Der Junge mit dem Apfel
Der Junge mit dem Apfel
Paula öffnete ihre Augen. Sehr merkwürdig erschien ihr der Traum, der sie in dieser Nacht aufgesucht hatte, um ehrlich zu sein, nicht zum ersten Mal. Sie war schön, sogar noch schöner als Judith, hatte ein zauberhaftes Gesicht, eine gute Figur, wunderschöne strahlend weiße Zähne, volle knallrote Lippen, gepflegte Fingernägel, schlanke lange Beine, voluminöse geschwungene Wimpern und eine Haut, die so sanft schien, wie dieser duftende Frühlingsmorgen . Die Jungs aus ihrer Klasse lagen ihr zu Füßen, ja, sogar der hübsche, bei allen Mädchen beliebte, unerreichbare Kai aus der zehn b äußerte den Wunsch, mit Paula ins Kino zu gehen. Ein Gefühl der Begehrtheit, dass sie noch niemals zuvor in ihrem Leben zu spüren bekam. Doch alles nur ein Traum?
Paula streckte sich, gähnte einige Male und kletterte aus dem Hochbett. Draußen schien die Sonne, auf dem Spielplatz vor dem Haus spielten einige Kinder Fange und im selben Moment kehrte Paulas Mutter mit drei mit Lebensmitteln gefüllten, mittler-weile grau gewordenen Stoffbeuteln vom Einkaufen zurück. Sie warf einen Blick zu dem Fenster der jüngsten Tochter, lächelte ihr zu und lief rasch in den erst vor einigen Jahren restaurierten Altbau. Inzwischen stand Paula vor dem großen Spiegel im geräumigen Badezimmer: tatsächlich, das, was sie vor einigen Minuten als Traum identifiziert hatte, hatte tatsächlich nichts mit der bitteren Wirklichkeit zu tun. Paula erkannte sich wieder. Die brünetten Krausehaare setzten wie jeden Morgen ihren eigenen Willen durch, die zwei eitrigen Pickel auf der knolligen Nase, die dem Mädchen seit Tagen das Leben schwer machten, hatten sich immer noch nicht verabschiedet, ebenso das Herpes links über der schmalen Oberlippe. Es war doch nun wirklich kein Wunder, dass niemand, wirklich kein einziger Mensch, geschweige denn ein Junge, etwas von ihr wissen wollte.
"Kannst du dich nicht einmal beeilen? Ich hab heute noch was vor!"
Es war die stimme der hübschen älteren Schwester Judith.
"Dadurch, dass du stundenlang vor dem Spiegel stehst, wirst Du auch nicht schöner, und das mit Kai kannst du eh vergessen! Der steht nun mal nicht auf 14 jährige Streber! Nun mach endlich die blöde Tür auf!"
Mit Tränen in den Augen rannte Paula aus dem Badezimmer vorbei an Judith, weg von den ewigen Beleidigungen, weit weg von den eigenen Zweifeln. Sie rannte aus der Wohnung das verqualmte Treppenhaus hinunter, lief vorbei an der alten Schule. Überall waren diese verachtenden Blicke, die sie pausenlos anstarrten, überall lachende Gesichter, die nicht aufhörten sich lustig zu machen, überall Geflüster und Getuschel.
Plötzlich blieb das Mädchen stehen. Jemand hatte ihren Namen gerufen. Paula sah sich um, schaute in alle Himmelsrichtungen, blickte auch hoch zu den Balkons der sie umringenden Häuser, niemand zu sehen. Langsamen Schrittes setzte das Mädchen ihren Weg fort. Nur wenige Sekunden vergingen, als sie wieder ein Geräusch vernahm. Wer sollte nur ihr heimlicher Verfolger sein? Die Stimme deutete auf ein Kind hin, doch welches Kind in der Nachbarschaft sollte denn Paulas Namen kennen und vor allem woher? Das Mädchen blieb erneut stehen und drehte sich rasch um. Nur wenige Meter hinter ihr stand ein kleiner Junge mit einem Apfel in der Hand und starrte Paula mit den großen blauen Augen an. Sie hatte ihn schon einmal irgendwo gesehen, vielleicht beim Einkaufen oder auf dem Spielplatz vor ihrem Haus. Er war neun, höchstens zehn Jahre alt, etwa einen Kopf kleiner als Paula und trug ein verkehrt herum aufgesetztes rotes Basecap.
