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Der kalte Atem
Der kalte Atem
Ich war damals 20 Jahre alt und hatte gerade mein Studium der Psychologie begonnen, als ich auf folgendes Inserat stieß: „Wohnung zu vermieten. 4-Zimmer Wohnung mit Küche und Bad in zentraler Lage komplett möbliert zu vermieten, Miethöhe wird im persönlichen Gespräch verhandelt. Interessenten melden sich bitte bei Molitor unter der Telefonnummer...“ Dieses Inserat erfreute und verwunderte mich zugleich. „Miethöhe wird verhandelt im persönlichen Gespräch“ Das gab es bestimmt nicht allzu oft, um genau zu sein, war das die erste Anzeige dieser Art, die ich auf meiner inzwischen schon einige Zeit währenden Wohnungssuche entdeckt hatte, seit ich zu der Einsicht gelangt war, endlich auf eigenen Füßen stehen zu wollen.
Irgendetwas sagte mir, dass ich misstrauisch in Bezug auf das Inserat sein sollte, aber mein schmaler Geldbeutel und die Aussicht auf ein günstiges Angebot überzeugten mich schließlich, doch die angegebene Nummer anzurufen.
Mein Termin mit dem Wohnungsbesitzer war bereits am nächsten Tag um drei Uhr nachmittags. Er erwies sich als sympathischer, wenn auch etwas streng dreinblickender älterer Herr, der sich mit dem Namen Walter Molitor vorstellte und dessen raue Stimme an die eines alten Seebären erinnerte.
Die Wohnung, um die es ging, lag im Erdgeschoss in einem Gebiet mit wenig Verkehr. Dennoch konnte man von ihr aus jede wichtige Stelle in der großen Stadt, auch die Universität, innerhalb kürzester Zeit erreichen.
Das war zwar erfreulich, aber mir wurde rasch klar, dass ich mir diese Wohnung niemals würde leisten können.
Der alte Mann musste mir die Enttäuschung angesehen haben, denn er versicherte mir mit einem freundlichen Lachen und seiner Seemannsstimme, ich solle mir keine Sorgen machen. Wenn ich die Wohnung wirklich wolle, würde man sich schon auf einen angemessenen Preis einigen können. Dann machte er mir ein Angebot, und ich schlug zu, noch bevor ich auch nur kurz darüber hätte nachdenken können. Ich wollte nicht riskieren, dass er merken würde, was für ein Schnäppchen er mir gerade geboten hatte.
Die Wohnung war, wie in der Anzeige beschrieben, vollständig möbliert und zwar nicht etwa mit altem Ramsch sondern mit Möbeln, die aussahen, als hätte man sie gerade erst im Einrichtungshaus besorgt und hier aufgestellt. Am besten gefiel mir das Bett. Es enthielt eine sehr bequeme und saubere Matratze, war aufklappbar und bot so zusätzlichen Stauraum, zudem war es auch optisch ansprechend gestaltet mit Schnörkeln an den Ecken. Ich war versucht, meinen Vermieter nach etwaigen unangenehmen Vormietern oder anderen möglichen Gründen für die niedrige Miete zu fragen, unterließ es dann aber. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, die Miete noch weiter nach unten drücken zu wollen. Ich fühlte mich ohnehin schon, als würde ich den alten Mann um sein Hab und Gut betrügen.
Bereits zwei Tage später stand ich mit den wenigen Sachen aus meinem Elternhaus vor meiner neuen Haustür, den Schlüssel, den mir Herr Molitor bereits nach unserm ersten Gespräch ausgehändigt hatte, fest in der Hand.
Da überkam mich zum ersten Mal ein mulmiges Gefühl, so als würde sich etwas in der Wohnung gegen mein Eindringen wehren, aber ich schob diese Gedanken einfach auf die ungewöhnlich niedrige Miete, die einen ja misstrauisch machen musste. Bedauerlicherweise konnte ich mir derartige Bedenken als Student nicht leisten, und so drehte sich der Schlüssel nur ein paar Sekunden später im Schloss. Die Tür öffnete sich, und das unangenehme Gefühl verschwand im selben Moment, als ich die Wohnung betrat. Stattdessen umfing mich ein wohlig warmes Gefühl, das mir signalisierte, dass ich jetzt in meinem eigenen Zuhause angekommen war.
