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Der König der Knöpfe
Meine Finger streichen über die Härchen an seinem Unterarm, fahren sanft die Venen nach, verweilen schließlich auf der Innenseite seines Handgelenkes. Sein Puls schlägt ruhig und gleichmäßig. Meine Nase liegt in der Kuhle zwischen Hals und Schultern. Er riecht nach Whiskey und Seife.
„My friend and me
Looking through her red box of memories
Faded I'm sure
But love seems to stick in her veins you know …”
Ich drücke auf repeat und laufe umher, wie Alice im Wunderland, berühre jedes Möbelstück, setze mir seine rote Mütze auf den Kopf und verschmelze mit der Flauschigkeit und der kribbelnden Wärme.
„Das fühlt sich so gut an!“
Meine Stimme ist heller als sonst, engelsgleich.
„Versuch mal die Vorhänge, der Samt ist unglaublich.“
Mit wackeligen Beinen, taste ich mich vor Richtung Fenster. Meinen Augen kann ich nicht mehr trauen, daher benutze ich meine Hände, um mir den Weg zu bahnen. Ich nippe an dem Glas mit Laphroaig, ein scharfes Brennen, dann rauchiger Seetang und Meer.
Ich wickel den Stoff um meinen nackten Körper, spüre wie die Fransen meine Unterschenkel kitzeln, die einzelnen Stofffasern, die mich sanft streicheln. Meine Augen schließen sich, helfen meinem Tastsinn, sich zu entfalten und die bunte Fantasiewelt um mich herum auszublenden.
Früher bei meinem Vater im Geschäft, da liebte ich die weichen Stoffe. Wenn keine Kunden da waren, streichelte ich über Seide, Futterstoffe und Samt. Sortierte sie nach Farben und legte die Enden wieder ordentlich über die Pappballen. Wie aus einer anderen Zeit wirkte dieser kleine Laden, mit der altmodischen Kasse, die nur Deko war, dem Bauchladen meines Opas in der Schaufensterauslage, mit dem er die Familie in der Nachkriegszeit über die Runden brachte. Hunderte von Knöpfen hingen in Kisten aufgereiht an der Wand. Die kleinen Röhrchen füllten wir oben auf dem Dachboden. Ein Knopf kam immer auf den Deckel, wurde mit Draht befestigt. Damit man sehen konnte, was drin ist. Zwanzig Pfennig pro Röhrchen. Das war unser Deal.
Die Lokalzeitung nannte ihn den König der Knöpfe. Der Artikel liegt immer noch in meinem Nachttisch.
Der kleine Tisch und der weißlackierte Holzstuhl, auf dem mein Vater immer saß, Krimis las und rauchte. Das Telefon mit der runden Drehscheibe, und die abgewetzten Zollstöcke, noch aus den harten Zeiten, als er auf dem Markt verkaufte.
Die Perlmuttknöpfe waren die teuersten und mit vier Jahren lernte ich, sie mit einem süßen Lächeln den gut betuchten älteren Damen zu verkaufen. „Kinderarbeit“, scherzte Mama und Papa und ich lachten, als ob wir ein Geheimnis hätten und bauten Türme aus den Fünfmarkstücken. Kurz vor dem Abräumen bekam ich einen frischen Möhrensaft. Er schmeckte furchtbar, aber war gesund, vor allem mit ein paar Tropfen Olivenöl auf die Papa immer bestand. Manchmal kaufte er mir auch ein T-Shirt oder ein Top beim Pakistani nebenan, aber dann schimpfte meistens meine Mutter, wegen der schlechten Qualität und der Kinderarbeit, die mit meiner Ausbeutung nicht vergleichbar war. Auf dem Weg zurück ins Lager, saß ich beim Gewürzhändler, hinten im alten Trabi, steckte meine Nase in die Beutel aus Jute und in die Gläser mit den Gewürzen und Früchtetees.
Der gleiche Geruch dringt jetzt in meine Nase. Die Räucherstäbchen, die getrockneten Früchte – vor allem die Mango – sie durchdringen den Raum, manipulieren meinen Geist und lassen mich in die Vergangenheit zurückfallen. Doch ich will hierbleiben. Im Jetzt und Hier. Ich gehe zu ihm. Setze mich vor ihn, greife seine Hände und betrachte seinen entrückten Blick, die dunklen Pupillen, die nichts mehr fixieren können, aber alles, was sie sehen mit bunten Farben versehen und zu kleinen Wundern verpacken. Genauso schaut er, wenn er Gitarre oder Klavier spielt und den Songs von U2 oder The Verve neues Leben einhaucht. Er summt den Songtext mit.
Yes, there's love if you want it
Don't sound like no sonnet, my lord
Yes, there's love if you want it
Don't sound like no sonnet, my lord …
„Was willst du tun? Was willst du tun mit deinem Leben?“
Er sagt es nicht in der Art eines Psychotherapeuten, oder eines Lehrers sondern so, als ob es ihn wirklich interessieren würde.
