Der Irrtum
Der Irrtum
Alles ist dunkel. Nur Schwärze- tiefe, bedrohliche Schwärze. Wo bin ich? Und wieso bin ich hier? Konzentrier’ dich! Denk’ nach! Erinnere dich!
…Wir haben diesen Ausflug gemacht- der erste zauberhafte gemeinsame Tag mit Tom und den Kindern nach diesen zwei quälend langen Jahren, in denen ich meinen Mann und Marie und Sonja ihren Vater so vermisst hatten. Jeder von uns war unbeschreiblich glücklich darüber, dass am Ende doch die Gerechtigkeit gesiegt hatte und wir endlich wieder eine richtige Familie waren. Wir alle hatten dieser Fahrt ans Meer entgegengefiebert und jeder von uns bei den Vorbereitungen mitgeholfen: Von den Mädchen lagen nun so viele Spielsachen im Kombi, dass es für mehrere Wochen gereicht hätte, ohne jemals eines der Spiele wiederholen zu müssen. Tom hatte den Wagen auf Vordermann gebracht und dafür gesorgt, dass wir auch sicher und wohlbehalten an unserem Ziel ankommen konnten. Ich selbst hatte mich um die Handtücher, den Proviant und um all die Kleinigkeiten gekümmert, die einen solchen idyllischen Tag noch ein bißchen verschönern…
Sind das Stimmen? Höre ich jemanden? Alles schwarz, finster, kalt – aber spricht dort nicht irgendwer?
…Für diesen Ausflug waren wir alle ganz früh auf den Beinen und saßen schon vor acht Uhr morgens voller Vorfreude im Auto. Dann begannen wir, die knapp 200 Kilometer zum Strand zurückzulegen, und es war eine so fröhliche, ausgelassene Stimmung im Wagen. In diesem Augenblick hätte ich die ganze Welt umarmen können: ENDLICH hatte ich meinen wunderbaren Ehemann und die Kinder den liebevollsten aller Väter wieder und nichts konnte und durfte ihn nun noch einmal von uns fortreissen.
Dieser fürchterliche Justizirrtum, diese unfassbare Ungerechtigkeit! Dass Vater Staat so wenig Menschenkenntnis besitzt und einen unschuldigen Mann für etwas verurteilt, zu dem er niemals fähig gewesen wäre! Elf Jahre lang hatten sie den wahren Verrückten gesucht und waren es dann wohl der Presse schuldig, jemanden zu präsentieren, der perfekt in das in der Öffentlichkeit kreierte Täterbild paßte. Ein solch grausamer Fall gerät in dieser blutrünstigen Gesellschaft nun mal nie wirklich in Vergessenheit und bleibt gerade in kleineren Orten wie dem unseren ein jahrzehntelanges gefundenes Fressen für die Medien. So hatten viele von Toms Verhaftung profitiert: Als Helden gefeierte Polizisten und geschmierte Zeugen ebenso wie Journalisten, deren Auflagenzahlen oder Einschaltquoten in ungeahnte Höhen schossen. Die Familien dieser Absahnenden hatten durch meinen geliebten Tom ein besseres Leben im Luxus beginnen können und nur eine kleine, für alle anderen unbedeutende Familienidylle war zerstört worden, die des Opferlamms selbst. Hätte ich nicht persönlich unser aller Schicksal in die Hand genommen und unsere gesamten Ersparnisse für den besten Verteidiger der Region benutzt, um das Verfahren nochmals aufzurollen, wäre die Wahrheit wohl niemals ans Licht gekommen…
„Sehr schwach... kaum... schrecklich... Monster... nicht aufgeben“ Zusammenhanglose, undeutliche Wortfetzen in der finstersten Dunkelheit. Wer ist dort? Wo bin ich?
…Auf dem Weg zum Strand fühlten wir uns alle wie neugeboren, ganz gleich, ob die Geburt sieben und neun Jahre zurücklag wie bei den Mädchen oder 46 beziehungsweise 34 Jahre wie bei Tom und mir. Es war unsere kleine perfekte Familie, die nach diesen zwei Jahren im Uterus der Finsternis wieder das strahlende Licht des Tages erblickte. Nichts, gar nichts konnte dieses Gefühl nun zerstören und so näherten wir uns Kilometer für Kilometer unserem Ausflugsziel.