Es war schon spät am Abend, als ich mich häuslich eingerichtet hatte, aber ich beschloss dennoch, ein wenig für mein Psychologiestudium zu lernen und setzte mich dafür mit meinen Unterlagen an den einfachen Schreibtisch.
Obwohl ich gute Fortschritte machte, überfiel mich nach etwa einer Stunde, inzwischen war es bereits halb elf, eine bleierne Müdigkeit und ich beschloss, das Studium für heute sein zu lassen und mich in mein neues, immer verlockenderes Bett zu legen.
Nach einem kurzen Besuch im Bad war es endlich soweit: die erste Nacht in meiner eigenen Wohnung. Das Bett war genauso gemütlich, wie ich es erwartet hatte, und ich schlief sofort ein, allerdings nicht für lange.
Ich hatte höchstens zwei Stunden Schlaf hinter mir, als mich ein Rascheln von meinem Schreibtisch aufweckte, so als würde sich jemand oder etwas durch meine Papiere wühlen.
In diesem Augenblick wurde mir klar, warum die Miete so niedrig war, offensichtlich gab es hier Mäuse und zwar nicht nur kleine den Geräuschen nach zu urteilen.
Ich beschloss, dem Spuk ein Ende zu machen, da ich bei diesem hin und her Krabbeln keinen Schlaf mehr finden würde. Mit einem genervten Ächzen knipste ich also meine kleine, hässliche Nachttischlampe an, einer der wenigen Gegenstände, die ich selbst mitgebracht hatte, und richtete mich auf, um den winzigen Störenfried dingfest zu machen, der jedoch sofort verstummte, als das Licht den Raum erhellte. Die Papiere wollte ich mir trotz der wiederhergestellten Ruhe einmal ansehen, um sicherzugehen, dass der kleine Nager sie mit seinen Zähnchen nicht in Mitleidenschaft gezogen hatte.
Offenbar hatte ich Glück, denn ich konnte nicht einen einzigen Bissabdruck entdecken und auch keine Spur einer Maus finden. Gerade wollte ich mich solchermaßen beruhigt wieder hinlegen, als ein anderer Umstand meine Gemütsruhe erneut zum Schwanken brachte. Die Unterlagen sahen nämlich gar nicht so aus, als hätte sich eine Maus durch sie gewühlt. Zwar lagen sie durcheinander auf dem Schreibtisch, aber eher so, als hätte sie jemand sorgfältig durchsucht und auseinander geschoben und das keineswegs in der Absicht, sie anzunagen.
Der Gedanke, dass jemand im Dunkeln meine Unterlagen in den Händen hielt, während ich daneben schlief, ohne sein Eindringen bemerkt zu haben, jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken.
Dass derjenige dann auch noch in Sekundenschnelle verschwunden war, ohne ein anderes Zeichen für seine Anwesenheit hinterlassen zu haben als die verwüsteten Papiere, trug nicht gerade zu meiner Beruhigung bei.
Es gelang mir jedoch, diese Gedanken abzuschütteln, indem ich sie auf die Müdigkeit und meine Einbildung schob. „Es wird wohl doch eine Maus gewesen sein, eine besonders ordentliche eben, und ich muss sie wohl gestört haben, bevor sie mit dem Nagen beginnen konnte.“
Mit dieser Erklärung einigermaßen zufriedengestellt legte ich mich wieder ins Bett, löschte das Licht und verbrachte eine ruhige und ereignislose restliche Nacht im Tiefschlaf. Den nächsten Tag begann ich mit einem eiligen Frühstück und einer Katzenwäsche, da ich es tatsächlich fertiggebracht hatte zu verschlafen, wohl infolge der nächtlichen Störung. Meine Papiere lagen noch genauso da, wie ich sie in der Nacht vorgefunden hatte, inzwischen hellwach und beim Licht des Tages war ich mir jedoch gar nicht mehr so sicher, ob ich sie nicht vielleicht selbst so hinterlassen hatte, doch fehlte mir die Zeit, um mir noch länger Gedanken darüber zu machen. Ich war ohnehin spät dran und wollte keinen Teil meiner Vorlesungen versäumen. Also sah ich zu, dass ich zu Türe hinaus kam, schloss sie ab und war schon auf halbem Weg, zur Universität.
