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Der Junge mit den Gummibärchen

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05.01.2015
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Der Junge mit den Gummibärchen

I.​

Das Motorengeräusch des Busses dröhnt und übertönt alles andere. Es ist schon dunkel draußen. Rücklichter, Scheinwerfer, Ampeln, Straßenlaternen und Ladenschilder sind die einzigen Lichtquellen. Ein leiser Regen hinterlässt verschwommene Striche auf den Fenstern. Der Bus ist voll, aber niemand sagt etwas.

Der Bus hält und ein Mann mit Brille, spärlichem Haar und Aktentasche steigt ein. Groß und stattlich ist seine Statur, aber das Gesicht ist eines, das man nicht wieder erkennt.

Gedankenverloren zeigt er dem Busfahrer seinen Fahrschein. Dann setzt er sich in die Mitte des Busses, die Aktentasche auf den Knien. Er schaut aus dem Fenster. Der Bus fährt wieder; Lichter ziehen über die Scheiben hinweg. Sein Name könnte Christian sein, er könnte aber auch vollkommen anders heißen. Der Bequemlichkeit halber, wollen wir ihn in dieser Geschichte Christian nennen.

Christian kommt von der Arbeit. Er ist der Leiter einer Schule, aber er hat nur wenig mit seinen Schülern zu tun. Im Moment ist er besorgt wegen etwas, das sehr wichtig zu sein scheint. Morgen wird es durch etwas anderes ersetzt werden, das ebenso wichtig ist.

Christian trägt einen schlichten Ehering. An seine Anzugschuhe klammert sich frischer Dreck, aber es ist offensichtlich, dass sie regelmäßig geputzt werden. Die Hose ist gebügelt, das Sakko sitzt. Christian ist ein ordentlicher Mann, dessen Leben geregelt und im ewig gleichen Takt eines Metronoms vor sich hin tickt. Er ist, was manche einen Spießer nennen würden.

Bei der nächsten Haltestelle steigen ein Mann und eine Frau ein. Der Mann hat eine Fahrkarte, die Frau muss eine kaufen. Die beiden zeichnet eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit aus, wie sie bei einigen Paaren nach langem Zusammensein zu beobachten ist. Ihre Haltung, ihr Gang, die Art und Weise wie sie sich prüfend im Bus umschauen und nach zwei Sitzplätzen Ausschau halten. Es sind keine Zweiersitze mehr frei. Die Frau setzt sich schließlich hinter Christian, ihr Mann nimmt auf seiner Höhe platz.

Die Frau sagt: „Hier kann man sich gar nicht überall hinsetzen, weil der zu fett ist.“ Sie deutet auf einen jungen Mann mit stoppeligem Kopf, der in einem Viererabteil tatsächlich zwei Sitze für sich beansprucht. Ihre Stimme – der tadelnde Sopran einer unzufriedenen Stiefmutter – ist lauter als das Dröhnen des Busses. Ihr Mann nickt nur, nach vielen Jahren hat er gelernt, seine Frau sprechen zu lassen, sie nicht zu bremsen oder ihr zu widersprechen. Christian scheint sich über die grobe Art der Frau zu ärgern – aber auch über die Gleichgültigkeit des Mannes.
J
etzt sagt sie: „Ist aber ziemlich super gelaufen heute. Überhaupt kein Stress, hat alles gepasst. Dann noch ein kaltes Bier. Was will man mehr.“ Wieder nickt ihr Mann; er schaut nach vorne und als der Bus über ein Schlagloch fährt, wird sein willenloser Oberkörper durchgeschüttelt. Kurz ist das Dröhnen wieder das dominante Geräusch. 
Dann: „Meinst du, Tobias unterzeichnet den Vertrag?“ „Ich weiß es nicht“, antwortet der Mann. „Das wär’ so geil! Dann wär’ der Tag echt perfekt.“ Sie lacht. Christian lehnt seinen Kopf gegen die Scheibe, als ob er wehtut.

Bei der nächsten Haltestelle steigen drei Jungen ein; sie sind etwa 20 Jahre alt. Sie alle tragen die gleiche Frisur. An den Seiten sind die Haare kurz geschoren, oben lang und nach hinten gegelt. Auch ihre Klamotten ähneln sich auf fast komische Art und Weise. Es ist offensichtlich, dass die drei viel, vielleicht ihre gesamte Zeit miteinander verbringen. Wie zuvor bei dem Ehepaar, sind ihre Bewegungen und Blicke die einer einzigen Person. Einer der Jungs – er ist der kleinste von ihnen – hat eine Tüte Gummibärchen in der Hand.

