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Der Jäger und die Beute
Es bewegte sich nicht mehr. Seit Tagen verfolgte er Es jetzt. Sein Ziel hatte sich merkwürdig verhalten, war immer in eine Richtung gegangen, quer durch den schier endlosen Wald, der sich um ihn herum erstreckte. Hatte Es ihn bemerkt? Nein, Flucht, oder viel wahrscheinlicher ein Angriff, wäre die Folge gewesen. Aber Es war nur stehen geblieben, schien zu warten oder Ausschau zu halten.
Ein seichter Regen hatte eingesetzt, was ein Anschleichen erleichtern sollte. Er war nicht mehr weit entfernt. Er war in der Lage Es zu spüren, wusste genau, wo Es war. Hatte er seine Beute aufgespürt, konnte sie sich nicht mehr vor ihm verbergen. Darum war er Jäger.
Er lehnte gegen einen der Nadelbäume, die sich allesamt kahl in die Höhe streckten, mit einer schmalen Krone, die sich zusammen wie eine Decke über ihn legte und dabei fast jedes Licht vom Boden fern hielt.
Das Wasser lief ihm vom Leib, kleine Rinnsale bildeten sich in den tiefen Furchen seines wettergegerbten Gesichts. Mit Mühe hielt er seinen Körper davon ab, zu zittern; seine Atmung hatte er beruhigt. Nichts sollte riskieren, seine Beute aufzuschrecken, zumal er nie wusste, wie genau die Bestien ihn wahrnehmen konnten.
Langsam schlich er voran. Bis er Es sehen konnte, als Schemen in der Ferne. Näher und näher. Dort stand die Kreatur, aufrecht, ihm abgewandt. Details waren nicht zu erkennen, Es schien jedoch einen alten Mantel zu tragen, der seine Gestalt verbarg. Beachtung schenkte ihm das Biest nicht, also weiter, bis er fast hinter seiner Beute war. Der Jäger spürte wie sein Herz rasen wollte, auch nach all der Ausbildung, all den Jagden, die er zu Ende gebracht hatte. Und wie so viele Male zuvor, hielt er seinen Puls unter Kontrolle.
Es hatte sich noch immer nicht bewegt, schien in die andere Richtung zu spähen. Er war jetzt fast in Reichweite. Fast unbewusst schärfte er erneut seinen Geist, ja, direkt vor ihm, so nahe, so hell, so … schal? Irgendwie trüb. Er konnte dem jetzt keine Beachtung mehr schenken, er war bereits zu nahe gekommen. Seine Hand ruhte auf dem Kurzschwert, das an seiner Hüfte befestigt war.
Er zog es lautlos, atmete ein letztes Mal aus und durchstieß das Biest ohne Gnade, dort wo er das Herz vermutete. Er wartete nicht auf eine Reaktion, er zog das Schwert aus dem Leib des Ungeheuers und sprang zurück. Zeitgleich mit der Landung war er in Stellung gegangen, um gegen mögliche Angriffe gewappnet zu sein.
Die Reaktion der Bestie war ein leichtes Stöhnen, ein kaum merkliches Zusammenfallen seiner Gestalt. Das verunsicherte den Jäger, selbst wenn sein Angriff tödlich gewesen war, hätte seine Beute noch kämpfen oder fliehen sollen, bis Es zu viel Blut verloren hatte und selbst seine unmenschliche Zähigkeit nichts mehr half. Erneut fokussierte er das Monster. Es starb, war bereits fast tot. Und dennoch stand Es dort, ohne große Regung.
Der Jäger vergrößerte seinen Abstand und umkreiste das Ungetüm. Er konnte Es jetzt besser erkennen, ein großes, haariges, humanoides Scheusal. Nichts Besonderes. Bis auf die Tatsache, dass Es auf einen hölzernen Pfahl aufgespießt war, aber warum …
Ihm blieb die Luft weg. Etwas hatte ihn an seiner Kehle gepackt. Eine riesige Klaue hielt ihn mühelos hoch.
Verzweifelt versuchte er, den Griff zu lösen, aussichtlos. Sein neuer Gegner war viel zu stark. Er ließ von dem Versuch ab, seinen Hals zu befreien und griff stattdessen nach seiner kleinen Armbrust, die er vor jedem Kampf vorbereitete. Der Jäger schoss blind nach hinten. Er musste getroffen haben, ein dumpfes Knurren war zu hören, begleitet vom stärker werden des Drucks auf seinen Hals. Der Jäger baumelte hilflos in der Luft, als das Monstrum seinen Arm griff, in der er noch die Armbrust hielt. Als dieser brach, wäre ein Schrei zu hören gewesen, hätte er die Luft zum Schreien gehabt.
Mühelos wurde er gegen einen nahen Baum geworfen, so kräftig, dass er fühlte, dass mehrere Rippen brachen. Mit halbem Bewusstsein sah er, wie sein neuer Gegner in aller Ruhe auf ihn zuschritt. Es zog sich ohne Regung den Bolzen aus dem Oberschenkel, bevor Es sich zu ihm hinabsenkte und mit Neugier und Belustigung seinen Körper studierte, wie ein Forscher ein Insekt unter dem Mikroskop. Blut lief ihm in die Augen, so konnte er nicht erkennen, wer oder was für eine Kreatur vor ihm stand. Also nutzte er seine andere Sicht, konzentrierte seinen Geist. Es war so stark, so voller Lebenskraft.
Schon als er vor vielen Jahren angefangen hatte, seine Gabe zu nutzen, war ihm aufgefallen, dass er nur ein Wesen wahrnehmen konnte. War er darauf fixiert, fand er es überall, er war aber nie in der Lage gewesen, mehrere Ziele gleichzeitig zu sehen. Hatte sein Angreifer das gewusst?
Die Gedanken des Jägers entschwanden, als röchelnd Blut aus seinem Mund floss. Die Bestie hatte sein Herz durchbohrt. Als das Monstrum sich die Klauen leckte, bemerkte Es, dass sein „Helfer“ noch am Leben war. Es ging an der aufgespießten Kreatur vorbei und mit einer beiläufigen, horizontalen Bewegung seiner Klaue, durchschnitt Es dessen Kehle. Das letzte, was die sterbende Kreatur sah, war der tote Jäger.