Der Tag dort verlief ohne besondere Vorkommnisse. Ich erzählte meinen Freunden von meiner neuen Wohnung, woraufhin alle meinten das müsse man doch feiern, und ich wäre dazu verpflichtet sie jetzt alle einmal einzuladen.
Um ihre Begeisterung zu dämpfen in der Hoffnung, den anstrengenden Vorbereitungen für eine Party zu entgehen, erzählte ich ihnen von dem nächtlichen Vorfall und dass ich vermutlich mindestens eine Maus als Mitbewohner hatte.
Mein Plan ging allerdings nicht auf, denn man war allgemein der Ansicht, dass ich für so eine Miete auch eine ganze Mäusefamilie in Kauf nehmen müsste. Am Ende ließ ich mich dazu überreden, zur Feier des Tages nach den Vorlesungen und Seminaren noch etwas trinken zu gehen, selbstverständlich auf meine Rechnung. Diesem Treffen war es dann zu verdanken, dass ich erst sehr spät bei meinem neuen Zuhause ankam. Es war bereits lange nach Mitternacht als ich die Tür aufschloss.
Im dunklen Flur meiner Wohnung schwankte ich kurz. Der Alkohol schien sich doch ein wenig bemerkbar zu machen, aber er war nicht das einzige, das mich aus dem Gleichgewicht brachte. Eine fast schon physische Kraft stemmte sich gegen mich und mein erneutes Eindringen, die aber sofort verschwand, als ich den Lichtschalter betätigte und der Flur hell durchflutet wurde. „Verschwand“ ist vielleicht das falsche Wort, es fühlte sich viel mehr so an, als würde sich diese „Präsenz“ in die noch im Dunklen liegenden Teile der Räumlichkeiten zurückziehen.
Ich erschauerte kurz, schob meine eigentümlichen Empfindungen aber auf die anscheinend zu vielen Drinks und darauf, dass diese Wohnung immer noch eine neue und somit ungewohnte Umgebung für mich war. Ich beschloss, in dieser Nacht nichts mehr zu lernen -die Müdigkeit und der Alkohol machten das unmöglich- und räumte stattdessen nur noch meine Studienunterlagen für den nächsten Tag, auf den Schreibtisch.
Zum Glück würde ich mich dann erst am Nachmittag wieder zur Uni begeben müssen.
Nach dem kurzen Routinebesuch im Bad fiel ich sofort in mein Bett und schlief wie in ein Toter die ganze Nacht durch, ohne von Mäusen oder anderen Störenfrieden behelligt zu werden.
Am nächsten Morgen erwachte ich allerdings mit einem steifen Hals und einem Brummschädel.
Vor dem Spiegelschrank im Bad, worin sich auch eine Packung Aspirin befand, fiel mir jedoch etwas Seltsames auf. Beim prüfenden Betasten meines Halses zog ich die Finger mit einem plötzlichen Aufschrei zurück, denn im Bereich des Nackens war meine Haut eiskalt, so kalt, dass meine Finger schmerzten fast so als hätte ich mit bloßen Händen einen Eiszapfen berührt. Irgendwo in der Wohnung musste es einen Luftzug geben und ich hatte ihn, wie es schien, über mehrere Stunden unbemerkt abbekommen. Glücklicherweise wärmte sich die Stelle schnell auf und die Beweglichkeit kehrte auch wieder in den Hals zurück, nur die Kopfschmerzen wollten nicht so schnell weichen.
