafür dass sie laut Angaben schon über fünfundvierzig sein sollte. Ein bisschen viel Make-Up, gestraffte Falten und getönte Haare. Typische Frau, die sich dagegen weigerte, alt zu werden.
"Wo waren Sie gestern, zwischen 15 und 23 Uhr?", begann ich das Verhör.
"Hier zu Hause."
"Waren Sie alleine?"
"Ja."
"Wann haben Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen?"
"Ich weiß es nicht mehr. Vorgestern? Gestern?"
"Beantworten Sie die Fragen bitte so genau, wie möglich."
"OK, es war gestern Vormittag."
"Sind Sie sich da sicher?"
"Ich glaube schon."
"Also gut."
Wieso hatte ich bei ihr so ein merkwürdiges Gefühl? Als ob mit ihren Antworten irgendetwas nicht stimmte. Waren sie Lüge und klangen nach Wahrheit? Oder waren sie Wahrheit und klangen nach Lüge? Ich hätte kotzen können vor Wut. Wieso mussten diese Zeugen es einem immer so schwer machen? Dieses ewige Herumgerede und sich nicht sicher sein, machte mich rasend. Wir Polizisten waren doch auch nur Menschen.
"Haben Sie sich mit Ihrem Mann gestritten?", fuhr ich fort.
"Schon oft."
"Ich meine, ob sie sich gestern gestritten haben?" Wieso stellten sich diese Menschen eigentlich immer so blöd?
"Nein." Sie ließ eine kurze Pause, um nachzudenken. "Wenn ich mich recht erinnere, haben wir kein einziges Wort miteinander gewechselt."
Ich fragte sie nach den Gründen dafür, warum sie sich scheiden lassen wollten, bekam aber keine konkreten Antworten. Im Großen und Ganzen waren ihre Aussagen ein riesiges Hin und Her- und Drumherumgeschwafel.
"Möchten Sie einen Kaffee?", fragte sie irgendwann.
"Das wäre nett, danke." Wenigstens eine kleine Entschädigung für das, was ich heute noch versäumen würde.
Sie ging in die Küche und fing an, den Kaffee zu kochen, während ich mir ein paar Notizen machte. Ich versuchte, nicht daran zu denken, wie viel Papierkram im Büro noch auf mich zu kommen würde. Mal ganz abgesehen von den Fällen, die ich nebenbei noch zu beackern hatte.
"Sie wirken etwas verspannt", sagte sie, am Rahmen der Küchentür lehnend.
"Ich arbeite nun mal nicht gerne sonntags."
"Mein Mann war da anders." Jetzt fingen die Geschichten an. Gleich würde sie mir was vorjammern. "Er arbeitete immer, jeden Tag. Es gab Zeiten, da hatte ich schon ganz vergessen, wie er überhaupt aussah."
Hab ich´s nicht gesagt?
"Und dann beschwerte er sich noch andauernd", fuhr sie fort. "Dass ich ihn kaum kennen würde."
OK, bevor mir dieses Gesülze noch vollständig die Eier verfaulen lassen sollte, stellte ich nun die Frage, die ich eigentlich gleich als erste und einzigste hätten stellen sollen: "Haben Sie Ihren Mann getötet?"
Und jetzt erzähl mir blos keinen Scheiß, Alte. Wenn du jetzt lügst, und es stellt sich am Ende das Gegenteil heraus, bist du echt am Arsch, das kann ich dir mal verraten. Und gnade dir Gott, solltest du versuchen, mich über´s Ohr zu hauen.
"Nein", antwortete sie. "Wie ich schon sagte, ich war zu Hause und er auf Arbeit."
"Wundern Sie sich gar nicht, dass ihm das passiert ist?"
"Ha!" Sie lächelte kurz. "Auch wenn ich es nicht getan habe, ich bin froh, dass es passiert ist."
"Können Sie sich vorstellen, wieso ein Mensch ausgerechnet diese Form des Freitodes wählen sollte? Ich meine, es gibt doch so viele kurze und schmerzlose Methoden, wie den berühmten Strick um den Hals oder Schlaftabletten oder ein Sprung von der Brücke... Nein, er lässt sich ausgerechnet langsam und Millimeter für Millimeter durch diese Monstermaschine schieben und zerhackseln. Wieso?"
Sie zündete sich eine weitere Zigarette an und zog genüsslich, bevor sie ihre Antwort gab. "Wer sagt denn, dass es ein Freitod war?"
Aha. Diese Frau schien also doch mehr zu wissen, als sie zugeben wollte. "Also war es ein Unfall?"
Sie lachte. "Nein, nein, das war kein Unfall."
"Haben Sie mir etwas zu beichten, Frau Kaiser?" Die Spannung in mir wurde allmählich größer.
"Um Gottes Willen, Herr Kommissar, ich bitte Sie. Ich will nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen."
Ja, ja, das sagen sie alle.
Sie brachte mir meinen Kaffee. Mit Milch und Zucker, so wie ich ihn gerne trank, woher auch immer sie das wusste.
"Ich wette, Sie können ein wenig Ruhe und Entspannung vertragen", sagte sie in einem beruhigenden Ton.
"Lenken Sie nicht vom Thema ab." So einfach geht das bei mir nicht.
