Der Käfig
Er war hier zu Besuch. Jeden Tag wurde es ihm erneut klar. Er hatte hier eigentlich nichts verloren, das wusste er. Dennoch würde er bleiben, das musste er. Ihm blieb nichts anderes übrig. An den Ort von dem er kam, konnte er nicht zurück. Die Stadt, die ihn einst mit Vorfreude erfüllte, wenn er sich überlegte, wie sein späteres Leben dort aussehen konnte und die Enttäuschung, die er dort erlebte, Tag für Tag, über Jahre hinweg. Die Liebe die er geglaubt hatte, dort gefunden zu haben und welche ihm den Boden aus dem Bodenlosen geschlagen hatte. Er hatte keine Lust mehr gehabt auf das Leben dort, es hatte wie ein Egel an ihm gesessen. Es brauchte keine großen Kräfte, um fortzugehen und doch musste er seine letzten aufbringen, um diesen Schritt zu gehen. Nach einiger Zeit, in welcher er ziellos umherirrte, ließ er sich fernab von der Zivilisation auf einem Hof nieder. Er war noch nie dort gewesen.
Der alte Verwandte der hier lebte, kümmerte sich nicht um ihn. Er hatte trotz dessen anfangs den Eindruck, dass es den Bewohnern nicht gefiel mit ihm zu wohnen. Jener Verwandte verbrachte seine Zeit draußen, wo das wusste er nicht. Morgens wenn er aufstand, war das Haus bereits geleert und das blieb den Tag über so. Eines wusste er jedoch, es war seltsam hier, etwas an diesem aschfahlen Haus erzeugte bei ihm Beklemmung, sperrte sein Herz ein in einen kleinen Käfig. So fühlte es sich tagsüber an und so sah er es bei Nacht. Er blickte dann immer von außen auf sich herab und seine Brust konnte er nicht erkennen. Sobald er den Blick auf sie richtete, verschwamm das Bild vor seinen Augen. Einen Meter vor dem Körper pendelte der Käfig. Von links nach rechts und anschließend von rechts nach links und wieder zurück. Bewegt durch das rastlose Trappeln der Krallen auf dem eisernen Dach des Käfigs. Die schwarzen Augen des Tiers ließen ihn an Abgründe denken. So verging jede Nacht, das Trappeln auf dem Käfig, das metallene Klicken, vor dem er sich nicht retten konnte. Öffnete er dann furchterregt die Augen, so verschwand das Tier aus seinen Gedanken. Urplötzlich. Er verdrängte die Gedanken an den Traum und so fiel ihm bei Tag nicht ein, an das Tier zu denken.
Er öffnete die Fensterläden um die Landluft in die Kammer zu lassen. Er war es noch immer nicht gewohnt nicht in der warmen Sonne zu leben. Der kalte Hauch ließ ihn jeden Morgen frösteln und der kalte Schweiß verklebte auf seiner Haut. Sein Blick bei dem Öffnen der Läden galt jedoch nicht der Landschaft. Nicht dem Getreidefeld, das vor längerer Zeit hätte geerntet werden müssen und jetzt kalt in die umgebende hohe Graslandschaft schwappte. Er nahm das Draußen nicht wahr. Sein Blick war ins Innere gewandt, auch wenn er dort genau so wenig sah und dies noch von Tag zu Tag geringer wurde.
Er verfiel von Morgen zu Morgen immer mehr in eine Art Dämmerung. Sein Frühstück fiel von Morgen zu Morgen karger aus. Seine Kleidung wurde von Morgen zu Morgen größer und seine Umrisse die er in dem Wandspiegel im Bad sehen konnte, sahen immer stärker so aus, als wären sie durch Butterbrotpapier durchgepaust. Er nahm das Alles jedoch nicht wahr. Wie lange dieser Zustand anhielt? Er hätte es nicht sagen können, selbst wenn er sich gefragt hätte. Doch das tat er nicht, wie er sonst auch alles vernachlässigte. Von Nacht zu Nacht wurde der Käfig um sein Herz immer kleiner und es gab niemanden, der von außen die Tür hätte öffnen können. Es war niemand dort, noch nicht einmal jene, die keinen Schlüssel gehabt hätten.
Nach geraumer Zeit erwachte er wieder morgens. Etwas war anders, das war ihm klar. Er wusste nicht was war, oder was gewesen ist, aber er bemerkte den Unterschied. Das Tier war in der Nacht nicht aufgetaucht, sein Traum traumlos geworden, trotz der Bilder. Die Abwesenheit der Beklemmung ließ den Käfig um sein Herz immer enger werden, so dass es sich bei seinen Schlägen nun an das Gitter quetschte. Auch an diesem Tag nahm er nicht wahr, wie er sich auf die Veranda setzte. Starrte wie jeden Tag ins Nichts, den Kopf mit den grautrüben Augen auf die Gestalt ausgerichtet, die auf dem Feld stand. Als die Sonne grade ihren Zenit verlassen wollte, da veränderte sich sein Blick. Nicht Farbe, Form, Gestalt oder Aktivität. Er sah, ohne zu sehen. Nahm wahr, ohne wahrzunehmen. Und doch passierte etwas mit ihm. Ein Flüstern in seinem Kopf. Ein Gedanke nicht ganz. Begann Raum einzunehmen. Er bemerkte die Gestalt, welche sich nicht regte, höchstens durch den Wind in der Kleidung, und doch regte sie etwas. Sie war unnatürlich groß und unförmig und der Hut schaukelte in der jetzt windstillen Luft.
Ohne den Entschluss gefasst zu haben, ja ohne sich dessen Gewiss zu sein, schleppte er sich die Treppe hinauf. Nicht einem Ziel entgegen und doch war der Weg früh beendet. Er schloss die Läden, den Blick nicht von der Gestalt abwendend. Die Entfernung zum Feld war nicht gering und doch war es ihm in diesem Moment nicht weit genug weg. So entschied er sich um, ging auf die andere Seite des Flures, öffnete die Tür, die er noch nie geöffnet hatte. In diesem Raum waren die Läden ebenfalls geschlossen und so sah er die dicke Staubschicht nicht, die das Bett, den Schrank und den kleinen Tisch in der Ecke bedeckte. Er schob den Riegel vor die Läden. Verriegelte ebenso die Tür und verrammelte sie mit dem Schrank. Das Bett schob er in die Mitte des Raums, so weit wie möglich entfernt von Tür und Fenster. Schlief ein und als der Morgen kam, krächzte die Krähe auf der Scheuche und flatterte davon. Die Läden wurden nicht geöffnet. Das Herz pulsierte nicht mehr in dem Käfig, es fiel in der Nacht auf den Boden und löste sich dabei in mehrere Teile, so als wäre es nur durch die Enge des Käfigs noch zusammengehalten worden. Das Schwarze in der Mitte des Herzes war nun sichtbar. Es wird eine lange Zeit dauern, bis der Körper gefunden wird und bis dahin wird die Ursache des Todes nicht mehr aufklärbar sein. Ein Haus, dass für lange Zeit unbewohnt war. Ein von Innen verschlossener Raum. Ein Körper, der ohne direkte und ohne erkennbare äußere Einwirkung nicht mehr mit Leben gefüllt ist.
„Das ist deine Antwort auf das Rätsel mit einem geschlossenen Raum?“, werde ich gefragt. „Nein“, sage ich, „das ist sie nicht, aber es ist eine Antwort auf die Fragen, die viel zu selten ernsthaft gestellt und noch seltener ernsthaft beantwortet werden“.