Ich gönnte mir an diesem Morgen ein ausgiebiges Frühstück und eine lange Dusche in der Hoffnung, dadurch meinen Kater vollständig loszuwerden, doch erst gegen Mittag fühlte ich mich in der Lage noch etwas zu lernen. Da erwartete mich die nächste unangenehme, wenn auch eigentlich nur kleine Überraschung.
Meine Unterlagen befanden sich inzwischen in einem normalen Aktenordner, den ich jetzt auch so auf dem Schreibtisch vorfand, wie ich ihn hinterlassen hatte, mit einem Unterschied.
Der Ordner war geöffnet worden, sein Deckel zur Seite geklappt, als hätte jemand die Papiere darin lesen wollen, die allerdings alle noch unberührt eingeheftet waren.
Der geöffnete Ordner, obschon ein ganz banaler Anblick, trieb mir den Schweiß auf die Stirn und ließ mich nach Luft schnappen. Ich konnte ihn natürlich selbst geöffnet haben, ohne mich dessen zu entsinnen. Meine Erinnerungen an die vergangene Nacht waren nicht sehr detailliert sondern etwas verworren. Die Ungewissheit bezüglich dieser Angelegenheit trieb mich um. Sie war fast noch schlimmer als die Möglichkeit, jemand oder etwas anderes hätte den Ordner geöffnet haben können.
Schließlich gelangte mein Gehirn zu dem Schluss, dass ich es wohl getan hatte. Alle anderen Szenarien waren zu verstörend und hätten mir keine Ruhe mehr gelassen. Außerdem war ich nicht jemand der an Geister, Dämonen oder sonstige Spukgestalten glaubt.
Es kostete mich dennoch einige Überwindung, mich an den Schreibtisch zu setzen und den Ordner in die Hände zu nehmen, aber es gelang mir dann doch nach einiger Zeit, mich so konzentriert in den Lehrstoff zu vertiefen, dass ich darüber alles andere vergaß oder vielmehr verdrängte und erst wieder von meinen Unterlagen aufsah, als es an der Zeit war, zur Universität zu gehen.
Ich war erleichtert beim Verlassen der Wohnung. Bestimmt würde es mir gut tun, mich ganz auf das Studium zu konzentrieren und meine Freunde zu treffen.
An der Uni angekommen erzählte ich ihnen wohlweislich nichts von meinem seltsamen Erlebnis, nur meinen eiskalten Hals und den Kater infolge des übermäßigen Alkoholgenusses am Vorabend erwähnte ich kurz, woraufhin man zu dem Schluss kam, dass ich wohl nichts vertrage und nächstes Mal besser etwas kürzer treten solle beim Trinken. Ich wurde auch wieder gefragt, wann ich denn eine „richtige“ Einweihungsparty geben würde, woraufhin ich entgegnete, dass ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht hätte, was allerdings nicht ganz der Wahrheit entsprach. Seit diesem Morgen war mir der Gedanke, eine Zeit lang nicht allein in der Wohnung zu sein,durchaus willkommen.
Am Ende unseres Unitages erklärte ich meinen Freunden also, dass ich für die Party noch einiges vorbereiten müsse, sie aber gern schon vorher vorbeikommen dürften.
Nachdem wir uns verabschiedet hatten, machte ich mich auf den kurzen Weg nach Hause und stand schon wenige Minuten später vor meiner Wohnung. Diesmal begann der Ärger bereits an der Tür, die sich nicht öffnen lassen wollte. Erst nach mehreren Minuten gewaltsamen Ruckelns und Fluchens, war sie endlich doch dazu bereit und gab den Blick in den dahinterliegenden pechschwarzen Flur frei.
Meine Nackenhaare stellten sich auf, und ich schluckte unwillkürlich.
Der Flur dürfte eigentlich nicht so tief im Dunkeln liegen, denn ich war diesmal wesentlich früher angekommen als an den beiden vorangegangenen Tagen und obwohl die Sonne bereits am Sinken war, hätte sie noch genug Licht spenden müssen, um den Raum wenigstens in Dämmerlicht zu hüllen.