"Warum machen Sie es sich nicht ein wenig bequem? Wir könnten uns einen schönen Tag machen. Nur wir beide." Sie lächelte und zwinkerte mir kurz und verführerisch zu.
Was zum Geier führte diese Frau im Schilde? Wieso jetzt auf einmal dieses Spielchen?
"Ich bin verheiratet", merkte ich nüchtern an.
"Das war ich bis gestern auch", sagte sie. War das etwa eine Anspielung auf etwas, das ich wissen sollte?
"Haben Sie Ihren Mann betrogen?"
"Mehr als einmal." Ihr Lächeln wurde noch intensiver. Und dann begann sie ganz langsam, ihre Bluse aufzuknöpfen. "Und ich würde es immer wieder tun, wenn er noch leben würde." Irgendetwas hielt mich davon ab, meinen Blick von ihr abzuwenden. Ich war wie hypnotisiert und für ein paar Sekunden lang, sogar gewillt, auf ihr Angebot einzugehen und die Alte zu vögeln. Hier und auf der Stelle.
Sie fuhr fort: "Ich kann selbstverständlich schweigen, wie ein Grab. Niemand wird es erfahren." Sie öffnete ihren BH, wie um ihre Worte zu unterstreichen.
Doch ich schaffte es letztendlich, mich aus der Hypnose zu befreien. Ich musste plötzlich daran denken, was es mich kosten würde, sollte doch jemand dahinter kommen. Nicht nur meine Ehe stand auf dem Spiel, meine berufliche Laufbahn hätte an dieser Stelle beendet sein können. Ein Polizist durfte sich nicht mit Menschen einlassen, die des Mordes verdächtigt wurden. Und diese Frau hier war, meiner Meinung nach, noch lange nicht aus der Affäre gezogen.
"Es tut mir leid, Frau Kaiser.", sagte ich. "Aber ich bin nicht zum Vergnügen hier." Mein Ton sollte sich so streng wie möglich anhören, was mir allerdings kläglich misslang, wie ich selber zugeben muss.
Frau Kaiser zuckte einmal kurz mit den Schultern. "Also gut. Wer nicht will, der hat schon." Und dann knöpfte sie ihren BH und die Bluse wieder zu.
"Also kommen wir wieder auf die Sache mit ihrem Mann zurück", erwiderte ich und nahm einen Schluck Kaffee. "Was glauben Sie, ist Ihrem Mann wiederfahren? Wer oder was hat ihn umgebracht?"
Sie überprüfte kurz den Sitz ihrer Haare und grübelte einen Moment. "Das dürfen Sie mich nicht fragen", erklärte sie nach einer kurzen Pause.
"Und wen soll ich dann fragen?"
"Den Kartenspieler."
"Wen?"
"Den Kartenspieler."
"Wer soll denn das sein?"
"Ich weiß es nicht, er selbst nennt sich jedenfalls so. Seinen richtigen Namen habe ich nie gehört. Aber nur er kann etwas mit der Sache zu tun haben."
"Und wo finde ich diesen... diesen... Kartenspieler?"
Jetzt fing sie wieder an zu lächeln. "Das müssen Sie schon selber herausfinden."
"Und... wie sieht er aus?"
"Ich weiß es nicht."
Ich glaube, sie will mich doch verarschen.
"Ich habe ihn nie gesehen und auch sonst haben ihn nur wenige jemals zu Gesicht bekommen."
"Aha." Mir wurde sofort klar, dass diese Alte nicht mehr alle Tassen im Schrank haben musste.
Ich stellte ihr noch ein paar Fragen über das, was sie zum Zeitpunkt der Tat gemacht hatte und wer oder was es mit diesem ominösen Kartenspieler auf sich haben sollte. Doch so richtig schlau wurde ich nicht mehr aus ihr. Ein wenig bereute ich es, dass ich sie doch nicht gevögelt hatte. Vielleicht wäre sie dann redseeliger gewesen.
Es war nach 14 Uhr, als ich endlich meine Büroarbeit beendet hatte.
Ich musste heute oft daran denken, ob es wirklich das beste gewesen war, meinen Posten als Verkehrspolizist aufgegeben zu haben. Oder meinen Job bei Burger King, den ich als Schüler in den Ferien immer verübt hatte, um mir noch eine Extra-Stange Taschengeld zu verdienen. Das war gar nicht mal so schlecht wie ich es mir damals immer eingeredet hatte, wenn man mal davon absieht, dass man sich ständig die Finger an den Herdplatten verbrannte. Ich hatte immerhin noch Freizeit nebenbei.
Zu Hause angekommen, ging ich dem nach, was ich mir eigentlich für heute Morgen vorgenommen hatte: Meinen Hobbys. Ich traf mich, fünf Stunden verspätet, bei Heinrich, meinem Nachbarn, zum Luftgewehrschießen. Wir hatten einen kleinen Blechkasten an einen Baum genagelt und setzten dort immer unsere Ziescheiben aus Pappe hinein. Der Kasten diente lediglich dazu, die Bleikugeln aufzufangen.
"Mein Gewehr müsste mal wieder in die Reinigung", meinte Heinrich, als er eine Kugel weit neben dem Kasten in die Baumrinde jagte.