Keiner von ihnen muss ein Ticket kaufen und sie kommen, wie eine kleine Parade, mit ernsten Gesichtern den Gang entlang. Kurz bevor er Christian erreicht, stolpert der Junge mit der Gummibärchentüte. Die Gummibärchen fliegen durch das schummrige Licht und landen wie bunte Kieselsteine auf dem Boden des Busses, in Schößen von Passagieren und im Gesicht der Frau, die hinter Christian sitzt.

Christian hat den Jungen gepackt und festgehalten, sonst wäre auch der Junge auf dem Boden gelandet. Seine beiden Kollegen drehen sich um, in ihrem feierlichen Umzug gestört. Dann lachen sie. Die Frau hinter Christian hat aufgeschrien und wischt sich jetzt mit grimmiger Miene die Gummibärchen aus dem Schoß. Der Gestolperte murmelt ein „Entschuldigung“ in die Runde, dann nickt er Christian zu und lächelt ein bisschen. Kurz hatten die Passagiere ihre Blicke auf das Ereignis gewendet, doch jetzt starren sie ebenso gedankenlos wie zuvor nach draußen oder auf die Lehne vor ihnen. Hinten im Bus kann man noch einige Minuten das Lachen der beiden anderen hören, das in unregelmäßigen Wellen mal zunimmt, mal leiser wird und manchmal komplett verstummt.

II.​

Der Regen ist zu Schnee geworden. Unmengen von winzigen Flocken kommen endlich, nach langer Reise mit hoffnungsfrohen Gesichtern am Boden an. Doch in den Pfützen des Regens und auf den nassen Straßen leben sie nicht lange. Sie alle treiben langsam, vom Wind hin und her geschaukelt dem Tode entgegen.

Es ist schon dunkel. Christian wischt sich mit der Hand über den Kopf. Er mag es nicht, wenn Schneeflocken auf seiner Kopfhaut landen. Natürlich ist er ordentlich angezogen, als er durch den Schlosspark geht. Außer ihm scheint niemand dort zu sein. Das Schloss wird von mehreren Scheinwerfern angestrahlt wie ein Dieb, von der Polizei auf frischer Tat ertappt. Es hebt sich stark gegen den violett-blauen Himmel ab. Christian geht schnell und würdigt es keinen Blickes; er hat es schon viel zu oft gesehen. Seit dem Ereignis im Bus ist ein Tag vergangen.

In einem dunkeln Teil des Parks – das Schloss liegt schon recht weit zurück – wird Christian von drei Gestalten überrascht, die sich vor und hinter ihm aufbauen. Er weiß, was das bedeutet. Es sind nur Schemen, aber es scheinen Jugendliche zu sein. Jugendliche, wie Christian jeden einzelnen Tag mit ihnen zu tun hat – und fertig wird.

Er sagt: „Also, sagt mir gleich was ihr wollt. Ich habe fast nichts dabei, das euch interessieren würde.“ Er hebt seine Aktentasche und schüttelt sie. Es raschelt. „Nichts drin.“

Einer der beiden Schatten kommt ihm sehr nahe. Jetzt kann Christian sein Gesicht erkennen. Es ist einer der drei Jungen. Der größte von ihnen, aber immer noch kleiner als Christian. Er hört den Atem des Jungen, sieht dessen Augen, die versuchen ihn einzuschüchtern. Der Junge blickt kurz nach unten, Christian folgt seinem Blick und sieht ein Messer. Ein Küchenmesser, das kurz und erbärmlich in der Hand des Jungen wirkt. Aber – ein Messer.

Der Junge sagt: „Gib uns alles: Handy, Portmonee, Uhr. Alles. Und denk nicht, dass du irgendeine Scheiße abziehen kannst.“

Christian: „Gut.“ Er nimmt seine Uhr ab – keine teure, aber ein Geschenk seiner Frau. Dann reicht er das Portmonee. „Mein Handy ist sehr alt, ich glaube nicht, das es euch was nützt, und in der Tasche sind nur Papiere. Ihr könnt nachschauen.“

Der Junge: „Gib das Handy trotzdem her!“ Die anderen beiden Jungs treten näher heran; Christian kann es hören und sehen. Er spürt ihre Präsenz, ihre Bereitschaft im Zweifelsfall sofort zu reagieren.

Christian: „Schon gut.“ Er reicht das Handy. Es ist tatsächlich uralt. Der Junge nimmt es, mustert es und schmeißt es in das Dunkel zwischen den Bäumen. Christian schaut zu. Er lässt alles ruhig über sich ergehen. Dann versetzt der Junge ihm einen Schlag in die Magengrube. Er sackt zusammen, hustet, die drei Jungen verschwinden. Nur eine Gestalt, die kleinste von den dreien zögert. Sie bleibt kurz über dem Mann stehen, schweigt. Es ertönen Rufe, dann ist auch sie verschwunden.