Dann fiel mir plötzlich ein, dass der Flur ja über keine eigenen Fenster verfügte und ich die Türen zu den anderen Räumen vor Verlassen der Wohnung geschlossen hatte, weil
es meiner Angewohnheit entsprach, jedesmal beim Verlassen eines Zimmers die Tür zu schließen.
Ich musste über mich lachen. Jetzt begann ich schon durch meine Eigenarten, Situationen zu schaffen, über die ich mich selbst erschreckte.
Grinsend betrat ich den Flur, als plötzlich ein unerhört starker und kalter Windstoß durch mich hindurchfuhr und die Tür krachend hinter mir ins Schloss warf und damit auch den letzten Rest Tageslicht aussperrte.
Das Grinsen wich sofort aus meinem Gesicht, und ich tastete blind und in Panik die Wand nach dem Lichtschalter ab. Ich konnte spüren, wie etwas aus der Dunkelheit auf mich blickte und seinen Willen gegen mich und meine Anwesenheit in seinem Reich richtete. Pure Feindseligkeit, Hass und der übergroße Wunsch, mir zu schaden, schlugen mir aus der undurchdringlichen Finsternis entgegen, und als ich endlich den Lichtschalter gefunden hatte, dauerte es mehrere lange Sekunden, bis die Lampe flackernd und surrend anging.
Im selben Moment, als der Raum erhellt wurde, konnte ich fühlen, wie sich diese seltsame verborgene Präsenz und ihr Zorn auf mich zurückzogen, als ob niemals etwas außer mir im Flur gewesen wäre.
Ich führte das Ganze auf eine irrationale Angst vor der Dunkelheit zurück, wenngleich ich eine solche noch nie zuvor gehegt hatte, und versuchte es mit einem gezwungen lauten Lachen abzutun, doch im hintersten Winkel meines Verstandes blieb das Bewusstsein, dass ich nicht alleine in dieser Wohnung war, sondern mit einer Kraft, die nur darauf wartete, zu wachsen und die Herrschaft über meinen Geist zu übernehmen.
Nach einem kleinen Abendessen setzte ich mich an meinen Schreibtisch und surfte im Internet. Ich hatte heute keine Muße mehr, noch etwas zu lernen, weshalb ich meinen Ordner mit allen Unterlagen in der ungeöffneten Tasche beließ. Mir kam die Idee, ausnahmsweise einmal ein Bad zu nehmen, um meinen strapazierten Verstand zu entspannen. Ich drehte also den Hahn voll auf und sah dabei zu, wie die Wanne sich langsam mit warmen Wasser füllte.
Zunächst schien es, als würde das Bad die gewünschte Wirkung entfalten. Das Wasser wusch alle Sorgen und beunruhigende Gedanken von mir ab, und während ich einweichte und entspannte, legte sich ein dichter Nebel aus Wasserdampf über das ganze Bad, der alles bedeckte wie eine Decke aus Wärme.
Entspannt, gestärkt und mit guter Laune erhob ich mich schließlich aus der Wanne. Ich fühlte mich wie neugeboren. Dieser Zustand währte so lange, bis mein Blick auf den Spiegel fiel, der vollständig beschlagen war bis auf eine kreisrunde Stelle genau in der Mitte.
Es wirkte so, als wäre beständig kalte Luft gezielt nur auf diese eine Stelle geblasen worden. Ich hatte keine Ahnung was ich davon halten sollte, konnte aber spüren wie der bislang noch flüchtige Gedanke „Du bist nicht alleine hier“ an Stärke zunahm.
Ich beschloss jedoch, mir davon diesmal nicht die Stimmung verderben zu lassen, denn ganz bestimmt gab es eine natürliche und logische Erklärung für das Phänomen, auch wenn mir spontan keine einfiel.
Der Zwischenfall mit dem Spiegel war das letzte, das mich an diesem Tag noch störte, und sofort, als ich mich in mein Bett gelegt und meine Lampe ausgeschaltet hatte, schlief ich auch schon wie ein Baby.