"Oder deine Augen", entgegnete ich trocken und setzte meinerseits an. "Deine Ausreden für dein Unvermögen werden auch immer fahler." Und nach zwei Sekunden, in denen ich zielte, traf ich die Scheibe einen Finger breit von der Mitte entfernt. Ich konnte mir ein höhnisches Grinsen nicht verkneifen
"Du bist besser geworden." Heinrich versuchte, sich seinen Frust nicht anmerken zu lassen. "Aber ich komm auch noch dahinter".
Seit fast zwei Jahren trafen wir uns jeden Sonntag zum Wettschießen. Es war ein netter Zeitvertreib, aber auf gewisse Weise nicht befriedigend für mich. Manchmal wünschte ich mir einen Sohn, dem ich alles beibringen könnte und der dieses Hobby mit mir teilen würde. Vielleicht würde ich mich sogar dazu durchringen, mir ein Jagdgewehr zu kaufen und mit Familie in die Wälder und die Berge zu fahren, um Freiwild zu jagen oder...
Aber Träumereien würden es wohl bleiben. Ich hätte kaum Zeit, mich um ein Kind zu kümmern. Und ich war nicht der Typ für Kinder. Die hätten mit mir nur einen schlechten Vater abbekommen.
Nachdem ich Heinrich mit neun Scheiben Vorsprung vernichtend geschlagen hatte, ging ich nach Hause und freute mich auf die wenigen Stunden, dir mir mit meiner Frau Andrea noch blieben. Doch die Freude ließ auf sich warten und schickte einen Streit voraus.
"Kriegst du eigentlich mit, wie sehr du dich in deinen Beruf reinschmeißt?", schrie sie förmlich. "Du bist nie zu Hause."
"Ich weiß, ich weiß", entgegnete ich unter Bemühen, vernünftig zu bleiben. "Ich arbeite nur noch die Fälle ab, die noch offen sind und danach..."
"Das hast du doch schon vor über einem halben Jahr gesagt und es ist trotzdem nicht weniger geworden. Ich dachte, wir könnten uns heute einen schönen gemeinsamen Sonntag machen. Doch manchmal habe ich das Gefühl, dich kaum noch zu kennen."
Wieso musste ich an der Stelle kurz an Frau Kaiser und ihren Mann denken. Hatten diese beiden nicht die gleichen Probleme gehabt? (Nur mit dem Unterschied, dass Herr Kaiser im wahrsten Sinne des Wortes für seine Arbeit gestorben war).
Ich hatte mir meinen Posten, den ich vor einem Jahr bekommen hatte, ganz anders vorgestellt. Ich war naiv und dachte nur an das hohe Gehalt, das auf mich zukam. Doch davon hatte ich inzwischen so gut wie gar nichts mehr.
Ich schaffte es im Verlauf des Streits, Andrea noch ein wenig zu beruhigen, indem ich ihr versprach, wirklich Abstand von meinen Aufträgen zu nehmen. Sie gab mir diese Chance und sie vertraute mir.
Nur weiß ich nicht, ob ich mir selber trauen konnte.
Am Abend liebten wir uns wieder, zum ersten Mal seit zwei Monaten.
Mit einem höllischen Schrecken wachte ich am nächsten Morgen auf. Draußen war es noch dunkel, der Wecker zeigte fünf Uhr zwölf an. Neben mir schlummerte Andrea gemütlich vor sich hin. Kein Schrei also, mit dem ich sie geweckt hatte.
Ich versuchte mich, an den Traum zu erinnern. Mir war so, als hätte ich tatsächlich laut aufgeschrien. Doch nach wenigen Sekunden verschwanden die ersten Stücken meiner Erinnerung daran. Ich versuchte festzuhalten, was noch vom Traum übrig blieb. Ich glaubte, Frau Kaiser wieder gesehen zu haben. Da war wieder diese Hobelmaschine und dazu die blutige Sauerei drumherum. Der Rest war verschwommen.
Und da waren Karten. Beschissene Spielkarten. Ungefähr die gleichen, die wir immer benutzen, wenn wir uns mit Andreas Eltern trafen, um eine Runde Rommé zu kloppen. Was war alles dabei? Ein Pik-Ass, eine rote Dame, eine schwarze Zehn, ein roter König? Die Bilder verschwammen so schnell, wie sie gekommen waren und ich hielt es für unwichtig.
Ich versuchte die eine Stunde vor dem unvermeindlichen Klingeln meines Weckers noch ein wenig zu schlafen, schaffte es aber nicht.
Der Sonntag war, wie bereits erzählt, für den Arsch, aber noch gar nichts zu dem Montag, den ich darauf erleben sollte.
Ich fuhr wie immer ins Büro, ging die einzelnen Fälle durch, beantwortete ein paar sinnlose Telefonate mit Zeugen, die sowieso nichts zu sagen wussten und machte mich anschließend auf, wieder an den Tatort in Rammenau zu fahren.
