Der Jäger
Glänzend tauchten die Ruder ins Wasser und erhoben sich kurz darauf wieder. Das Boot des Jägers glitt über den ruhigen See. Die Geräusche des Waldes drangen an das geschulte Ohr des wettergegerbten Mannes. Mit einem Knirschen landete das Boot an der Insel und der Jäger erhob sich. Seine hohen, schwarzen Lederstiefel sanken in den morastigen Boden.
Nun betrat er seine Jagdgefilde und wie immer, wenn eine Jagd bevorstand, begann sein Herz schneller zu schlagen. Der Jäger fürchtete sich. Furcht war eine Emotion, ohne die der Jäger unvorsichtig gewesen wäre und vorsichtig musste er sein. Mit den Kreaturen, die er jagte, war nicht zu spaßen. Viele Trophäen schmückten die Hallen des Jägers und doch würde er es sich niemals erlauben können, eine Jagd zur Routine werden zu lassen.
Der Schlamm machte schmatzende Geräusche, als der Jäger das Ufer verließ. Langsam wurde der Boden fester und der Wald schluckte die finstere Gestalt des Jägers. Der Mann holte einen Bolzen aus seinem Köcher und spannte seine Armbrust. Im schummrigen Licht des Blätterdachs glänzte das Geschoss silbern und grünlich.
Der Jäger hatte schon viele Kreaturen mit ebensolchen Bolzen erlegt und eine war gefährlicher gewesen als die andere. Doch die meisten waren nichts im Vergleich zu dem, was im heute bevorstand. Um die Kreatur, die er jagte, zur Strecke zu bringen, brauchte es nicht nur eine geschickte Schusshand sondern auch Raffinesse. Der Jäger besaß diese Raffinesse, das hatte er schon unter Beweis gestellt, doch ihm durfte nicht der kleinste Fehler unterlaufen, sonst wüssten nur die Götter, was aus ihm werden würde.
Der Schrei eines Vogels ließ den Jäger herumfahren. Seine Augen verengten sich und er musterte seine Umgebung, doch im Dickicht fiel ihm nichts ungewöhnliches auf. Er schlug sich weiter durch das Unterholz. Seine Nerven waren zum zerreißen gespannt und seine Sinne waren aufs Äußerste geschärft.
Ein Ast knackte nur wenige Meter entfernt. Der Jäger sprang lautlos und mit erhobener Armbrust um einen Baum. Nun sah er auch, was das Geräusch verursacht hatte. Auf dem bemoosten Waldboden stand ein kleines Mädchen in einem schmutzigen blauen Kleidchen. Die Augen des Kindes waren von Tränen aufgequollen und leises Schluchzen drang aus seiner Kehle. Der Jäger zögerte einen Moment, dann ließ er seine Armbrust sinken. Er trat auf das Mädchen zu und es blickte auf.
„Was machst du so tief im Wald und noch dazu auf einer solchen Insel?“, fragte der Jäger mit rauer, tiefer Stimme.
„I- Ich habe mich verlaufen, werter Herr“, antwortete die Kleine.
Der Jäger grinste:
„So? Verlaufen? Wo sind denn deine Mama und dein Papa?“
„Ich habe keine Eltern“, sagte das Kind und senkte traurig den Blick. „Aber sagt, guter Herr, wer seid ihr?“
Der Jäger lachte und antwortete:
„Du bist gut erzogen für ein so kleines Mädchen, das auch noch alleine im Wald umherirrt und keine Eltern hat. Man nennt mich den Jäger. Ich jage die schrecklichsten Kreaturen, die du dir nicht einmal in deinen Alpträumen ausmalen kannst.“
„W- was jagt ihr denn?“, stotterte das Mädchen verängstigt.
Sie deutete auf den Silberbolzen in seiner Armbrust und fragte zitternd:
„Werwölfe? Vampire?“
„Oh, nein!“, erwiderte der Jäger. „Weitaus gefährlicher, aber auch nicht so groß und stark.“
„Welche Kreaturen könntet ihr mit einem silbernen Bolzen jagen, wenn nicht Werwölfe oder Vampire?“
„Mein Kind, dies ist kein gewöhnlicher Silberbolzen. Er ist mit einem starken Zauber belegt, der selbst die gefährlichsten aller Kreaturen tötet.“
„Wenn ihr solch mächtige Waffen habt, so sagt, wie grausig kann diese Kreatur sein, die ihr jagt?“
„Du törichtes kleines Scheusal“, rief der Jäger und riss seine Armbrust hoch. „Ich jage dich!“
Der Bolzen traf das Herz des Mädchens, noch bevor es reagieren konnte. Schwarzes Blut sprenkelte den Waldboden und tränkte das kleine, blaue Kleidchen. Der winzige Körper schlug auf dem Boden auf und das Gesicht verzerrte sich, verlor alle Farbe, wurde grau. Das kleine Mädchen verwandelte sich in eine abstoßende Kreatur, übersät mit Falten. Die Augen der Moorhexe – denn das war sie, eine Moorhexe – waren weiß und Hohl und aus dem vor Schreck geöffneten Maul ragten spitze Zähne, die faulig und schwarz vor sich hin gammelten.
Der Jäger zerrte das Wesen zu seinem Boot. Seine Auftraggeber brauchten einen Beweis für die erledigte Arbeit. Er legte ab und freute sich schon auf seine Belohnung. Ein Sack voll Gold wartete auf ihn.
Ein ganz gewöhnlicher Tag im Leben des Jägers war überstanden.