Der nächste Morgen verlief ebenfalls, ohne das etwas Nennenswertes geschah, und meine gute Laune reichte sogar soweit, dass ich beschloss meine Freunde zu einer offiziellen Einweihungsparty einzuladen. Da es Samstag war, musste ich nicht an die Uni und hatte deshalb genug Zeit zum Einkaufen. Die Anrufe bei meinen Freunden waren schnell erledigt, und wie erwarten sagten sie sofort begeistert zu.
Ich verließ die Wohnung gegen Mittag, um alles für die Feier zu besorgen, und kam nur wenig später mit Getränken und Snacks beladen zurück. Auch jetzt rührte sich nichts in meiner Wohnung, und es schien ein richtig schöner Tag zu werden. Einige Stunden später am Abend klingelte es an meiner Tür, und meine Freunde standen alle zusammen davor.
Nach der fröhlichen Begrüßung stand eine Tour durch sämtliche Zimmer an, nach der man allgemein der Meinung war, dass ich unverschämtes Glück hätte, denn niemand konnte einen Makel entdecken, der solch eine niedrige Miete gerechtfertigt hätte. Die eigentliche Party verlief ruhiger als erwartet, und auch ich hielt mich diesmal mit den stärkeren Getränken zurück. Nur vor dem Aufräumen nach der Feier graute mir ein wenig.
Die ganze Zeit herrschte eine fröhliche ausgelassene Stimmung, die noch anhielt, als meine Gäste bereits gegangen waren. Auch das Aufräumen machte weniger Arbeit als befürchtet. Es dauerte nicht lange, da hatte ich alle Spuren der Party beseitigt, zumindest kam es mir nicht lange vor, aber als ich auf die Uhr sah, stellte ich überrascht fest, dass es bereits nach zwei Uhr nachts war.
Endlich konnte ich einmal einen Tag ohne merkwürdige Ereignisse beenden und erschöpft aber zufrieden zu Bett gehen. Der Gang ins Bad stellte für mich den Abschluss eines erfolgreichen Tages dar, und wenig später fiel ich ins Bett und schlief sofort ein, doch schon wenige Minuten, nachdem ich mich hingelegt hatte, hörte ich ein mir bekanntes Knarren, das ich jedesmal zu hören bekam, wenn ich mich auf den alten Stuhl vor meinem Schreibtisch setzte.
Ich dachte mir zunächst nichts dabei -Holz knackt und knarrt nun mal gelegentlich- aber dann hörte ich auch noch das typische Schnalzen meines Ordners, wenn man ihn aufklappt, was eigentlich gar nicht sein konnte, da er sich immer noch in meiner Tasche befand, oder jedenfalls befinden sollte.
Jetzt wurde ich doch nervös und spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte. Ich schnellte hoch und schaltete augenblicklich die Lampe auf dem kleinen Nachttisch ein.
Schlagartig verstummten alle Geräusche, und nichts war zu sehen oder zu hören, dass auf die Anwesenheit von jemandem oder etwas hindeutete.
Weder lag mein Ordner auf dem Tisch, noch war die Tasche geöffnet worden, und es saß auch niemand auf dem Schreibtischstuhl. Ich musste mich also getäuscht haben. Offenbar war ich erschöpfter als ich es vermutet hatte.
Kaum hatte ich das Licht wieder gelöscht, hörte ich allerdings erneut Geräusche. Diesmal klang es wie Schritte, so als würde jemand direkt neben meinem Bett auf und ab gehen.
Ein zweites Mal, diesmal jedoch vorsichtiger und langsamer als vorher, knipste ich die Lampe an, und genau wie zuvor kamen die Geräusche in dem Moment zum Erliegen, als der Raum erhellt wurde. Wieder fand sich keine Spur von etwas Fremden in meinem Zimmer.