In Gedanken rekonstruierte ich noch einmal den Fall durch, konnte mir aber keinen Reim auf gar nichts machen. Frau Kaiser hatte ausgesagt, ihr Mann hätte weder Selbstmord begangen, noch dass es ein Unfall gewesen wäre. Ein gewisser Kartenspieler hätte etwas damit zu tun gehabt. Doch was hatte er damit zu tun? War er der Mörder? Hatte er ihn dazu gezwungen? Erpresst? Und wieso zum Teufel wusste ich nichts über diesen Typen? Vorausgesetzt, es gäbe ihn wirklich.
Der Unternehmensleiter einer Kleinstadt-Tischlerei wird von den Einzugswalzen der Hobelmaschine gepackt und von den Messerwellen zerstückelt.
Wie scheiße war das denn?
Also wenn ich nicht bald irgendjemanden von den Mitarbeitern in die Finger kriege, vor allem jemanden, der kein totaler Spinner war, dann... KRACH!
Ich trat das Bremspedal durch, so dass es mich heftig nach vorne schleuderte und mein Auto mit quietschenden Reifen zum Stehen kam. Der Schrecken fuhr mir durch alle Gliedmaßen und meine Haare stellten sich zu Berge.
Um Haaresbreite hatte mich der Lastwagen verfehlt. Er kam vor mir aus der Kreuzung herausgeschossen und lenkte scharf ein. Die Reifen quietschten und qualmten, die Räder blockierten und schlitterten über den Asphalt. Doch er hatte einfach noch zu viel Fahrt drauf, neigte sich schwer zur Seite und kippte letztendlich um, bevor er überhaupt eine Chance hatte, zum Stehen zu kommen.
Scheiße, verdammt, was ist das nun schon wieder?
Irgendwo fingen ein paar Pasanten an, zu schreien. Womöglich aus dem gleichen Grund, weshalb ich wie versteinert an der Windschutzscheibe meines Autos klebte: Sie waren nur haarscharf dem Tode entronnen.
Der Laster rutschte auf der Seite liegend auf dem Asphalt weiter, über die Bordsteinkante und durch einen Gartenzaun hindurch auf ein Privatgrundstück, wo er schließlich, zum Teil im Rasen eingegraben, zum Stehen kam.
Ich sammelte mich wieder und griff zum Funkgerät. "Hier ist Hagen, Wagennummer zwölf", brüllte ich hinein. "Verkehrsunfall auf der Kreuzung Bischofswerdaer- und Kamenzerstraße in Rammenau. Der Fahrer des Lastwagens ist womöglich schwer verletzt. Bitte um Notarzt und Rettungswagen. Ich sehe mir das ganze mal an."
Ich stieg aus und lief zum Laster rüber, um den sich bereits ein paar Gaffer versammelt hatten. Der Wagen lag auf der Fahrerseite und so malte ich mir schon das Schlimmste aus. Er hatte eine offene Ladefläche, die glücklicherweise aber leer war, und somit bestand zumindest keine Gefahr vor auslaufenden oder herunterfallenden Gütern. Die Gaffer standen ungläubig daneben und erstaunlicherweise wurden es schneller mehr, als man gucken konnte.
Ich kletterte auf den Laster und begab mich zur Beifahrertür, die sich jetzt unter mir befand. Sie ließ sich ohne Probleme öffnen und ich erhielt Einblick in die Kabine. Der Fahrer war ein dickwanstiger Mann mit Vollbart. An seinem Kopf klaffte ein riesige Kopfwunde, die schnellstmöglich behandelt werden musste. Er hatte schon viel Blut verloren, das sich langsam auf dem Glas des Fahrerfensters verteilte.
"Hallo?", rief ich ihm zu. "Können Sie mich hören?"
Einen Moment lang bewegte er sich gar nicht und ich befürchtete schon, dass er tot sein könnte. Doch dann neigte er langsam seinen Kopf in meine Richtung und die Augen öffneten sich.
"Nicht bewegen, hören Sie?" Es floss immer mehr Blut aus seiner Wunde.
Plötzlich flüsterte er: "Es tut gut." Und im ersten Moment glaubte ich, mich verhört zu haben. Ich kam jedoch zu dem Schluss, dass der Schlag auf seinen Kopf, ganze Arbeit geleistet haben musste.
"Es tut gut", wiederholte er, dieses Mal lauter. "Ich bin jetzt frei."
"Bleiben Sie ruhig, der Notarzt ist unterwegs." Ich suchte nach einem Weg, in die Fahrerkabine zu gelangen und setzte meinen Fuß langsam hinein, hielt aber sofort wieder inne, als er weitersprach: "Der Kartenspieler..." Ich erstarrte wieder vor Schreck. Schon wieder war da jemand, der von diesem Kerl erzählte. War es also kein Hirngespinnst von Frau Kaiser?
"Der Kartenspieler hat mich befreit." Ich wusste einen Moment lang überhaupt nicht, was jetzt oben und was unten war, so sehr hatte mich dieser Satz verwirrt. Dann fuhr er fort: "Suche und finde ihn, dann wird er dich auch befreien."
Und mit einem kurzem Gurgeln fiel sein Kopf wieder auf die Scheibe des Fahrerfenster und er bewegte sich nicht mehr.
