Der König der Lüfte
Harold brachte seinen Männern gerade die nächste Runde Bier, als sich die Tür des kleinen Gasthauses öffnete und zwei kleine, in schmutzige Reisemäntel gehüllte Gestalten in den Raum traten. Während die Söldner nach den in der Tischmitte abgestellten Bierkrügen griffen und Harold zuprosteten, beobachtete er die Neuankömmlinge routiniert, die sich an einem Tisch nahe der Theke niederließen. Als sie ihre Kapuzen zurückschlugen, konnte er sich ein gewinnendes Lächeln nicht verkneifen.
„Da schau sich mal einer die beiden Hübschen an!“
„Was denn, die beiden abgeranzten Gestalten da? Die sehen doch genauso aus wie all die anderen Bauern hier. Was soll mit denen sein?“, wagte einer der Männer sein mangelndes Verständnis der Gedankengänge seines Hauptmanns zu offenbaren.
Harold war geneigt, die Frage als Bestätigung der Überlegenheit seines eigenen Verstandes zu interpretieren und gab sich väterlich: „Schau genauer hin, Moran, sieh' dir ihre Gesichter an, es ist ganz offesichtlich!“
„Pfft, die sind dreckiger als jeder Bettler in diesem verschissenen Drecksloch, was soll ich mir da ansehen?“
„Genau das. Die Bauern mögen schmutzig sein, aber sie waschen sich zumindest das Gesicht, bevor sie sich zum Essen setzen. Die beiden verstecken eindeutig etwas. Und schau dir an, wie sie da sitzen, wie sie die Löffel halten, die sind es gewohnt, an hohen Tafeln zu speisen. Das sind zwei Blaublüter-Balge!“
„Na, wenn du das sagst“, antwortete Moran, durchaus bereit, der Wahrnehmung seines Hauptmanns mehr zu glauben als seiner eigenen. „Aber die sehen nicht so aus, als hätten sie jetzt noch was von ihrem Geld. Wahrscheinlich irgendwelche Kriegswaisen, warum sollten sie sonst alleine herumlaufen?“
„Ach Moran, du schaust mal wieder viel zu oberflächlich! Wenn sie adelig sind, können sie lesen und schreiben. Für solche gibts im Süden einen dicken Batzen Geld, viel mehr als uns hier jemals ein Händler für unseren Schutz zahlen würde. Und das Mädel ist alt genug, dass wir heute noch ein bisschen Spaß mit ihr haben können. Ich finde, wir haben uns etwas Spaß verdient. Mein ihr nicht auch, Jungs?“
Ohne die zustimmenden Rufe abzuwarten, erhob sich Harold und schritt zum Tisch der beiden Jugendlichen hinüber. Im Vorbeigehen zog er einen Stuhl vom Nachbartisch heran und setzte sich rittlings neben die beiden.
„Hallo ihr zwei, seid ihr etwa ganz alleine unterwegs?“, fragte er betont freundlich. „Habt ihr niemanden, der auf euch aufpasst?“ Noch während die Worte seinen Mund verließen, fragte er sich, ob sie nicht zu alt für diesen Spruch waren. Der Junge schien ihm seine Fürsorge abzukaufen, aber das Mädel hatte ihm ein paar Jahre voraus. Unter dem ganzen Dreck war es schwer einzuschätzen, aber ihr schienen nicht mehr viele Jahre zur Volljährigkeit zu fehlen. Das dürfte es schwer machen, ihr Vertrauen zu gewinnen, und in der Nähe der Hauptstraße war zu viel Verkehr, um sie gewaltsam mitzunehmen. Aber zumindest war sie definitiv im richtigen Alter, um eine Menge Spaß mit ihr haben zu können.
Die zweifelnde Stimme des Mädchens riss ihn aus seinen Gedanken: „Wir kommen ganz gut alleine zurecht, Herr. Wir sind jetzt schon seit ein paar Tagen so unterwegs.“
„Ja, aber habt ihr denn keine Angst, so alleine? Wisst ihr nicht, dass es jetzt nach dem Krieg in den Wäldern nur so von Banditen wimmelt, die euch ausrauben und versklaven oder euch direkt umbringen?“
Das war zu viel des Guten gewesen, er sah es ihrem Gesicht an und fluchte innerlich über sein hastiges Vorgehen.
