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Der Käfer
Als der Student Walter an diesem Morgen bei seinem Nachbarn klopft, stellt er überrascht fest, dass die Wohnungstür nur angelehnt ist. Der alte Herr Amon ist hier Mieter. Seine Wohnung liegt, ein Stockwerk höher, genau über der des Studenten.
„Hallo?“, ruft Walter in das dunkle Vorzimmer hinein. Keine Reaktion. Er überlegt, ob er den Brief, der fälschlicherweise in seinem Briefkasten gelandet ist, einfach irgendwo hierlassen soll. Er könnte ihn bei der Tür hineinwerfen und hätte damit eigentlich seine Pflicht erfüllt. Lust, den alten Herrn Amon zu treffen, hat er jedenfalls keine. In letzter Zeit lässt der alte Mann den Fernseher oft von früh bis spät auf voller Lautstärke laufen. Als Walter vor ein paar Wochen bei ihm läutete und ihn bat, das Gerät leiser zu stellen, hat er ihm einfach die Tür vor der Nase zugeworfen.
Der Student klopft noch einmal. „Herr Amon?“, ruft er etwas lauter nun und lauscht, doch wieder keine Reaktion. Vorsichtig schiebt er die Tür weiter auf und tritt ein.
Ein modriger Geruch steigt ihm in die Nase. Er tastet nach dem Lichtschalter: Klick! Klick! Doch das Licht geht nicht an. Da muss wohl die Glühbirne kaputt sein.
Langsam durchquert er das Vorzimmer. Im dumpfen Licht kann er bald eine weitere Tür vor sich erkennen: Unschlüssig bleibt er stehen. Er möchte etwas rufen, um sich bemerkbar zu machen. Das erscheint ihm aber unpassend, denn immerhin befindet er sich in einer fremden Wohnung. Leichter fällt es ihm zu klopfen, doch auch diese Tür ist nur angelehnt. Als er sie anstupst geht sie sofort ein Stück weit auf.
Walter steckt den Kopf hinein. Es handelt sich um ein größeres Zimmer, wahrscheinlich das Wohnzimmer. Er kann aber nicht viel erkennen, denn die Vorhänge sind zugezogen.
Der Geruch von vorhin steigt ihm wieder in die Nase. Er versucht die Türe weiter zu öffnen, aber etwas hat sich darin verkeilt. Überall am Boden sind Sachen verstreut: Der kleine Couchtisch wurde umgeworfen. Zerbrochene Teller liegen daneben. Das Sofa steht schief mitten im Zimmer. Die Sitz- und Rückenpolster wurden herausgerissen. Der Vorhang beim Fenster hinten links hängt nur mehr an ein, zwei Haken.
Dort bemerkt er auch, wie etwas aus dem Schatten hervorkriecht. Im ersten Moment denkt er, es sei ein großer Hund, doch der runde Rücken, der massige Körper und der Kopf, der ohne Hals an den Rumpf anschließt, lassen ihn dann eher an ein Insekt - einen Käfer - denken, der aber groß ist wie ein Mensch. Das Tier kriecht ohne besondere Hast auf Walter zu. Das Gesicht hat es dabei auf den Boden gerichtet. Vor einem Häufchen mit Kleidungsstücken und Zeitungspapier, direkt neben Walter, bleibt es schließlich stehen. Dann dreht es das Haupt in seine Richtung und blickt den Studenten direkt an. Dieser Blick jedoch geht Walter durch Mark und Bein, denn trotz des spärlichen Lichts, des Schattens, der auf die Fratze dieses Wesens fällt, glaubt er die Züge vom alten Herrn Amon erkennen zu können.
Einige Augenblicke stehen sich die beiden so gegenüber, dann wendet sich das Wesen, ohne besonderen Grund, wieder von ihm ab und kriecht gemächlich an ihm vorbei zum nächsten Haufen.
Walter blickt ihm noch eine Sekunde nach, dann löst er sich aus der Erstarrung und macht langsam kehrt. Er merkt, dass ihm dabei die Knie weich werden. Vorsichtig lugt er über die Schulter zurück, doch das Wesen ist noch immer über das Häufchen gebeugt. Mit schneller werdenden Schritten durchquert der Student das Vorzimmer, immer wieder einen Blick zurückwerfend, doch von dem Tier ist nichts mehr zu sehen. Es ist schon wieder irgendwo im Schatten verschwunden. Bevor er zur Wohnungstür hinausläuft, lässt er den Brief fallen. Im Stiegenhaus nimmt er gleich zwei, drei Stufen auf einmal und wirft, ein Stockwerk tiefer, die Tür seiner Wohnung mit einem lauten Knall hinter sich zu.
In den folgenden Nächten macht Walter kein Auge zu. Oft blickt er in der Dunkelheit lange an die Zimmerdecke und lauscht den seltsamen Geräuschen, die dort aus der Wohnung kommen. Vor seinem geistigen Auge stellt er sich dann vor, wie da oben bedächtig ein seltsames Wesen von einem Häufchen zum nächsten kriecht.
Am vierten Tag rückt die Polizei an. Es hat einen anonymen Anruf gegeben. Walter steht am Fenster als der Polizeiwagen vorfährt. Er hat lange auf sie gewartet. Nun hält er die Luft an, als die beiden Beamten die Stiege heraufkommen. In seiner Wohnung folgt der den Geräuschen und gemeinsam gehen sie fast alle Zimmer ab, die beiden Beamten in der Wohnung oben, er unten. Aber schon bald ist es wieder vorbei damit. Durch den Türspion beobachtet er, wie die beiden Polizisten ganz entspannt die Stiege herunterkommen. Als sie an seiner Tür vorbeigehen, unterhalten sie sich lachend, so als sei nichts gewesen!