Tom und ich waren bei der Wiederaufnahme des Falles ein weiteres Mal mit all dieser Grausamkeit, mit den Fotos von den verstümmelten und entstellten, blutüberströmten Opfern konfrontiert worden. Toms Ex-Frau und seine beiden Kinder aus erster Ehe waren kaum noch als Menschen identifizierbar, doch ihr erneuter Anblick war das notwendige Übel, das wir in Kauf nehmen mußten, um letztlich wieder eine Familie zu sein und die Freilassung dieses wundervollen Menschen zu erreichen. Toms Verteidiger hatte ganze Arbeit geleistet und genug Gegenbeweise und wahrheitstreue Zeugen geliefert, um die Vielzahl manipulierter Indizien zu entkräften, die ehemals zu dieser lebenslangen fälschlichen Verurteilung geführt hatten. Hätte irgendeiner dieser Lügner sich nur einmal die Mühe gemacht, meinen Tom wirklich kennenzulernen- niemand hätte jemals auch nur eine Sekunde an seiner Unschuld und der Reinheit und Sanftheit seines Wesens gezweifelt...
„Besser… Gott … weiter… vielleicht doch noch rechtzeitig gefunden… sie kann durchkommen“ Eine Stimme, zwei, vielleicht drei– sie werden etwas klarer, lauter. Warum ist alles so dunkel, so kalt und dunkel?
…Wenige Kilometer vor dem Meer war irgend etwas mit dem Wagen. Eine Panne? Der Reifen? Tom meinte, dass etwas nicht stimmte und wir verließen die schmale Landstraße, um die wenigen vorbeifahrenden Autos nicht zu behindern und nach dem Defekt zu sehen. Nach vielleicht dreihundert Metern auf einem Waldweg brachte Tom den Kombi zum Stehen und wir stiegen alle vier aus. Marie und Sonja lachten dabei und spielten weiter ein Ratespiel, das sie schon vor etwa einer halben Stunde im Wagen begonnen hatten. Und dann…
Ich erinnere mich nicht mehr. Denk’ nach! Konzentrier’ dich! Was passierte dann?
…Irgendwie war es dort, obwohl nicht allzuweit von der Landstraße und der warmen und hellen Sonne entfernt, düster und einsam. Die Bäume waren sehr dicht und ließen kaum etwas vom Tageslicht durch ihr volles Blätterwerk und es herrschte eine beklemmende Stille, in die das Lachen der Mädchen fast wie hineinprojiziert und fehl am Platz wirkte. Dieses plötzlich aufkommende Gefühl der Beklemmung stellte einen solchen Kontrast zu meiner vorherigen Hochstimmung dar, dass ich Tom darum bat, umzukehren und näher an die Straße zu fahren, um das Auto zu überprüfen. Tom war in diesem Moment auf der anderen Wagenseite bei Marie und Sonja und hatte irgend etwas in der Hand. Ein Werkzeug? Einen Wagenheber? Das durch die Blätter fallende Licht war zu schwach, um es genau zu erkennen und ich ging um den Kombi herum, um nach den dreien zu sehen und um meinem Wunsch nochmals Nachdruck zu verleihen. Ich näherte mich ihnen von hinten und wollte gerade fragen, was sie dort machten, als… NEIN! SO WAR ES NICHT! BITTE NICHT! ...als ich sah, wie … Mein Tom! Meine Marie! Meine Sonja! Dieses scharfe Messer! An den Kehlen meiner Mädchen! Immer und immer wieder dieses Messer! Überall auf, über, IN ihnen! Stiche, immer mehr Stiche! Blut! Überall Blut! Das Blut meiner Kinder- UNSERER Kinder! Ich bin wie erstarrt! Er dreht sich um! Sieht mich an! Ich seh’ in seine Augen! Nein, das sind nicht SEINE Augen! Es sind die eines Raubtieres! Es springt auf mich zu! Es rammt seine Krallen tief in mich hinein…
„Sie hatte es doch fast geschafft. Was ist passiert? Ist sie…?“
„Ja, wir haben sie verloren.“