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Der Junge und der Zauberer
„Schläfst du immer noch? Raus aus den Federn!“
Die genervte Stimme von Karls Mutter weckte ihn aus einem wohligen Traum. Überrumpelt riss er die Augen auf und schloss sie sofort wieder. Das gleißende Sonnenlicht, welches durch das Fensterloch schien, blendete ihn. Schützend hob er seine Arme.
„Keine Widerworte. Wer abends stundenlang Schriftrollen lesen kann, kann morgens auch aus dem Bett.“
Als Antwort grummelte Karl. Er war noch nicht in der Verfassung einen Schlagabtausch mit seiner Mutter zu führen.
„Wenn sich der Herr dann mal hinunterbequemen könnte, ich warte auf dich.“
Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer. Karl hörte die leiser werdenden Schritte und das Knarzen auf der Treppe. Nach ein paar Augenblicken hatten sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt. Er lies einen Blick über den kargen Raum schweifte.
Wände, Boden und Decke waren aus Holz. Ein simpler Schreibtisch mit Hocker stand in der Ecke neben der Tür und gegenüber davon ein schlichtes, schmales Regal. In diesem bewahrte Karl wenige Kleider und all seine Schatztümer auf. Seit neuestem waren das hauptsächlich Schriftrollen, die er vom Zauberer auslieh.
Trotz des spärlichen Inventars war er froh, ein Zimmer für sich allein zu haben. Der Raum war beim Bau des Hauses für viele zukünftige Kinder geplant worden. Die Göttin der Schwangerschaft hatte nicht mitspielen wollen. Seine Mutter war in ihrem ganzen Leben zwei Mal schwanger geworden. Karl erinnerte sich an ihr Wehklagen, an die Schreie. Totgeburt, hatte ihm der Zauberer später erklärt. Sogar Magie war machtlos gewesen.
Energisch schüttelte er den Kopf.
Um auf andere Gedanken zu kommen, sprang Karl rasch aus dem Bett und kleidete sich an. Währenddessen rief er sich die letzten Zeilen der gestrigen Schriftrolle in den Kopf. Das Bild eines mickrigen Krautes erschien vor seinem inneren Auge. In der Pergamentrolle stand, das es mit Vorliebe an feuchten Orten mit wenig Licht wuchs. Angeblich linderte es Schmerzen im Magen. Egal wie er es probierte, er erinnerte sich nicht an den Namen der Heilpflanze. Die fremde Sprache für die verschiedenen Pflanzen bereitete ihm Probleme. Warum übersetzte man die Namen nicht gleich mit? In Gedanken bei der Schriftrolle kletterte er die schiefe Holztreppe runter in die Küche.
Das Knarren der Treppendielen verriet ihn. Seine Mutter schaute kurz auf und wandte sich wieder dem Kochtopf zu. Im Herbst war sie ständig damit beschäftigt, die Ernte zu konservieren. Dem süßen Duft nach war sie dabei die Obsternte ein zu kochen.
Kaum war er in der Küche angekommen, meinte seine Mutter: „Ich hab eine Aufgabe für dich. Ich brauche eine Tinktur vom Zauberer. So wie ich dich kenne wärst du heute eh zu ihm gegangen, also kannst du dich auch gleich nützlich machen.“
„Ich soll ohne Frühstück in die gefährliche weite Welt hinaus?“ Karl versuchte, dabei extra kläglich zu klingen.
„Das hast du dir selbst zuzuschreiben“, gab sie trocken zurück. „Aber wenn du dich beeilt, finde ich vielleicht noch ein paar Reste vom Frühstück für dich.“
Nicht das Festmahl, das Karl im Traum gesehen hatte, aber besser als nichts. Es war sinnlos mit ihr zu diskutieren. Im Dorf gab es den Spruch, das seine Mutter härter zu bewegen wäre, als ein Steinbrocken. Ihr ins Gesicht gesagt hatte das bisher niemand. Obwohl das ein flotter Weg wäre, Selbstmord zu begehen.
Er ignorierte seinen knurrenden Magen und machte sich auf den Weg zum Dorfzauberer.