Christian atmet ein und aus. Es ist vollkommen still. Der Schnee segelt weiterhin zur Erde und löst sich auf, das Schloss steht reglos abwartend wie zuvor. Er liegt auf der Straße und die Flocken lassen sich auf ihm nieder, auf seiner gebügelten Hose, seinem gut sitzenden Sakko und seinem haarlosen Kopf.

Erst nach einer Weile steht er auf, klopft sich ab, nimmt seine Tasche und geht nachhause. Er geht schleppend, wie ein verwundeter Soldat.

III.​

Christian steigt in den Bus, das Gesicht in Sorge, die Aktentasche in der Hand. Er setzt sich in die Mitte des Busses. Es dröhnt. Draußen ist es dunkel – ein wolkenloser, schwarzer Himmel. Eine durchdringende Kälte kratzt an den Fenstern des Busses und stiebt durch die Türen, sobald sie sich öffnen. Draußen, in der schummrigen kalten Luft, wirken alle Formen verwischt und konturlos. Niemand spricht.

Eine alte Frau steigt ein. Sie muss kein Ticket kaufen. Sie trippelt durch den Mittelgang an den Fahrgästen vorbei und bleibt bei einem Mädchen von etwa 17 Jahren stehen. Das Mädchen hört Musik; sie wirkt wie in Trance. Die alte Frau schaut sie an und wartet. Nach wenigen Sekunden bemerkt das Mädchen den Blick der Frau. Sie erschrickt, obwohl er nicht unfreundlich ist, sondern eher ironisch. Übereilt steht sie von ihrem Sitz auf und macht der alten Frau platz. Diese lächelt, streicht sich durch das silberne Haar und setzt sich mit einem leisem Seufzer hin. Das Mädchen ist bald wieder in ihre Trance versunken.

Bei der nächsten Haltestelle steigt ein Junge mit einem Rucksack ein. Christian erkennt ihn. Es ist der Stolperer, der Räuber und Zögerer. Christian presst die Kiefer zusammen, er steht auf, stellt sich dem Jungen in den Weg. Dieser schaut zunächst an Christian vorbei, dann zu ihm hinauf. Die Gereiztheit und Verwunderung in seinem Gesicht wird blitzartig durch Schrecken ersetzt. Unwillkürlich schaut der Junge sich um.

Christian: „Tja mein Freund, hier kommst du nicht raus. Das ist wohl ein bisschen ungünstig für dich verlaufen, hm? Heute nicht mit den anderen beiden unterwegs?“

Junge: Schweigen

Christian: „Wir werden gleich aussteigen, dann rufe ich die Polizei.“

Junge: Schweigen

Christian: „Versuch nicht wegzulaufen.“

Christians tiefe, entschiedene Stimme ist die eines Schulleiters, der keine Widerrede duldet. Er fasst den Jungen nicht an, doch er ist jederzeit bereit, ihn zu packen. Der Bus hält, die beiden steigen aus. Der Junge zuerst, Christian folgt. Es ist eine umbefahrene Straße in einer verschlafenen Wohnsiedlung. Er zieht sein Handy; es ist neu, aber ein längst eingestelltes Modell. Er spricht mit der Polizei, nennt Namen, Ort und fasst kurz zusammen, was vorgefallen ist. Er wendet sich wieder dem Jungen zu.

Christian: „Sie werden gleich da sein.“

Junge: Schweigen

Sie warten. Der Junge wirkt beschämt, sein Blick wandert ziellos umher, bleibt an Straßenlaternen hängen oder an geblümten Vorhängen, die einen Eindruck von den im Haus lebenden Personen vermitteln. Christian mustert ihn mit nachdenklichem Blick. Der Junge hat volle Wangen, lange Wimpern und seine Unterlippe hängt ein bisschen nach unten, wie bei einem schmollenden Kind. Sein Blick ist aufmerksam, aber unbeteiligt. Kein unfreundliches Gesicht. Es vergehen einige Minuten.

Dann stellt der Junge, weiterhin unbeteiligt, als würde auf den Bus warten, seinen Rucksack vor sich hin, öffnet ihn und holt eine Gummibärchentüte heraus. Er öffnet die Tüte, richtet sich auf und grinst ein bisschen. Er hält Christian die Tüte hin. Christian lächelt und nimmt ein paar. Während sie beide essen, mustert er weiterhin mit nachdenklichem Gesicht den Jungen. Schließlich reißt er sich los; er scheint einen Entschluss gefasst zu haben.

Christian: „Mach das nicht mehr“, er zögert, „Überfälle meine ich. Das ist doch vollkommen idiotisch, so kannst du nur in Schwierigkeiten kommen. So wirst du nie aus deinem Loch rauskommen, verstehst du?“

Der Junge schaut ihn an und nickt kurz als Antwort. Christian wartet einen Moment.

