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Der Junge mit den schwarzen Haaren
Es war Winter. Der kalte Wind schnitt sich durch alles und jeden durch ohne auf Alter oder Stand zu achten. Ihm war es schlichtweg egal. Man spricht von dem größten Schneefall seit Jahren – soweit er weiß. Der kleine Junge mit der roten Mütze machte sich auf den Weg in die Schule. Finn. Schon jetzt spürte er seine Hände kaum noch, doch das kümmerte ihn recht wenig. Die Welt glich dem Puderzucker auf dem Kuchen, den Mama immer für ihn bäckt. Es war faszinierend.
Jeden Morgen lief er los mit dem Wissen es am nächsten Tag zu wiederholen. Er kam an dem hohen Maschendrahtzaun vorbei, hinter dem sich seit einem halben Jahr die Renovierung eines alten Hotels abspielte. Er hatte gehört wie Opa sagte, dass diese Terroristen wieder verschwinden sollen. Finn fragte sich immer noch was „Terroristen“ bedeuten soll. Auch die Proteste vor dem Hotel, gaben ihm zu verstehen, dass dies hier kein guter Ort sein kann.
Doch heute war etwas anders: die Bauarbeiter waren verschwunden, dennoch befanden sich Menschen auf dem Gelände. Sie sahen komisch aus. Ihre Haut war dunkler, die Frauen trugen Kopftücher, viele hatten keine Schuhe. Er hatte Mitleid mit ihnen. Aber er erinnerte sich an die Worte seines Großvaters. Sie sind böse Menschen und bringen Gewalt und Gefahr hier her. Schnell ging er weiter.
Am nächsten Tag ging er wieder an dem Hotel vorbei. Er bemerkte einen kleinen Jungen. Er war ungefähr neun, genau wie er selbst. Trug keine Schuhe, obwohl überall Schnee lag. Hatte dünne, zerfetzte Kleider an. Seine Haare waren schwarz und sein Augen noch viel dunkler. Sie sahen traurig aus und schienen ins Leere zu starren. Als er jedoch Finn sah, machte sich ein Grinsen auf seinen Lippen breit. Die Traurigkeit in seinen Augen war wie weggeblasen. Der Junge mit der roten Mütze ging schnell weiter – die Situation hatte ihm Angst gemacht. Opa hatte Recht. Sie sind seltsame Gestalten und – anders.
Es vergingen Tage, Wochen. Jeden Morgen ging Finn an dem Zaun vorbei und jedes Mal stand der Junge mit den schwarzen Haaren dort und grinste ihn an. Irgendwann besuchte er Opa, erzählte ihm von dem Zaun, dem Heim und schließlich von dem Jungen. Opa diskutierte lange mit Mama in der Küche. Am Tag darauf und auf dem darauf fuhr ihn seine Mutter in die Schule. Tag für Tag und der Junge an dem Zaun war vergessen.
Eines Tages jedoch wurde seine Mutter krank und er musste wieder zur Schule laufen. Der Junge stand nicht mehr am Zaun. Er war zu gleich erleichtert und enttäuscht. Es war als würde ein Freund verschwinden ohne Lebewohl zu sagen. Ein Freund, der eigentlich ein Fremder ist. Geknickt ging er in die Schule.
Als er seine Jacke vor dem Klassenzimmer aufgehängt hat und sich gerade zu seinem Platz am Fenster in der dritten Reihe begeben wollte, sah er ihn. Der kleine Junge mit den schwarzen Haaren saß auf dem Platz neben ihm. Er hatte jetzt ein paar Schuhe und einen dicken grünen Pullover an. Was sollte er tun? Er befand sich im Zwiespalt. Sollte er auf Opa hören und ihn wie einen unangenehmen Gast behandeln oder sollte er einfach seinem Instinkt folgen und aus dem Fremden einen Freund zu machen? Er stand wie angewurzelt in der Tür und überlegte panisch, was er tun sollte. Es klingelte. 8:00 Uhr. Seine Lehrerin tauchte hinter ihm auf und schob ihn zu seinem Platz. Bevor er sich entscheiden konnte, was er tun soll, drehte sich der Junge zu ihm und sagte: „Hallo ich bin Nadim.“