Regungslos starrte ich auf ihn herab und fühlte mich zum ersten Mal seit langem in meiner Berufslaufbahn wieder ratlos. Noch nie hatte mich Ereignisse in dem Maße verwirrt, wie die der letzten zwei Tage.
In der Ferne hörte ich die Sirenen der Rettungswagen.
Für den Lastwagenfahrer kam jede Hilfe zu spät. Ich hatte ihn aus der Fahrerkabine herausgeholt und den Sanitätern übergeben, nur damit sie ihn direkt ins Leichenschauhaus bringen konnten. Auf der Wache wurde mir dann glücklicherweise erklärt, dass ich mich nicht weiter um den Fall kümmern bräuchte. Die ganze Sache wurde später als Unfall abgestempelt und ad acta gelegt.
Trotzdem kam mir dieser Vorfall mehr als ungelegen. Er rüttelte meine Gedanken völlig durcheinander und stahl mir viel wertvolle Zeit. Und ich hatte wahrhaft noch genug um die Ohren mit meinen ganzen Fällen, die sich schon wochen- und monatelang hinzogen. Ich dachte wieder an Andrea und mein Versprechen und schämte mich jetzt schon dafür, sie enttäuschen zu müssen.
"Alex", sprach mich mein Oberkommissar, Peters, gegen Mittag an. "Wie geht es Ihnen?"
Ach, muss man erst haarscharf dem Tode entgehen, dass sich hier mal einer Sorgen um mich macht?
"Soweit ganz gut."
"Das freut mich. Wirklich!"
"Vielen Dank."
"Der Fahrer muss echt ein Ding an der Waffel gehabt haben." Er versuchte die Stimmung etwas zu lockern und sprach von dem Vorfall, als wäre es nur ein Film aus dem Abendprogramm, über den alle Welt sprach, gewesen.
"Er sagte, es würde gut tun", erinnerte ich mich.
"Was?"
"Und dass er jetzt frei wäre."
"Ähhh..." Peters schaute mich einen Augenblick ungläubig an. "Geht´s Ihnen wirklich gut?"
"Wieso, was ist?"
Ich glaube, dieser Moment ließ mich das erste Mal den Verdacht schöpfen, ich könnte möglicherweise verrückt sein.
"Die Mediziner haben festgestellt, dass der Mann schon tot war, bevor er überhaupt auf die Kreuzung gefahren kam."
Und nach diesem Satz fiel mir fast der Unterkiefer auf den Boden. Meine Stirn legte sich fassungslos in Falten. Wer? Wie? Was?, polterte durch meinen Schädel. Das konnte nicht sein. Der Typ hatte eindeutig zu mir gesprochen und...
"Ich glaube, Ihnen würde ein Urlaub ganz gut tun", versicherte mir Peters.
...und von einem Kartenspieler gesprochen. Der Kartenspieler hat ihn befreit.
"Erledigen Sie für heute und morgen noch Ihre Arbeit", sagte Peters. "Und reichen Sie mir Ihren Antrag für eine Woche Urlaub ein. Ich unterschreibe heute noch, wenn Sie möchten."
Ich wusste nichts mehr zu sagen. War ich wirklich verrückt geworden? Verlor ich durch den ganzen Stress und den wenigen Schlaf, den ich hatte, meinen Verstand? Fantasierte ich? Oder hatte da wirklich eine Leiche zu mir gesprochen?
In der Nacht schlief ich wenig und unruhig.
(Suche und finde ihn...)
Ich träumte schon wieder von Frau Kaiser. Dieses Mal konnte ich mich an mehr erinnern, als nur Bruchstücke. Ich saß wieder in ihrer Küche, ihr gegenüber. Schon wieder knöpfte sie Bluse und BH auf. Doch statt zu sagen, dass ich nicht zum Vergnügen da wäre, konnte ich in diesem Traum gar nichts sagen. Ich war stumm und bewegungsunfähig, auf eine magische Weise, wie durch ein unsichtbares Seil an den Stuhl gefesselt. Alles, was ich tun konnte, war hilflos zusehen, wie sie ihre Brüste entblöste. Sie hauchte mich an und legte wieder ihr verführerisches Lächeln auf. Und kaum, dass ich irgendetwas bemerkt hatte, saß ich nicht mehr in Uniform vor ihr, sondern war nackt. Zwischen meinen Beinen entblöste sich meine Errektion.
Frau Kaiser näherte sich mir langsam. Ihr Mund öffnete sich und sanfte Lippen pressten sich auf meine. Ihre Zunge spielte mit mir und verschaffte mir größte Erregung. Anschließend fuhr sie an mir herab, liebkoste meinen Körper und glitt tiefer und tiefer, bis...
An der Stelle hatte ich einen Filmriss. An mehr erinnerte ich mich nicht. Doch der Traum war noch lange nicht vorbei.
"Hallo, mein Name ist Guido Kaiser", sagte der Mann, der plötzlich vor mir stand. "Es tut gut, nicht wahr?"
Ich befand mich wieder in der Tischlerwerkstatt. Die Halle war durch Neonröhren hell erleuchtet und vom Lärm der Maschinen erfüllt. Herr Kaiser grinste und verbeugte sich kurz vor mir. Ich war immer noch wie gefesselt, konnte mich nicht bewegen. Nur zusehen.