"Ich hab dich rennen gesehen. Warum weinst du denn?", fragte der Junge besorgt. Was sollte sie denn darauf antworten? Sollte sie sagen, dass sie sich so hässlich fühlt, dass niemand sie leiden kann und, dass ihre eigene Schwester sie laufend fertig macht?
"Ähm, wer, wer bist du? Und ... woher weißt du, wie ich heiße?”, brachte sie stotternd hervor.
Der Junge hatte mittlerweile ein breites Grinsen auf dem Gesicht, näherte sich Paula und streckte ihr seine rechte Hand zur Begrüßung entgegen.
“Ich bin Martin Maximilian Meiko. Für dich Max. Mein Bruder geht mit dir auf die gleiche Schule. Ich habe gesehen, wie du aus deinem Haus gerannt bist und wollte wissen, warum. Was ist denn passiert?”
Paula war irritiert. Warum wollte der fremde Junge wissen, was sie für Probleme hatte? Vielleicht wollte auch er sich lediglich über sie lustig machen. Jedoch machte Max einen freundlichen und durchaus verständnisvollen Eindruck, sodass das Mädchen ihr Leid mit dem Jungen teilte...
“Das verstehe ich nicht.”, sagte der Junge. “Es ist doch egal, was die Anderen von dir
halten! Ich finde dich jedenfalls gar nicht hässlich! Außerdem bist du sehr nett!”
Paula verstand die Welt nicht mehr. Ein zehnjähriges Kind gab ihr Ratschläge!
“Was verstehst du denn schon davon? Du bist doch viel zu jung! Ich bin nicht nett und schon gar nicht hübsch, sonst hätte ich doch Freunde!”
Erneut war Paula den Tränen nahe.
”Weine doch bitte nicht! Weißt Du, mein Bruder, der findet sich auch nicht schön. Er meint, er hätte eine zu große Nase. Manchmal, da sitzt er tagelang zu Hause und schaut aus dem Fenster. Er beobachtet die anderen Kinder, und ich glaube, er beneidet sie. Er beneidet sie deshalb, weil sie nicht auf ihr Äußeres achten. Es ist ihnen nämlich egal, ob der eine oder andere krumme Zähne hat, zu große Füße oder Ausschlag. Eigentlich ist doch jeder Mensch gleich! Auch Du unterscheidest dich nicht von allen anderen! Du wirst schon sehen, man wird noch deine wahre innere Schönheit erkennen! Außerdem könnte ich doch dein Freund werden!”
Max reichte Paula seinen Apfel.
”Danke, iss den mal selbst! Ja, warum nicht! Von mir aus können wir Freunde sein! Ich heiße Paula, aber das weißt du ja schon. Wollen wir Basketball spielen gehen? Letzte Woche haben sie einen neuen Korb angebracht bei uns neben dem Spielplatz!”
Der Junge biss kräftig in den glänzend roten Apfel, schaute noch einmal lächelnd zu Paula und reichte ihr seine Hand. Max hatte recht. Es spielte eigentlich keine Rolle, wie man aussah, denn Freunde kann man nicht mit dem äußeren Erscheinungsbild bestechen. Entweder sie erkennen die Seele des einzelnen Menschen oder sie laufen weiterhin blind durch die Gegend, blind vor Eitelkeit, Arroganz und Neid.
“Sag mal, wie heißt dein Bruder eigentlich?”, fragte Paula.
“Kai. Wieso?”
Max drehte sein Käppi in die entgegengesetzte Richtung, um sich vor der mittlerweile hell scheinenden Sonne zu schützen. Das Mädchen lächelte, genoss die ersten zarten Sonnenstrahlen und freute sich auf das Leben.
“Ach, nur so.”