Doch schon am nächsten Tag fällt Walter ein weißer Kleinlastwagen vor dem Haus auf, auf dem die Firmenbezeichnung „Franz Berger & Söhne KG Entrümpelungen und Schädlingsbekämpfung“ zu lesen ist. Zwei Männer in blauen Overalls und mit Gummistiefel steigen aus: Der eine groß und stämmig, mit schütterem Haar. Der andere ständig mit einer Zigarette im Mund. Keuchend kommen sie, mit allerlei Gerätschaften beladen, die Stiege herauf. Walter fällt ein gelb-roter Totenkopf auf dem Kanister auf, den der Große auf den Rücken geschnallt hat. Dann hört er, wie sie Herrn Amons Wohnung betreten. Breit stapfen sie in allen Zimmern herum. Möbel werden verschoben, Geschirr geht zu Bruch und ab und zu kann er sogar dumpf ihre Stimmen vernehmen, wenn sie sich etwas zurufen.
In dieser Nacht dringt kein Geräusch mehr aus Herrn Amons Wohnung. Walter fällt sofort in einen tiefen Schlaf, aus den ihn am nächsten Morgen erst wieder lautes Hämmern weckt.
Der Baulärm kommt vom Stockwerk oberhalb. Als Walter hinaufsteigt, findet er die Wohnungstür sperrangelweit offen vor. Im Gang stapeln sich alte Möbel, Polster, Kleidung und Geschirr.
Ein paar Mieter haben sich vor Herrn Amons Wohnung versammelt: Frau Mayer, eine ältere Dame aus dem vierten oder fünften Stock, Frau Kutschera, die mit Ehemann und Kind im dritten Stock wohnt und Herr Prinz vom Dachgeschoss, der, soviel Walter weiß, in einer Bank arbeitet. Bei ihnen steht ein Mann im blauen Overall, den Walter als den kettenrauchenden Handwerker der Schädlingsbekämpfungsfirma von gestern wiedererkennt.
„Die Wohnung war in sehr schlechtem Zustand“, hört Walter den Handwerker gerade sagen, als er zu der Runde dazukommt. „Total zugemüllt! Außerdem war sie von Speckkäfern befallen. Wir haben schon gestern Gift ausgebracht.“
„Speckkäfer?“, wiederholt Frau Mayer und schluckt.
„Aber wo kommen die den her?“ fragt Frau Kutscherer ängstlich.
„Nah ja, das ist nicht so einfach zu sagen“, antwortet der Handwerker gedehnt. „Man findet sie überall dort, wo sie was zu fressen bekommen.“ Er zieht an seiner Zigarette. „Und wenn man es mit der Hygiene schleifen lässt, dann vermehren sie sich sehr schnell und im Nu hat man eine Plage am Hals, wie man hier sehen kann!“
„Und wo ist Herr Amon?“ Walter bemüht sich, möglichst unbeteiligt zu klingen, doch seine Stimme zittert etwas bei der Frage.
„Wer?“, fragt der Handwerker und blickt ihn von der Seite her an.
„Herr Amon, der alte Mann, der hier in dieser Wohnung lebt…?“
„Sie meinen hier in diesem Müll?“ Der Handwerker zeigt in Richtung der Wohnungstür. „Da war niemand. Den Müll haben wir bereits hinuntergetragen…“
„Nein“. Walter schüttelt den Kopf. „Herr Amon, der Mieter von hier…“ Doch der Handwerker blickt ihn nur fragend an.
„Aber, Sie kennen ihn doch?“ Walter wendet sich an die beiden Frauen und Herrn Prinz. „Herr Amon, der alte Mann, der immer so laut fernsieht und auf der Stiege niemals grüßt…“ Doch die Angesprochenen weichen seinem Blick aus. Eine Zeitlang sagt niemand etwas.
Dann sieht Herr Prinz plötzlich auf die Uhr: „Jetzt muss ich aber…“, sagt er und verabschiedet sich schnell. Auch die beiden Frauen folgen ihm bald. Walter und der Mann im blauen Overall bleiben alleine im Stiegenhaus zurück.
Der Handwerker nimmt einen Zug von der Zigarette und lässt den Rauch durch die Nase entweichen. In diesem Moment erscheint der andere Handwerker von gestern, der Große mit dem schütteren Haar, in der Wohnungstür. „Ich komme schon“, ruft ihm der Raucher zu und wirft die Zigarette vor sich auf den Boden. „Glauben Sie mir“, sagt er dann, während er sie mit der Fußspitze ausdrückt, Walter aber nicht ansieht, „diesen Herrn Amon, den gibt es nicht mehr.“ Dann geht er einfach grußlos davon.
Walter betrachtet noch eine Weile den Zigarettenstummel auf dem Boden, bevor er langsam die Stiege hinuntersteigt. ‚Die beiden haben schon fast die ganze Wohnung ausgeräumt‘, kommt ihm dann in den Sinn, als er seine Wohnungstür aufsperrt. ‚Morgen werden sie vielleicht noch Arbeit haben, aber dann kann ich mich endlich auf ruhigere Zeiten freuen‘, denkt er und wirft die Tür hinter sich zu.