„Ihr meint solche Trunkenbolde wie euch? Die hört man doch von Weitem!“, bestätigte sie seine Befürchtung kühl.
Unterdrückte Wut über seine eigene Dummheit und ihre Reaktion schwang in seiner Stimme mit, als sie am Kragen packte und anschnaubte: „Pass auf, wen du hier...“
„He da, lass mir meine Gäste in Ruhe. Hast wohl zu viel gesoffen, wie?“, unterbrach ihn da der Wirt.
Mit einer gemurmelten Entschuldigung stand Harold auf und ging hinaus, um seiner Wut und seiner Blase Luft zu machen. Mit voller Blase war er immer so unkonzentriert und übereilt, er hätte es voraussehen müssen. Und jetzt hatte er auch noch fast den Wirt gegen sich aufgebracht. In den großen Dörfern konnten sie sich keinen Streit leisten, sie waren zu wenige, um die Bauern mit Waffengewalt in Schach zu halten, und sie brauchten die Dörfer als Stützpunkte für die von ihnen eskortierten Karavanen.
Er musste anders vorgehen. Jetzt, wo er wieder ruhig in der kühlen Nachtluft stand, fragte er sich, warum er es nicht gleich so gemacht hatte. Er scheute sich auch sonst nicht, seine Gabe zu nutzen, um neue Klienten zu gewinnen. Warum sollte er sie also hier nicht auch gebrauchen? Der alte Skjor, sein Lehrmeister, hatte ihn vor großen Menschenmengen gewarnt, man könne nie wissen, wer alles zusehe. Unsinn! Hier saßen nur dumme Bauern, niemand hier im Dorf hatte diese Gabe, also konnte es auch niemand mitbekommen. Wenn er es geschickt anstellte, würde sich nicht einmal jemand über das seltsame Verhalten der Kinder wundern. Aber selbst wenn er etwas verpatzte, würde niemand vermuten, er hätte irgendetwas damit zu tun.
Von diesem Gedanken gestärkt ging er zurück in den Schankraum und setzte sich zu seinen Männern. Den fragenden Gesichtern entgegnete er: „Das Mädel ist kleverer, als ich vermutet hätte. Aber ich werde sie schon noch überzeugen.“ Dann lehnte er sich zurück, den Blick unverwandt auf sein Ziel gerichtet, und konzentrierte sich, zunächst auf sein eigenes Bewusstsein, dann streckte er seinen Geist in Richtung des Mädchens aus, griff nach ihrem Verstand. Als sie sein Eindringen bemerkte, schreckte sie zurück, versuchte, ihn auszusperren. Doch er hatte schon weit bessere geistige Schutzwälle durchbrochen, sogar schon manch einen schwächeren Magier unterworfen, nachdem seine Männer diesen ein Wenig in Panik versetzt hatten, um seine Konzentration zu stören. Das Mädchen hatte keine Chance. Der Junge starrte sie kurz verwundert an, bevor Harold ihren Körper vollends unter seine Kontrolle brachte und ihr entsetztes Gesicht wieder richtete.
„Es ist nichts, iss weiter!“, zwang er sie zu sagen.
„Wer bist du?“, fragte sie verängstigt in ihren Gedanken.
Harold genoss ihre Angst einen Moment lang, bevor er, ebenfalls in Gedanken, antwortete: „Ich bin der Habicht, meine kleine Schwalbe; der Habicht, der dich in seinen Krallen hält. Ich bin der König der Lüfte, niemand kann dir hier helfen. Ergib dich mir, dann lasse ich dich vielleicht noch eine Zeit lang leben und spiele mit dir, bevor ich dich töte.“ Er genoss es jedes Mal, wie sich das gefangene Bewusstsein, der Kontrolle über den eigenen Körper beraubt, in den tiefsten Winkeln der eigenen Gedanken zusammenkrümmte und sich zu verstecken versuchte, doch noch nie hatte es ihn zu solchen hochtrabenden Metaphern angeregt. Aber die Händler und Karavanenführer waren allgemein wenig anregend, wie sollte er da in dieser Hinsicht etwas anderes erwarten können?