Karl öffnete die Tür und hüpfte nach draußen. Die Herbstsonne war zwar kräftig, aber der kühle Wind kündete vom nahenden Winter. Von dem Hügel, auf dem sein Haus stand, erhielt man eine unvergleichliche Aussicht. Um ein bescheidenes Dorf herum, zeichneten die Wiesen und Felder ein gelb-grünes Schachmuster. Alle waren sie in, der für diese Gegend typischen, Fachwerksart gebaut. Die Dächer deckte man mit getrocknetem Stroh.
Hinter der Siedlung grenzte ein unbedeutendes Wäldchen an. In diesem hatte sich der Zauberer vor ein paar Jahren niedergelassen. Er meinte, hier wüchsen viele magische Kräuter. Ein anderes Gerücht im Dorf mutmaßte, er versteckte sich vor jemandem.
Von seinem Haus aus würde er nicht ganz 15 Minuten zum Zauberer brauchen. Ein knurrender Magen drängte ihn zur Eile. "Vielleicht kann ich ja einen neuen Rekord aufstellen!", dachte er sich. Einmal tief Luft geholt und er schoß los. Der Wind verwirbelte ihm die Haare und zog an seiner Kleidung. Kurz geriet er ins Straucheln, als eine streunende Katze den Weg kreuzte. Knapp schaffte er es, ihr auszuweichen. Das Adrenalin jagte ihm in die Adern.
Am Dorfrand bremste er sich ein wenig. Die Gassen waren enger, als der Feldweg. Es war Hochbetrieb im Dorf. Der Sprint wandelte sich zu einem chaotischen Hindernislauf. Rechts, um die Gruppe spielender Kinder zu vermeiden. Links und ducken vor der Bäckerin. Ein Satz über ein paar abgestellte Fässer und er stolperte auf den Dorfplatz. Kurze Orientierung. Die richtige Gasse gefunden, weiter gehts. Die Dorfgeräusche verschmolzen zu einem natürlichen Musikstück.
Am Ende des Durchgangs blieb er schnaufend stehen. Hier endete das Dorf, wie mit dem Messer abgeschnitten. Man meinte, eine mysteriöse Barriere wäre um den Wald gezogen worden.
Ein schmaler Trampelpfad führte in den Wald. Die Dorfbewohner blieben eher am Rande, um wild wachsende Beeren zu pflücken. Selbst im Herbst wagte sich kaum jemand tiefer in das Gebüsch hinein, um Pilze zu sammeln, wie es in anderen Dörfern Tradition war.
Eine eigenartige Atmosphäre empfing ihn, sobald er den Wald betrat. Im Kontrast zum hektischen Dorf kam ihm der Forst friedlich vor. Ein paar Vögel zwitscherten ihre Melodie. Sonst war die Umgebung geräuschlos. Angst hatte Karl keine. Hier kam er erst zur Ruhe. Niemand störte ihn.
Dem Zauberer schien es ähnlich zu gehen. Er kam praktisch nie aus dem Wald. Lediglich zu bedeutsamen Festen, oder falls jemand aus dem Dorf eine schwerwiegende Krankheit hatte. Für eine popelige Schnittwunde bequemte er sich nicht aus dem Haus. Aus diesem Grund erhielt Karl im Handumdrehen die ehrenvolle Aufgabe eines Botenjungen. Wenn Dorfbewohner Heiltränke und Ähnliches brauchten, fragten sie Karl, ob er die Bestellung dem Zauberer ausrichten könnte. Genauso die Abholung, sobald das gewünschte Gebräu fertig war.
Für den Weg bis zum Haus des Zauberers verfiel Karl ins Schlendern. Der Rekordversuch war vergessen. Er war im Bann der Waldatmosphäre gefangen. Trotzdem schien der Weg zum Zauberer ausgesprochen kurz.
Im Gelände sah die Zaubererbleibe passend aus. Im Dorf hätte es wie ein krummer Nagel herausgestanden. Es gab keine Kanten. Alles war kurvig und organisch. Man hatte das Gefühl, dass das Haus aus dem Wald gewachsen sei. Sogar die Tür passte sich vollendet in die Vorderwand, viele Erstbesucher bemerkten sie nicht. Als er den Zauberer nach dieser Bauart gefragt hatte, erhielt er lediglich eine ausweichende Antwort. Angeblich bauten Menschen im Süden auf diese Art ihre Gebäude. Karl vermutete eher Zauberei am Werk.