Dann ging er zu der, mir inzwischen schon bekannten, Dickenhobelmaschine hinüber. "Bald werde ich frei sein", sagte er und kletterte nach einer weiteren kurzen Verbeugung auf die Maschine rauf. Er drückte zwei grüne Knöpfe (einen für die Einzugswalzen, einen für die Messerwelle) und kurz darauf ertönte ein höllischer Lärm. Es war der Motor, der sich einschaltete und die Drehzahl allmählich erhöhte. Das Dröhnen wurde mit der Beschleunigung immer höher und lauter, bis die Messerwelle ihre etwa sechstausend Umdrehungen erreicht hatte.
Als dies vollbracht war, steckte Herr Kaiser seine Füße in den Einlass, der eigentlich für Holzbretter und -leisten gedacht war. Die Walzen griffen und drückten seine Beine auf den Maschinentisch. Langsam und gleichmäßig zog es ihn in den Schacht. Und schon bald ertönte krachender Lärm von Fleisch und Knochen, die zerfetzt und zu Mehl verarbeitet wurden.
Ich sah fassungslos und entsetzt zu. Ich war regelrecht verdammt dazu, wie der Zuschauer in einem Theater voll atemberaubender Effekte.
"Es tut gut", kreischte Herr Kaiser und lachte. Ja, ich sah und hörte richtig: Er lachte und freute sich darüber, was mit ihm geschah; schien es zu genießen, wie eine Massage oder Sex.
"Es tut wahrhaftig gut. Sehr gut." Das Kreischen wurde immer lauter, je mehr er in die Maschine hineingezogen wurde. Blut und Stücken seines Körpers, seiner Eingeweide, spritzen aus der gegenüberliegenden Maschinenöffnung, aus der man normalerweise nur das fertiggehobelte Holz abnimmt.
"Es ist herrlich! Es tut so guuuuu..."
"...uuuut!"
Ich wachte mit einem Schrei auf, atmete hektisch und war schweißgebadet. Draußen war es noch dunkel und der Wecker zeigte mir halb sechs an.
"Schatz, ist alles in Ordnung?" Andrea war durch meinen Schrei geweckt worden und sah mich halb erschrocken, halb entgeistert an.
"Alles in Ordnung, es war nur ein Alptraum."
Ein verdammt noch mal sehr realer Traum. Ich kann den Lärm der Maschine und das Kreischen von Herrn Kaiser jetzt noch hören.
"Du schläfst allgemein in letzter Zeit etwas unruhig", meinte sie.
Ich konnte dem weder zustimmen noch widersprechen. Schließlich kann ich mich nicht selber beim Schlafen beobachten.
"Der Stress auf Arbeit macht dir ganz schön zu schaffen, stimmt´s?"
"Nur noch einen Tag, dann bin ich eine Woche zu Hause." Ich hoffte es zumindest. Seit ich mit diesem Fall in Rammenau beschäftigt war, ging es nur noch drunter und drüber.
"Hast du Lust, wegzufahren?"
"Nein, ich will mich einfach nur ein paar Tage ausruhen, mehr nicht."
Und was dann? Wenn du wieder mit der Arbeit anfängst? Wird alles wie weggeblasen sein oder was? Vielleicht solltest du wieder Strafzettel verteilen oder zum Burger King zurückgehen. Für die Küche wird immer jemand gesucht.
Ich stand auf und machte mir Frühstück. Die halbe Stunde, die an Schlaf noch geblieben war, hätte sich nicht gelohnt. Vielleicht konnte ich ja früher Feierabend machen, wenn ich früher anfinge.
Ich hörte wirklich früher auf zu arbeiten. Aber früher, als mir lieb war. Und aus Gründen, die ich hier eigentlich gar nicht erzählen möchte. Aber ich fürchte, ich werde kaum drum herum kommen.
Ich fuhr wieder zu Untersuchungen nach Rammenau und in die Tischlerei. Den Chefsposten hatte inzwischen Martin Kaiser, Guidos Sohn, übernommen. Ein netter Bursche, der mich gleich zum Tatort geführt und erläutert hat, dass die Mitarbeiter bei einer Nacht- und Nebelaktion die ganze Schweinerei um die Maschine saubergemacht hätten. Jedenfalls sah es jetzt wieder so aus, als wäre nie etwas passiert.
Ich betrachtete diesen Blechkasten aus der Nähe und nahm mir sämtliche technische Details unter die Lupe. Ich inspizierte den Innenraum, suchte nach Gegenständen oder wichtigen Hinweisen, die der Spurensicherung bisher verborgen geblieben war, wurde jedoch nicht fündig.
"Soll ich Ihnen das mal vorführen?", rief wie aus dem Nichts plötzlich eine Stimme hinter mir. Ich schrak herum und blickte in das grinsende Gesicht eines Mannes, der mir irgendwie bekannt vorkam.
"Diese Maschine muss man sehr sorgfältig behandeln, damit sie einen nicht beißt und auffrisst." Er hatte das gleiche Lächeln, wie Herr Kaiser in meinem Traum. "Man muss mit ihr umgehen, wie mit einer Frau, verstehen Sie?"