Ich kann nicht anders als lachen. Es sprudelt aus mir hinaus. Ich halte mir die Hand vor den Mund, damit meine Spuckfäden ihn nicht treffen, und versuche, das Karussell in meinem Kopf zu stoppen. Er kann das so viel besser kontrollieren als ich, seine Gedanken lenken, neue Welten erkunden, während ich einfach nur überrannt werde.
Mein Vater hatte mich das auch gefragt. Vor zwei Monaten, auf dem Weihnachtsmarkt. Wir standen in der kleinen Holzhütte und wärmten uns unter dem Heizstrahler. Er trank Veltins. Ich Glühwein. Wir blickten auf die heruntergekommene Altstadt, die Läden mit der neonfarbenen Werbung, den türkischen fünf Euro Friseur, den Netto und den Billy Back. Keine Spur mehr von den kleinen hübschen Designerläden, dem Goldschmied und dem Schuhgeschäft, in dem ich als Kind immer neue Schuhe bekam.
„Alles wech“, sagte er und deutete mit einem Nicken auf den Marktplatz.
„Selbst aufm Markt ist alles tot. Der Ludger hat auch dicht gemacht. Is jetzt ne Detektei in seinem Laden. Stehn da immer mit goldlackierten Karren. Musst du dir mal anschaun. Ehrlich arbeiten tut hier keiner mehr.“
Aus der Jackentasche zog er eine Packung Tabak und Blättchen.
„Haben wir doch auch nicht immer, Papa. Die rechte Seite von den Umsätzen, war auch am Amt vorbei.“
Er nickte. „Für deine Reitstunden. Und den Klavierlehrer, das dumme Arschloch.“
„Ja der war echt ein Arschloch. Du sollst nicht rauchen!“
„Is jetzt auch egal. Wird nix mehr ändern. Wie läufts mit der Uni?“
Wenn das Thema unangenehm wurde, einfach nichts mehr sagen. Oder Thema wechseln.
„Ich weiß nicht. Macht keinen Spaß. Ich quäl mich durch.“
Er trank sein Glas mit einem Zug leer. Zündete die Zigarette an.
„Noch n Pils, Helga!“
Er zeigte auf mein Glas. Ich schüttelte den Kopf. „Hab noch. Danke.“
„Welche Arbeit macht schon Spaß? Machs fertig. Besser als um drei Uhr morgens aufstehn und bei Wind und Wetter aufm Markt stehen.“
Ich nickte und legte meine Hand auf seine knochige Schulter.
„Wusstest du, dass ich mal im Knast war? Eine Nacht?"
Er sagte das ganz nüchtern, als ob er über das Wetter reden würde.
Ich stellte meinen Glühwein ab.
„Was hast du denn angestellt?"
„Ich war mit der Bundeswehr in Holland stationiert. Wir hattn paar Tage frei, also sind wir nach Amsterdam. Winny hat dann zwei Mädels kennengelernt, waren beide Stripperinnen. Eine Blondine und die andere, die hatte feuerrotes Haar. Mit denen haben wir dann was geraucht und Pilze genommen. Aufm Rückweg bin ich Motorrad gefahrn. Konnte sehen, wie der Boden unter mir aufging. Die Farben waren wie ein Feuerwerk. Dann kamen die Bullen, konnten mir nichts nachweisen, betrunken war ich ja nich. Aber bin wohl Schlangenlinien gefahrn. Ham mich ne Nacht eingesperrt. Morgens hab ich dann gesagt, dass ich zwei Spiegeleier, nen Kaffee und ne Dusche will. War ja Offizier, damals. Hab ich auch bekommen. Scheiß Bullen."
Ich schaue in den Kamin. Die Holzscheite glühen orange, sprühen Funken, knistern.
Es soll noch nicht vorbei sein. Also greife ich in die Plastikschachtel und fische einen der Größeren heraus. Er schmeckt leicht bitter und hat die Konsistenz von Champignons aus dem Discounter. Im Bad betrachte ich mein eigenes Spiegelbild, schneide Grimassen, lache über mich selbst. Egal was ich fixiere, es verändert sich, fängt an zu schweben oder wird bunt. Meine Augen quellen hervor, werden noch größer, als sie sowieso schon sind und auf einmal bin ich verschwunden.
„Why can't you see
That nature has its way of warning me
Eyes open wide
Looking at the heavens with a tear in my eye …”
Ich kann mich nicht mehr sehen. Sondern sehe nur noch meinen Vater, sein vom Wetter zerfurchtes Gesicht, das meinem so ähnlich ist. Mit den Fingerspitzen streichel‘ ich über die einzelnen Falten, male seine Konturen nach. Ich rieche sogar seine Haut, die immer leicht nach Seife und Tabak roch. Betrachte die dünnen, dunklen Haare und den ausdruckslosen Blick, der nur, wenn er nach zwei Gläsern Pils lachte, lebendig wurde. Die buschigen Augenbrauen sind durchzogen von silbernen Härchen und der Dreitagebart ist dicht und struppig. Seine Hand, wie sie vor einigen Wochen noch in meiner lag, dünn und knochig, mit ein paar Altersflecken. Knochen, so nannten sie ihn immer, seine Freunde, mit denen wir im Sommer zum Campen an die Mecklenburgische Seenplatte gefahren sind. Drahtig und schlank, so war er immer gewesen. Mit mehr Kraft als man ihm zutraute. Vor allem, wenn es um mich ging. Da verstand er keinen Spaß.