Die Luft roch hier anders. Der Pfad öffnete sich knapp 50 Meter vor dem Haus auf eine schmale Lichtung, wie ein natürlicher Vorgarten. Karl bekam Gänsehaut. Die Magie schien zum Greifen nah. Bedächtig legte er die letzten Schritte bis zur Eingangstür zurück. Er klopfte. Nichts passierte. Er klopfte erneut. Immer noch nichts.
„Zauberer! Bist du da?“, rief er hörbar. Keine Antwort. Die massive Stille erschwerte das Atmen.
Mit zitternden Fingern zog Karl probehalber am geschwungenen Türknauf. Die Tür schwang auf. Er schaute in das schummrige Wohnzimmer des Zauberers.
Das Holz knarrte unter Karls Füßen. Das spärliche Sonnenlicht, das durch die runden Fenster schien, ließ die Möblierung zu Schemen verschwimmen. Nichts verriet, dass ein Zauberer hier lebte. Das Zimmer war ähnlich karg eingerichtet, wie Karls. An der rechten Wand ein paar Regale befüllt mich Büchern und Schriftrollen. In der Mitte des Raumes ein simpler Holztisch mit zwei Stühlen. Links neben ihm, eine Feuerstelle, ungewöhnlicherweise auch aus Holz gebaut.
Von diesem Wohnraum führte eine weitere Tür tiefer ins Haus. Dahinter lag das Labor, wie es der Zauberer nannte. Wo er üblicherweise schlief, hatte Karl bislang nicht herausgefunden.
"Zauberer bist du da?", rief Karl mit verhaltener Stimme in die Stille.
Entweder der Zauberer war wirklich nicht zuhause, oder er hatte sich wieder in seinem Labor eingeschlossen. Wenn er über seinen Experimenten brütete, vergaß er die Umwelt komplett. Karl tappte, als ob er etwas Verbotenes anstellte, zur Labortür und klopfte. Nichts. Schweißnasse Hände zogen die Tür einen Spaltbreit auf und er lugte hinein. Aufregung überkam ihn, als er die Ausstattung des Zimmers sah.
Viele lange Tische reihten sich an den Wänden entlang. In der Mitte des Raumes formten zusätzliche Tische eine Insel. Überall verteilt standen Glaskolben in allen Formen und Größen. Manche waren über kleinen Feuerchen aufgebaut, ander verbanden sich zu komplizierten Ketten. Ringsherum blubberte und zischte es. Rauch stieg auf und benebelte die Sicht. Von der Decke hingen merkwürdig geformte, metallische Werkzeuge herab. Auf, oberhalb der Tische, montierte Wandregale reihten sich Behälter unbekannten Materials, gefüllt mit Kräutern und Pülverchen, unbekannter Herkunft. Bei manchen Zutaten war Karl froh, nicht zu wissen, was in den Kästchen war.
Das würde ich lassen, wenn ich du wäre!“ Die Worte zischten ihm ins Ohr. Im gleichen Moment legte sich eine kalte, knochige Hand auf seine Schulter. Karl wirbelte herum.
Vor ihm ragte eine gebeugte Gestalt in die Luft. Eine Hand auf seiner Schulter, mit der anderen stützte sie sich auf einen, mit komplizierten Mustern reichlich versehenen, Holzstab.
Die Person beugte sich zu ihm herunter. Dabei verrutschte die Kapuze des Umhangs. Kurze schwarze Haare bedeckten eine leicht gerunzelte Stirn. Tiefe Falten verrieten dies als ihre Standardhaltung. Eine schmale, kerzengerade Nase und ein spitzes Kinn vollendeten das Erscheinungsbild. Doch das herausstechendste Merkmal waren die Augen. Azurblau wie der Himmel und in diesem Moment schienen sie von innen heraus zu leuchten. Der Blick dieses Menschen bohrte sich in Karls Augen, wie ein Pfeilhagel. Er hielt diesem Blick nicht lange stand und schaute betreten zu Boden.
"Das Labor ist für dich verboten!" Der Zauberer, als diesen entpuppte sich die Gestalt, schrie nicht. Es war bloß ein Flüstern. Doch jedes einzelne Wort jagte Karl ein Schauer über den Rücken.