"Was wollen Sie?" Ich wusste nicht wieso, aber ich suchte instinktiv den Revolver in meiner Jacke. Dieser Typ hatte etwas unheimliches; etwas... gefährliches.
"Ich sollte Ihnen vielleicht sagen, dass es keinen Sinn hat, hier herumzuschnüffeln."
Dann erinnerte ich mich: Lehnert war sein Name. Jens Lehnert. Er hatte mich vor zwei Tagen hier das erste Mal herumgeführt.
"Herr Kaiser hat sich nicht umgebracht." Er sprach wie ein Schauspieler im Theater, der gerade einen Monolog über den Frühling hielt.
"Wenn Sie eine Aussage machen wollen", sagte ich so gelassen wie möglich. "So tun Sie dies auf der Wache."
"Ich will keine Aussage machen."
"Wenn Sie uns etwas verheimlichen, machen Sie sich strafbar."
"Ach nun hören Sie doch auf mit dem Geschwätz. Was interessiert es mich?" Schon wieder dieses übertrieben theatralische. Er spielte mit mir. Natürlich, er war ein Spieler. War er...?
"Wer sind Sie?"
"Wer? Ich?"
"Sind Sie der Kartenspieler?"
Daraufhin fing er an zu lachen. Er schrie seine Erheiterung regelrecht heraus. "Sie Witzbold."
Ich fand das alles andere als komisch. Mir war gerade überhaupt nicht zum Lachen zu Mute. Und Lehnert kam mir eindeutig zu Nahe, um noch seriös zu wirken.
"Ich bin nicht der Kartenspieler", sagte er und trat noch einen weiteren Schritt auf mich zu. "Ich bin nur ein Teil seines Spiels. Mein Rang gleicht dem eines Buben. Herr Kaiser war ein König, jedoch nicht wegen seines Namens, wissen Sie? Das wäre zu einfach."
Ich war verwirrt. Diese ganze Kartenspieler-Scheiße hing mir allmählich zum Halse raus. Für mich war das alles nur verwirrendes und unlogisches Geschwätz.
Schon wieder trat er einen Schritt näher.
"Bleiben Sie zurück", forderte ich unter Bemühen, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen. "Kommen Sie nicht näher."
Doch er schien meine Warnungen gar nicht wahrzunehmen. "Welchen Rang Sie einnehmen, das weiß ich nicht. Das müssen Sie schon selber herausfinden."
"Wovon reden Sie?"
"Ich sag es Ihnen."
Na das wurde ja auch langsam mal Zeit.
"Reden Sie, verdammt."
Lehnert kam noch einen Schritt näher. Ich trat zurück, um den Abstand gleich zu halten, wusste aber, dass sich hinter mir bald eine Mauer befand.
"Ich werde Ihnen einen Tipp geben, mein Lieber." Sein Lächeln verwandelte sich in ein diabolisches Grinsen. "Vielleicht verstehen Sie ja auch schon selber."
"Was zum...?" Ich zog meinen Revolver, als er plötzlich eine Bohrmaschine zog und damit auf mich zielte. "Die Maschine weg! Runter auf den Boden! Hände hinter den Rücken!"
Er reagierte nicht darauf und lachte nur. "Guido Kaiser", rief er mit großen, leuchtenden Augen. "Starb vor zwei Jahren an einem Herzinfarkt."
WAS? Wovon redet dieser Typ? Schon wieder diese Gedanken, ich könnte verrückt sein. Mir erschlaffte das Gesicht, genau wie gestern, als der Lastwagen an mir vorbeidonnerte.
"Na, da staunen Sie, was?" Lehnert lachte wieder laut auf. Er krümmte sich einmal nach hinten und brüllte ein kräftiges Lachen an die Decke der Halle.
"Aber... aber was ist mit der..."
"...mit der Maschine?", ergänzte Lehnert und grinste mich wieder an. "Durch den Herzinfarkt ist er gestorben. Das ist eine Tatsache. Sie können es in der Tageszeitung vom 28. August, vorletzten Jahres nachlesen."
Der will mich verarschen. Genau so ist es.
"Legen Sie den Bohrer weg, ich warne Sie." Er nahm keinerlei Notiz von meiner Warnung.
"Doch durch die Hobelmaschine", fuhr er fort. "Wurde er befreit."
Und jetzte verstand ich gar nichts mehr.
"Und ich", ergänzte er. "Werde das jetzt auch tun." Und mit diesem Satz sprang er nach vorne und stieß die Bohrmaschine in meine Richtung. Sie war eingeschaltet und der Bohrer rotierte. Sein poliertes Metall glänzte im Licht der Neonröhren.
Ich reagierte noch schnell genug, sprang zur Seite und feuerte nach kurzem Zögern einen Schuss auf ihn ab. Lehnert wurde im Unterleib getroffen, schien es aber nicht zu bemerken und wandte sich wieder zu mir.
Ich lief rückwärts, konnte ihm, mehr aus Glück, ein zweites Mal ausweichen, als er wieder hervorschnellte. Er war sehr flink. Ich hatte ihn weit unterschätzt. Ich schoss erneut. Dieses Mal ohne zu zögern.
Hatte allerdings keinerlei Erfolg.