Wider besseres Wissen und gegen das beharrlich kreisende Gedankenkarussell in meinem Kopf, das beständig die Worte „du bist hier nicht allein“ einem Mantra gleich wiederholte, schaltete ich das Licht wieder aus und versuchte, endlich etwas Schlaf zu finden. In der Absicht, mich selbst zu täuschen und zu schützen, führte der bewusste Teil meines Verstandes die erneut zu vernehmenden Schritte darauf zurück, dass wohl ein Mieter in der Wohnung über mir noch zu später Stunde herumliefe, vielleicht auf dem Weg ins Bad oder um einen kleinen späten Imbiss einzunehmen.
Ja, ich lebte in einem mehrstöckigen Mietshaus, hatte aber bisher noch keinen einzigen der anderen Bewohner gehört oder gesehen, wenn man von der nächtlichen Ruhestörung eben gerade absah. Die Klingelschilder waren bereits alt und verblichen und die Namen darauf kaum noch lesbar, so als würden die Leute dahinter bereits seit Ewigkeiten hier leben oder als seien sie längst schon ausgezogen.
Während ich noch darüber nachdachte, kehrte der Schlaf langsam zu mir zurück und mit ihm die Hoffnung, den Rest der Nacht ohne weitere Störung verbringen zu können.
Zunächst schien sich dieser Wunsch zu erfüllen, denn ich verbrachte einige Zeit schlafend, ohne Opfer weiterer verstörender Ereignisse zu werden. Es waren diesmal auch keine Geräusche, die mich erneut aufwachen ließen, sondern etwas bei weitem Entsetzlicheres.
Plötzlich verspürte ich einen eisigen Hauch im Genick, der mir ein genervtes und übermüdetes Stöhnen abrang, da ich vermutete, dass wieder irgendwo kalte Luft von draußen eindrang. Diese Annahme verwarf ich jedoch sofort wieder, als ich erneut den frostigen Atem an meinem Hals fühlte. Inzwischen war ich mir nämlich sicher, dass es sich dabei um einen fremden Atem handelte, denn er kam in denselben Intervallen wie mein eigener und beschleunigte sich jetzt auch im gleichen Rhythmus.
Irgendjemand, oder -etwas, musste in dem Hohlraum unter meiner Matratze liegen, etwas, dessen Atem so kalt war, dass er sogar den dicken Stoff, der uns voneinander trennte, durchdrang.
Ich wagte es nicht, mich zu bewegen, konnte es auch gar nicht, sondern lag regungslos da, starr vor Angst und verzweifelt hoffend, dass der ungebetene Gast unter meinem Bett nicht auf mich aufmerksam würde.
So verbrachte ich die gesamte Nacht bis zum Morgengrauen, als die ersten Sonnenstrahlen in den Raum fielen und mein nächtlicher Besucher sein Atmen einstellte. Sogar dann blieb ich noch einige Minuten ruhig liegen, um ganz sicher zu gehen, dass ich nun wirklich allein in dem Zimmer war, und erst nachdem ich mich dessen vergewissert hatte brach all das Grauen der Nacht auf einmal über mich herein. Mit einem Schrei, in dem sich meine Angst bündelte, sprang ich aus dem Bett und stürmte panisch aus dem Zimmer direkt ins Bad.
Ich weiß, dass ich die Wohnung in diesem Moment hätte verlassen sollen, aber aus meinem Körper war jede Wärme, sogar die des Blutes, gewichen oder vielmehr vertrieben worden, und das in einem durchaus wörtlichen Sinne. Ohne mich aufzuwärmen, würde ich keine zwei Schritte weit aus der Türe herauskommen.
Unglücklicherweise vertrug sich die heiße Dusche überhaupt nicht mit der unnatürlichen Kälte meines Körpers, und ich erlitt umgehend einen heftigen Schwindelanfall.
Ich stolperte aus dem Badezimmer, ignorierend, dass ich kein einziges Stück Kleidung am Leib trug, und mich nur mit Mühe auf den Beinen haltend. Mein einziger Wunsch war es, aus dieser verfluchten Wohnung zu entkommen.
Ich hatte die Türe fast erreicht, als der Schwindel die Oberhand über mich gewann. Ich rutschte auf irgendetwas aus und schlug mit dem Hinterkopf auf dem harten Boden auf.