„Ich ... Also ich dachte nur ... Und es war ja nicht ... Ich war nur so neugierig“, stotterte Karl, den Boden als Gesprächspartner.
„Neugier an falsch platzierter Stelle kann eine der gefährlichsten Sachen in der Welt sein. Sei froh, dass ich noch rechtzeitig zurückgekommen bin. Sonst würdest du jetzt mit Eselsohren und Froschbeinen herumspringen.“
Karl war sich nicht sicher, ob das ein Witz war oder ernst gemein. Es blieb ihm keine Zeit, lange darüber nachzudenken, da der Zauberer ihn ruppig von der Tür wegzog und zum Tisch bugsierte. Er klatschte zweimal in die Hände und der Kamin entfachte sich selbst. Den Stab stellte er neben den Tisch. Er blieb kerzengerade stehen, ohne zu wanken. Der Zauberer ließ einen lauten Seufzer hören, als er Karl gegenüber auf dem zweiten Stuhl Platz nahm.
"Ahhh, mein Rücken bringt mich eines Tages um. Wenn du wüstest, was für eine Schinderei es ist, all die Kräuter im Wald per Hand aufzusammeln."
Diese Leier kannte Karl auswendig. Es war zu einem Ritual geworden, quasi ihre persönliche Begrüßung. Wie immer verdrehte er die Augen, achtete aber sicherheitshalber darauf, dass der Zauberer es nicht bemerkte.
Der Zauberer massierte theatralisch seine Schultern und fragte:"Also Junge, warum bist du heute hier? Hoffentlich nicht nur um herumzuspionieren, meine Arbeit zu stören und einen endlosen Strom an Fragen auf mich herabregnen zu lassen."
"Ich hab nicht spio...", fing Karl an, sich zu verteidigen, aber das Schmunzeln seines Gegenübers zeigte ihm, dass es keine ernste Anklage war.
"Meine Mutter hat mich geschickt", versuchte er, schnell das Thema zu wechseln.
"So so, deine Mutter. Und was braucht deine Mutter diesmal? Schnittwundensalbe? Keuchhustenpastillen oder doch bloß die schmerzenden Knöchelwickel?"
Während der Zauberer die Heilmittel aufzählte, schien es Karl, als ob schemenhafte Abbilder der genannten Arzneimittel über dem Tisch schweben würden. Er blinzelt einmal und die Schatten waren verschwunden. Waren sie je da gewesen?
"Sie hat mir nur gesagt, dass sie eine Tinktur bestellt hat."
"Ah ja, ich errinnere mich." Der Zauberer nickte bedächtig. Er tippte in einem merkwürdigen Rhythmus auf den Tisch. Karl hörte ein dumpfes Röhren, gefolgt von einem lauten, hellen Klingen. Eine Öffnung im Tisch erschien und der Zauberer nahm eine winzige Flasche heraus.
"Für dieses Rezept habe ich lange ackern müssen. Pass auf das die Flasche nicht verloren geht. Für noch eine habe ich in dieser Gegend nicht genügend Zutaten und deine Mutter wäre sehr wütend, wenn sie diese Flasche nicht bekommt."
"Wofür ist sie denn?",fragte Karl.
"Falls sie funktioniert, wirst du den Nutzen früh genug selber herausfinden."
Typisch Zauberer, dachte Karl. Einmal eine normale Antwort. Ist das zu viel verlangt?
"Dann behalt deine Weisheiten für dich, alter Mann!", meinte Karl etwas pampig.
"Wen nennst du hier alten Mann!", fing der Zauberer aufbrausend an, doch Karl war schon an der Eingangstür.
„Ich muss wieder zurück“, flötete er. „Mein verpasstes Frühstück ruft mich. Aber ich komm heute Abend wieder vorbei.“
"Und wer hat gesagt, dass du eingeladen bist. Du kleiner, vorwitziger Balg!"
Der Zauberer fing an Gefallen daran zu finden, sich in eine künstliche Rage zu steigern. Karl hörte ihn durch die Tür von draußen. So viele Fluchwörter auf einmal hatte er noch nie gehört.
Karls Gedanken wanderten zu seinem wohlverdienten Frühstück und die Vorfreude auf einen langen Abend mit dem Zauberer beflügelte seinen Schritt. Ein erlebnisreicher Tag lag vor ihm.