Er sprang schon wieder, ohne dass ich jemals damit gerechnet hätte. Der Schuss sollte ihn zumindest bewegungsunfähig machen, doch dieser Scheißkerl schien ein harter Brocken zu sein. Er traf mich mit seiner Borhmaschine und lieferte mir einen schweren Riss in den Oberschenkel. Auch wenn der Bohrer mich nur streifte, so schmerzte es doch höllisch. Ich konnte das warme Blut spüren, wie es langsam an meinem Bein herablief.
Lehnert richtete sich wieder auf und funkelte mich mit seinen leuchtenden Augen und seinem furchteinflösendem Grinsen an. Sein Gesicht hatte sich völlig verändert. Es war zu einer dämonischen Fratze geworden. Und es war eine Art Gier daraus abzulesen.
Gier nach Blut und Tod.
"Na? Wie fühlt sich das an?", fragte er. "Tut gut, nicht wahr?"
Ich schoss wieder, wollte mir diesen ganzen Mist nicht weiter anhören, traf seine Brust, doch sah keinerlei Reaktion bei ihm. Danach ein weiterer, krachender Schuss, der richtig ohrenbetäubend durch die Halle schallte. Keine Reaktion. Was für ein Typ war das, gottverdammt?
Ein fünfter Schuss, dieses Mal in seinen Kopf. Normalerweise stand kein Mensch nach so vielen Schüssen noch aufrecht. Doch allmählich musste sich mein, sonst so rationaler Verstand damit abfinden, dass dieser Mann - dieses Ding - da vor mir kein Mensch war.
"Kommissar Hagen, geben Sie´s auf." Lehnert grinste ununterbrochen. Ich starrte ungläubig in sein Gesicht und auf das dunkelrote Einschussloch in seiner Stirn. "Ich bin bereits tot, verstehen Sie?"
Und was bist du? Ein moderner Zombie?
"Ich zeig Ihnen noch etwas", sagte er. Und dann rammte er sich augenblicklich den rotierenden Bohrer in den Hals. Ein ohrenzerfetzendes Kreischen, das unmöglich von dieser Welt stammen konnte, schallte durch die gesamte Werkstatt. Es klang wie der qualenvolle Schmerzenschrei eines Säuglings, nur zehn Mal lauter.
Blut spritzte. Lehnerts Augen verdrehten sich, bis ich nur noch das Weiße in seinen Höhlen sehen konnte.
Dann schrie ich, so laut ich nur konnte, ohne jedoch das anhaltende Kreischen Lehnerts übertönen zu können. Das hier musste ein Traum sein. Oder eine Wahnvorstellung. Eine Halluzination. Ich musste nur laut genug schreien, dann würde ich wieder aufwachen. Ich schrie und schrie und... Doch als das nichts nützte, wandte ich mich von dieser grauenhaften Szene ab und rannte mit allem, was meine Beine hergaben aus der Werkstatt. Ich sprang in mein Auto, kramte nach dem Schlüssel und hoffte, dass dieses Ding, oder was auch immer es war, mich nicht verfolgen würde. Ich suchte nach dem Schlüssel. Suchte, suchte...
Noch immer schallte das Kreischen aus der Werkstatt.
Verdammt nochmal, Alex. Reiß dich gefälligst am Riemen, du Arsch. Du weißt doch ganz genau, dass der scheiß Schlüssel in der Innentasche deiner Jacke steckt. Und nun sieh endlich zu, dass du hier wegkommst, bevor dieses Lehnert-Ding dich zu Hackfleisch verarbeitet.
Ich fand den Schlüssel. Steckte ihn ins Schloss, zündete und legte den Rückwärtsgang ein. Ich fuhr aus der Ausfahrt heraus und erhaschte einen letzten Blick auf die Tischlerei. Doch von Lehnert war weit und breit keine Spur zu sehen.
Und so fuhr ich schnellstmöglich wieder nach Hause. Unter diesen Umständen konnte ich einfach nicht mehr weiterarbeiten. Das war zu viel.
Ich würde meinen Urlaub damit verbringen, mir einzureden, dass ich die ganze Scheiße gerade eben nur geträumt hatte. Genau wie die letzten zwei Tage. Alles, was seit diesem Sonntagmorgen geschehen war. Ein Traum. Eine Wahnvorstellung. Nichts davon war real.
Können wir uns darauf einigen? Können Sie mir sagen, dass ich verrückt bin? Ich würde Ihnen vom ganzen Herzen danken.
Ja, ich danke Ihnen.
Und ja, ich bin verrückt. Ein paranoider, schizophrener Sonstwas, der unter schweren Halluzinationen leidet. Genau so sehe ich das. Und nichts weiter ist die Wahrheit.
Ich hoffe es zumindest. Oh, lieber Gott, lass diese Vorfälle nur Einbildung sein, ich werde nie wieder Sünde begehen. Lass es nicht echt sein. Keine Realität. Bitte lass das nicht zu.
Der Mann mit dem Ledermantel kam langsam auf mich zu. Er hielt kurz inne und schaute sich die Tafel an der Wand neben sich an. Danach trat er zu mir vor. Und das war mein Zeichen, zu sagen: "Willkommen bei Burger King. Was kann ich für Sie tun?"