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Der König ist nett

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02.06.2002
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Der König ist nett

Am Sonntag Nachmittag saßen der König und die Königin auf dem Sofa und besannen sich auf die vergangenen Monate. Der König sprach: „Oh meine Königin, die Menschen in diesem unserem Lande sind so undankbar! Das ganze Jahr habe ich hart gearbeitet: ein Arbeitsessen nach dem anderen; all die vielen Gipfel, besonders die Nussgipfel stellen hohe Anforderungen an mich! Aber die Bürger schimpfen ohne Unterbrechung. Morgen mag ich das Gejammer nicht mehr hören."

Die Königin hielt seine Hand, tätschelte seinen Arm: „Es ist dir an einem Sonntag immer etwas Gutes eingefallen!" Und sie sangen zusammen Wanderlieder, aßen den selbstgebackenen Apfelkuchen und waren glücklich.
Plötzlich streckte der König seinen Zeigefinger aus und rief: „Ich hab’s! Unser Unglück liegt darin, dass die Leute zu viel schwätzen. Wenn sie weniger reden würden, dann kämen sie gar nicht auf den Gedanken, so viel zu jammern. Am Montag berufe ich eine Sitzung des Parlaments ein. Wir beschließen ein Gesetz, das es jedem Bürger verbietet, mehr als hundert Sätze an einem Tag zu sprechen. Der Satz ‘der König ist nett’ soll jedoch immer erlaubt sein."

Und so geschah es:
Jeder Bürger trug ein kleines Sendegerät um den Hals, das alle gesprochenen Sätze in die Telefonzentrale übermittelte und nach hundert Sätzen die Menschen verstummen ließ.
In der ersten Zeit war es an den Nachmittagen still. Die Leute konnten sich nur noch schriftlich unterhalten, man sah Erwachsene mit Schiefertafeln, Griffeln und Schwämmen hantieren.
In den Zeitungen erschienen Tipps für geschwätzige Leute, mit deren Hilfe sie Sätze sparen konnten: Zuerst wurden die überflüssigen Sätze vermieden.
Niemand sagte „Guten Morgen! Schönes Wetter heute! Mein Kreislauf spielt verrückt! Herzlichen Glückwunsch! Du hast ein schönes T-Shirt an! Wie geht es dir?"
Viele meldeten ihr Telefon ab. Warum sollte man kostbare Sätze an jemanden verschwenden, den man nicht sehen konnte.
Später kamen die Schlauen auf die Idee, dass man aus mehreren Sätzen einen Satz bilden konnte.
Man rief laut und deutlich „KOMMA!", damit das in der Telefonzentrale bemerkt wurde. So sagte die Mutter morgens zu ihrem Sohn: „Hey Kevin KOMMA! Sag den Schnecken unter deinem Bett KOMMA! dass sie nicht mehr an meinen Beinen kriechen sollen KOMMA! wenn ich in dein Zimmer gehe KOMMA! hol heute Nachmittag meine Nagelschere vom Dach KOMMA! bring die Schlafanzughose wieder mit KOMMA! die jetzt in deiner Schultasche steckt AUSRUFEZEICHEN"

In der Schule war es gut. Mancher Lehrer musste schon um zehn seinen Mund halten, die Schüler schrieben viel von der Tafel ab oder lernten am Computer. Den Satz, „der König ist nett", hörte man selten, aber die Leute waren zufrieden: Endlich hatte das Parlament ein Gesetz beschlossen, das kein Geld kostete, denn die Sendegeräte waren in Telefonhörern und Handys schon vorhanden.

Ein Pfarrer verwandelte seine Kirche in ein Schweigehaus. Jeder konnte, wenn er morgens in der Kirche sein Plappermaul hielt, die Sätze für den Nachmittag oder den Abend aufsparen. Es war sogar möglich, eine Woche zu schweigen, nur, damit man einen ganzen Tag lang allen die Meinung sagen konnte. Der Pfarrer verlangte fünf Euro Eintritt und konnte nach einer Woche die Kirche neu anstreichen lassen, aber warum nur waren hinterher Fische an den Kirchenwänden?

Kevin besuchte mit seinen Großeltern eine Tropfsteinhöhle. Dort war es kalt und wunderschön. Die drei gingen staunend herum, der Führer erklärte die Entstehung der Höhle und nach zwei Stunden merkten sie, dass der kleine Apparat, der an den Hälsen baumelte, in Höhlen nicht funktionierte. Deshalb gab es so viele Ausflugsfahrten in Bergwerke, Höhlen und Tunnel. Mancher tiefe Keller verwandelte sich in eine Wirtschaft. Nach einem halben Jahr waren alle Häuser mit unterirdischen Gewölben versehen, darin wurden Küchen, Wohnzimmer und Esszimmer eingerichtet. Schlafzimmer waren noch oben und in Hochhäuser wollte niemand mehr einziehen.
Das Parlament tagte schon lange im Atom-Schutz-Bunker.

Eines Tages beobachtete der Schornsteinfeger den König und die Königin: Sie saßen im Park auf einer Bank und diskutierten lange. Der König war unglücklich, weil nur noch wenige den einzig erlaubten Satz aufsagten und befürchtete, seinen Thron zu verlieren. Zwei Hunde liefen mit den Abhörgeräten des Königspaares herum. So hat sich das neue Gesetz in Luft aufgelöst, denn alle fanden ein Tier, dem sie das Gerät umhängen konnten. Hunde, Katzen, Schafe, Hasen, Ziegen, Kühe und schließlich liefen die Löwen im Zoo mit den Geräten der Pfleger herum.

Ob die Leute wieder jammerten, ob der König noch viele Jahre auf dem Thron blieb, ist nicht überliefert. Im nächsten Jahr, an einem Sonntag, hatte der König wieder eine tolle Idee, aber das Parlament tagte nicht mehr an Montagen.

 

Hallo Emma!

Hej, schöne Geschichte! Sowohl für Kinder geeignet, die die Geschichte wohl vor allem lustig finden - vor allem die Stelle, an der die Tiere mit den Abhörgeräten herumlaufen - als auch für Erwaxchsene, denn Du hast jede Menge Stoff zum Nachdenken hineingesteckt, den Kinder noch nicht verstehen.

Dir ist es gelungen, eine Geschichte zu schreiben, die sowohl Erwachsenen als auch Kindern gefällt und jedem eine Botschaft mitgibt. Hut ab! :thumbsup:

Diese Art zu schreiben habe ich immer sehr an Michael Ende bewundert, bewahr sie Dir!

Lieben Gruß,

chaosqueen :queen:

 

Hi Chaosqueen,
eigentlich war das einmal eine politische Geschichte: Der König hieß Helmut Kohl.
Eigentlich war das einmal eine Weihnachtsgeschichte: Helmut und Hannelore saßen also unter dem Tannenbaum, sangen Weihnachtslieder und aßen selbstgebackene Plätzchen.
Eigentlich wollte ich einmal in einer Geschichte das langweilige Gepuatsche mancher Zeitgenossen verstummen lassen.
Helmut Kohl ist Vergangenheit, Weihnachten findet nicht immer statt und mein damaliger Adressat hat sich für beide/s nicht interessiert - aber manche Zeitgenossen sabbeln immer noch dummes Zeuch.
Danke fürs Lesen (und Schreiben).
Grüße von Emma

 

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