Das letzte was ich durch meine tränenden Augen undeutlich wahrnahm, war eine gekrümmte und verwahrloste, aber dennoch unverkennbar menschliche Gestalt, die mir direkt ins Gesicht starrte.
Irgendwie kam sie mir bekannt vor, ohne dass ich mich daran erinnern konnte von woher genau. Bevor ich das aber hätte herausfinden können, schwanden mir die Sinne, und alles wurde dunkel.
Ich erwachte, umgeben von blendend weißem Licht, aus dem mich die vertrauten Gesichter meiner Eltern und Freunde ansahen, ihre Mienen eine Mischung aus Besorgnis und Erleichterung.
Erst nach einigen Minuten hatten sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt, so dass ich erkennen konnte, wo ich mich befand. Es war ein Krankenhauszimmer, und was ich für weißes Licht gehalten hatte, war in Wirklichkeit nur die Wand, angestrahlt von einer gewöhnlichen Deckenlampe.
Als sie bemerkten, dass ich wach war, redeten alle meine Besucher auf einmal auf mich ein, wodurch es mir unmöglich war, auch nur ein einziges Wort zu verstehen. Dass ich gleichzeitig versuchte, ihnen meine Geschichte zu erzählen machte es nicht einfacher.
Schließlich unterbrach mein Vater die andern, indem er lautstark forderte, mich doch erstmal zu Wort kommen zu lassen.
Ich berichtete alles, was mir in den letzten Tagen widerfahren war, so genau wie möglich, und während ich das tat, konnte ich beobachten wie sich in den mich zunächst erwartungsvoll anblickenden Gesichtern abwechselnd Unglauben, Entsetzen und Verzweiflung ausdrückten.
Als ich am Ende meiner Geschichte angekommen war, setzte sich mein Vater zu mir ans Bett, ergriff meine Hand und begann mir mit ruhiger Stimme die Ereignisse aus seiner Sicht zu schildern.
Demnach war ich schon vor mehreren Wochen, von der Universität nach Hause gekommen, und hätte irgendwas von einer neuen, billigen Wohnung gefaselt. Anderntags sei ich dann mit meiner Nachttischlampe und dem kleinen Schreibtisch, sowie ein paar weiteren Sachen, verschwunden, und seither hätten sie nichts mehr von mir gehört. Sogar die Polizei habe keine Spur von mir finden können.
Ich schüttelte heftig den Kopf und erzählte nochmals von der Einweihungsparty in meiner neuen Wohnung, aber meine Freunde sahen mich nur traurig an und sagten, dass ich seit Wochen nicht mehr an der Uni gewesen sei, und dass mich in der ganzen Zeit niemand von ihnen gesehen hätte.
Angesichts dieser Mitteilung ließ ich den Kopf ins Kissen sinken und lauschte angespannt den weiteren Worten meines Vaters.
Anscheinend war ich für mehr als fünf Wochen verschwunden, ohne dass jemand eine Ahnung hatte, wo ich mich befand, und nur durch Zufall wurde ich schließlich entdeckt.
Ein Bauarbeiter fand eine zerlumpte, ausgemergelte Gestalt in der Ruine eines ehemaligen Mietshauses, welches demnächst abgerissen werden sollte. Er informierte unverzüglich die Polizei, und im Krankenhaus konnte ich schließlich identifiziert werden.
Ich sei ausgehungert und mit einer lebensbedrohlichen Unterkühlung eingeliefert worden, und selbst meine Eltern hatten zunächst Mühe, mich zu erkennen. Am Anfang musste ich sogar ans Bett fixiert werden, da ich immer wieder panisch geschrien und versucht hätte, mich unter der Matratze zu verstecken.
Dem Rest der Geschichte, die mein Vater erzählte, hörte ich schon gar nicht mehr zu.
Stattdessen konzentrierte ich mich auf den beständigen kalten Atem der, synchron zu meinem, durch die Matratze drang und meinen Hals streifte.