Überhaupt waren dieser Tage die meisten Leute, die viel auf den Straßen unterwegs waren, merklich von den Gefahren ihrer Reisen gezeichnet. Das Mädel dagegen war, soweit er sie bisher hatte beschauen können, noch hübsch und narbenfrei; sie schien mit ihrem schönen Gesicht völlig ungesehen und frei durch die Welt zu schweben. Wie dieser Vogel, eine kleine Mehlschwalbe, die er bei ihrem morgendlichen Flug beobachtet hatte, das schwarz-blaue Federkleid in der Sonne glänzend, ohne Angst vor Räubern, denn die riesigen Kiefern, zwischen deren Wipfeln sie durch die Luft glitt, wurden von mächtigen Wesen geschützt. So nahe an ihren Städten würde ihr niemand etwas antun.
Aber halt, was waren das für Gedanken? Er hatte diesen Wald nie gesehen, nie auf einer Klippe so hoch über einem Wald gestanden, und warum zum Henker hätte er einen bescheuerten Vogel beobachten sollen? Woher stammten diese Erinnerungen? Von dem Mädchen? Unmöglich, er hatte ihren Geist gekapselt, er hätte gemerkt, wenn sie diese Gedanken abgesondert hätte. Und sie würden sich auch nicht so echt anfühlen, als hätte er es selbst erlebt.
Die Schwalbe stellte ihre Flügel schräg und drehte ab, verschwand im Schatten der Bäume. Sein Blick blieb einen Moment lang an der Stelle hängen, wo sie verschwunden war, wartete, ob sie wieder auftauchte.
Irgendjemand anders musste sich mit seinem Bewusstsein verbunden haben, ihm diese Gedanken heimlich eintrichtern, während er sich auf das Mädel konzentriert hatte. Er könnte seinen Geist weiter öffnen um auch die anderen um ihn herum beobachten zu können. Aber konnte er dann noch das Mädchen festhalten? Egal, er musste es riskieren, er musste wissen, wer hier noch diese Gabe hatte. Er musste ihn finden und bezwingen. Wenn der Fremde so leichtsinnig war, ihm seine Gedanken zu öffnen, hatte er offenbar nicht viel Erfahrung, würde vermutlich leicht zu knacken sein. Und Harold konnte keinen Zeugen gebrauchen, niemand durfte wissen, was er hier tat.
„Dafür ist es nun zu spät...“, hauchte es in seinen Gedanken. Die Stimme schien aus ihm selbst zu kommen, nicht wie sonst aus dem Bewusstsein eines anderen. Und dafür gab es eigentlich nur eine Erklärung.
Die Schwalbe tauchte nicht mehr auf, war wahrscheinlich gelandet. Er wandte den Blick nach rechts, über den ausgedehnten Wald, der sich bis zum Horizont erstreckte. Dann drang etwas blaues in sein Blickfeld, wurde immer größer. Ein großer, mit saphierblauen Schuppen besetzter Echsenkopf, mit rasiermesserscharfen Zähnen und kräftigen Stacheln bewehrt. Der Blick wanderte weiter über den langen Hals und den massiven Körper, über die sich der Kamm spitzer Stacheln fortsetzte, unterbrochen nur von einer kleinen Senke im Nacken, in der ein Sattel befestigt war, halb versteckt hinter den angelegten ledrigren Schwingen. Mit wenigen leichten Sprüngen erklomm er das gebogene Vorderbein und zog sich in den Sattel.
Die Erinnerung endete abrupt. Das konnte nicht sein, das waren doch nur Legenden!
„Wer bist du?“, fragte er verängstigt in seinen Gedanken.
Einen Moment lang herrschte drückende Stille in seinem Kopf, bevor die fremde Stimme wieder erklang: „Ich bin der Drache, mein kleiner Habicht, der Drache, der dich in seinen Pranken hält!“