Dann: „Also geh schon.“ Er weist mit dem Kopf in eine Seitenstraße. Der Junge bleibt skeptisch stehen.
Christian: „Na hau schon ab, die Polizei lässt nicht mehr lange auf sich warten.“ Er lächelt, der Junge schaut ihn wachsam an, dann lächelt auch er. Ein leises „Danke“, er schultert seinen Rucksack, reicht Christian mit einer angedeuteten Verbeugung die Gummibärchentüte und läuft davon.

Christian bleibt verlassen an der Haltestelle zurück. Er steckt sich gedankenverloren die leicht gefrorenen Gummibärchen in den Mund, blickt auf die beschaulichen Häuschen, die die Straße säumen und wartet auf die Polizei. Sein Gesicht ist so besorgt wie zuvor.

 

Hallo Robinson,

damit Du nicht zu einsam bleibst, auf welcher Insel auch immer Du Dich gerade befinden magst, begrüße ich Dich im neuen Jahr ebenso wie bei den Wortkriegern.

Ich habe mir deine Geschichte jetzt ein paar Mal durchgelesen und finde sie gut formuliert und außer ein paar Flüchtigkeiten sind mir auch noch keine groben Fehler aufgefallen.

Allerdings ist sie mir ein wenig zu banal. Versteh' mich bitte nicht falsch! Die Grundidee kann ich gut nachvollziehen, ich meine, sie könnte auch eine Geschichte wert sein.

Das Problem für mich ist, dass sie trotz - oder vielleicht auch wegen - sauberer Sprache zu belanglos dahin plätschert.

Schon beim Einstieg musste ich mich nach den ersten drei Absätzen fast ein wenig überwinden, weiterzulesen. Du baust eine allzu bekannte Stimmung auf: Grau, öde, depressiv, problembeladener Protagonist ... und verzettelst dich darin ein wenig zu sehr, beim Leser ein Bild zu erzeugen, das m. E. wenig Relevanz hat.

Erst als das Paar einsteigt kommt Bewegung auf, tauchen Fragen auf, die mich weiterziehen, auf die ich mir eine Antwort erhofft hatte.

So führst du es ein als älteres Ehepaar, das zunächst die kalte Atmosphäre im Bus mit der Tristesse ihres Ehelebens ergänzt.

Aber dann dachte ich mir auf einmal: "Hoppala - hier beißt sich was!" Im positiven Sinne gemeint, denn irgendwie passte die Sprache in den Aussagen der Frau nicht zu dem Bild, das du durch Deine Hinführung in mir erzeugt hattest. Bissig, aufmüpfig schien sie mir plötzlich, mit ihrem fast schon jugendlich anmutendem Jargon ("... kein Stress", ... so geil!"). Dann der Verweis auf einen ominösen "... Vertrag", vielleicht sogar ein wenig Hinterlist?

"Was sind das denn für Typen? Was wird daraus?", fragte ich mich und las weiter. Und war enttäuscht, dass die erste Stelle, die ich spannend fand, so gar keine Relevanz für den Verlauf der Geschichte hatte.

Beim Überfall im Park mühst du dich wieder etwas zu weitläufig um ein blümerantes Bild der Stimmung, füllst mit einer Reihe verzichtbarer Adjektive und teils verzichtbaren Informationen. Nacht, Dunkel, okay: Schnee statt Regen, einsamer Park: Das ist ein Bild das keinerlei ausführlicher Beschreibung bedarf, da zu bekannt, zu selbsterklärend, zu häufig inszeniert.

Die Tat als solche hingegen hätte vielleicht etwas mehr Dramatik verdient.

Im dritten Abschnitt wieder: eine schöne Sprache. Und doch entnehme ich den ersten beiden Absätze wieder keine Relevanz. Sind einfach nur Szenen aus dem Bus, die die Handlung in keiner Weise beeinflussen, die ein Bild in mir erzeugen, das belanglos ist. Ob düstere nasskalte Nacht oder sommerlicher Sonnenschein: der weitere Verlauf würde mir weder mehr noch weniger Dramatik, Überraschung, Interesse implizieren.

Du schreibst gut, kannst gut Bilder erzeugen und hast dir sicher Mühe gemacht in Deinen Formulierungen, hast aber dabei übersehen, dass deine Geschichte Gefahr läuft, "in Schönheit zu sterben".

Ich versuche, Dir hier einen Anstoß in eine Richtung zu geben, Deine Fähigkeiten, die Du zweifellos hast, gezielter einzusetzen. Geschliffene Formulierungen sind nicht zwangsläufig interessant. Ebenso wie eine nachvollziehbare Handlung alleine nicht automatisch Lesevergnügen bereitet.

Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn Du dran bleibst!

Viele Grüße
oisisaus

 

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