Das Surren und Piepen, der Maschinen, die seine Lunge mit Sauerstoff versorgten, schwirrt jetzt in meinem Kopf. Ich spüre seine dünnen Finger, die mit jedem künstlichen Atemzug immer lebloser wurden, immer kälter. Mir wird schwindelig, schwarz vor Augen.
„Wir werden sterben.“
Er redet mit mir, erst langsam und bedächtig.
Doch dann ziehe ich ihn zu mir, in meinen Abgrund und zeige ihm die Einsamkeit des Todes. Er reitet mit, auf meiner Welle der Angst und wir legen uns hin, die Hände ineinander verhakt, bereit zum Sterben. Unsere Herzen rasen synchron, unser Atem ist flach und hastig. Raum und Zeit drehen sich in ihrem eigenen Wahnsinn. Der Stoppschalter ist gut versteckt.
„Wenn wir jetzt sterben, dann sterben wir wenigstens zusammen!“
Er sagt es. Und er meint es so. Denn er meint immer was er sagt. Ich verlasse mich auf seine Worte.
Ein Tunnel, strahlend weiß, wie in den Filmen. Aber das Weiß ist nicht freundlich, nicht beruhigend. Es ist spiegelglatt und brennt in den Augen.
„Sinking faster than a boat without a hull,
My lord
Dreaming about the day when I can see you there
My side
By my side …”
„Ich will nicht sterben.“
Ich lass‘ die kalte Hand los, krieche zum Telefon und drücke die Null.
„Wir brauchen einen Arzt! Wir sterben. Sofort!“
Die Rezeptionistin ist verwirrt. Ich wiederhole nur im Stakkato meine Worte. Immer wieder. Er steht im Bad und steckt sich den Finger in den Hals. Ich kann nicht kotzen. Konnte ich noch nie.
Vor der geöffneten Tür unserer Hütte, spüre ich kaltes Eis unter meinen Füßen und lege mich mit dem nackten Rücken in den Schnee. Die Kälte empfängt mich wie ein alter Freund und schneidet mir dennoch, wie ein scharfes Messer, von hinten durch die Rippen. Die Sterne über mir schießen wie Blitze auf mich nieder, die kahlen Äste der schwarzen Bäume werden zu Fratzen. Ich drehe mich um und drücke mein Gesicht in den Schnee, halte den Atmen an, hebe meinen Kopf, öffne die Augen. Immer noch keine Farben. Alles grau und düster. Gespenster, die umherirren. Ich atme gegen sie an. Atme lange aus.
Auf allen Vieren krieche ich Richtung Haupthaus. Unsere Hütte verfolgt mich, wie ein hungriger Straßenhund. Die Lichter der Weihnachtsbäume wirken wie eine Lasershow, aber freundlicher, als die Fratzen im Rücken.
Leise schallt die dritte Strophe aus der offenen Tür.
„Here we go again and my head is gone, my lord
I stop to say hello
'Cause I think you should know, by now
By now …”
Ich öffne die erste Tür, die ich finden kann und meine Füße spüren warmen, flauschigen Teppichboden. Die Wärme, die in meine Venen schießt, schmerzt. Geschmolzener Schnee tropft von meiner Brust, auf meine Oberschenkel. Meine Füße hinterlassen feuchte Abdrücke. Kellner mit schneeweißen Hemden und gebügelten Faltenhosen tragen Weingläser und Teller mit winzigen Gerichten durch den schummrig beleuchteten Festsaal.
Die Frauen in langen Kleidern, ihre Diamanten glitzern, die Herren im Smoking.
In einiger Entfernung steht ein riesiger Weihnachtsbaum, funkelnd, mit warmen Lichtern. Ich schwanke ihm langsam entgegen, setze mich neben die Geschenke, genau unter den Baum und schenke mir selber eine Umarmung.
Die Leute starren mich an, hören auf zu essen, und obwohl mein Gesicht versucht freundlich zu lächeln, wird mir kein Lächeln zurück geschenkt. Tannennadeln piksen in meine Haut. Ein Päckchen sticht schmerzhaft in meine oberen Rippen. Die Gesichter werden zu Masken, sind versteinert, meine Kehle verengt, mein Atem geht flach. Die Lichter und Gesichter verschwimmen zu einem großen bunten Bild, bis die Farben weichen und Dunkelheit mich umschlingt.
Eine Hand tastet nach meinem Puls. Zwei Sanitäter beobachten mich mit besorgtem Gesicht. Er sitzt neben mir und schreibt mit einem Bleistift wilde Zeilen. „The sensation of pure death“, sagt er und grinst mich an.
„Yes, there's love if you want it
Don't sound like no sonnet, my lord
Yes, there's love if you want it
Don't sound like no sonnet, my lord
My lord …”