Der Kandidat
„Nehmen Sie doch bitte Platz, Herr Gremel.“
„Danke.“
„Nun, Herr Gremel, dann will ich mal ohne Umschweife zum Punkt kommen.“
„Gerne.“
„Leider wurde die Entscheidung getroffen, den Posten des Abteilungsleiters mit einem anderen Kandidaten zu besetzen.“
„?“
„Das überrascht Sie nun sicherlich. Lassen Sie mich daher bitte erklären, was es mit dieser Entscheidung auf sich hat.“
„Bitte.“
„Also zunächst einmal möchte ich betonen, dass die Leistung, die Sie in unserem Unternehmen erbringen, sehr geschätzt wird. Herr Gremel, Sie sind einer unserer besten Männer, daran hegt niemand einen Zweifel.“
„Danke.“
„Dass wir uns dennoch für einen anderen Kandidaten entschieden haben, liegt einzig und allein an den unglaublichen Voraussetzungen, die der Mann mitbringt. Dieser Mann ist eine Chance, die sich das Unternehmen einfach nicht entgehen lassen darf.“
„Klingt nach einem wahren Supermann, Ihr Kandidat.“
„Ein Supermann, das ist er tatsächlich. Herr Gremel, Sie werden staunen, wenn Sie ihn sehen. Da fällt mir ein: Sie haben Ihn heute früh bereits gesehen.“
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Doch. Gegen halb neun, als Sie mir auf dem Parkplatz zugewunken haben. Da stand er neben mir.“
„Ja, ich erinnere mich. Sie hatten Ihren Sohn dabei.“
„Nein, Herr Gremel. Der junge Mann, das war nicht mein Sohn. Das war Herr Dr. Krausfeld, der Kandidat unserer Wahl.“
„Einen Moment. Jetzt müssen Sie etwas verwechseln. Als ich Ihnen zugewunken habe, waren Sie in Begleitung eines Jungen von vielleicht zwölf Jahren.“
„Elf. Herr Dr. Krausfeld ist elf.“
„Elf?“
„Herr Gremel, haben Sie sich verschluckt? Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?“
„Nein, möchte ich nicht. Ich möchte, dass Sie mir erklären, warum sich ein elfjähriger Junge, ein Kind, besser als Abteilungsleiter eignen soll als ich. Genau das ist es, was ich möchte!“
„Sie wirken auf mich ein wenig emotional aufgewühlt, Herr Gremel. Lassen Sie uns das Gespräch lieber ein andermal ...“
„Ich bin emotional aufgewühlt! Aber bitte fahren Sie fort.“
„Sehen Sie, Herr Gremel. Sie sind nun einunddreißig und seit sieben Jahren bei uns angestellt. Vor drei Jahren haben wir Sie zum Gruppenleiter befördert.“
„Vor vier Jahren war das.“
„Meinetwegen auch vor vier Jahren. Nehmen wir einmal an, Sie setzen Ihre Karriere in diesem Tempo fort. Dann wären Sie nicht vor Mitte vierzig im Vorstand. Herr Gremel, in diesem Alter verabschieden sich die ersten Kollegen bereits in den Vorruhestand.“
„Was erzählen Sie mir da eigentlich?“
„Herr Dr. Krausfeld könnte mit vierundzwanzig in den Vorstand einziehen. Wir haben das durchgerechnet.“
„Und wenn schon.“
„Die Entscheidungen von Morgen werden von jungen Erfolgsmenschen getroffen, die im Zenith ihrer Reife stehen. Nur so können wir unseren wirtschaftlichen Erfolg sichern.“
„Indem wir einem Kind diese Abteilung anvertrauen?“
„Herr Dr. Krausfeld ist nicht irgendein Kind, Herr Gremel. In einem der weltweit führenden Elitekindergärten bereitete er sich mit dreieinhalb schon auf das Abitur vor. Und wissen Sie, auf welche Grundschule er ging?"
"Nein."
"Es handelte sich dabei um eine einzigartige Institution zur Talentförderung. Zwei Wochen war er dort, dann konnte er den Rest überspringen und gleich auf ein Gymnasium für Superextrembegabte wechseln, wo er nebenher sein Diplom und seinen Doktor machte. Er absolvierte zwei dutzend Praktika, allesamt im Ausland, und gründete mit neun seinen ersten Betrieb, eine innovative Internetfirma.“
„Worin bestand die Innovation?“
„Darüber liegen mir keine Informationen vor. Jedenfalls meldete die Firma letzten Monat Konkurs an. Ist das nicht fantastisch? Der Mann verfügt sogar über Erfahrung im Entlassen von Mitarbeitern. Herr Gremel? Legen Sie doch bitte den Brieföffner wieder hin.“