Der Hutmacher
Flora zog ihn zur Seite. „Der Hutmacher hat gesagt, dass gleich Tee getrunken wird. Und weißt du, wer auch immer am Teekränzchen teilgenommen hat?‘‘ Zeyes zuckte die Schultern. „Kuscheltiere? Ich fand den Hutmacher früher schon immer etwas komisch. Trinkt Tee mit Tieren. Der ist sicher auf Drogen. Am besten trinken wir nichts von dem Tee, wer weiß, was er uns da rein tut."
„Alice", sagte sie.
„Was?"
„Überleg doch mal, wer war immer der Ehrengast dieser Teeparty? Alice aus „ Alice im Wunderland". Und weißt du, wo sie eigentlich herkommt? Aus London. Wenn wir also durch ihren komischen Kaninchenbau krabbeln und in London der richtigen Welt rauskommen, dann ist es nur noch ein Katzensprung bis nach Hause." Zeyes sah sie an und nickte dann langsam. „Vielleicht funktioniert das." Flora's Augen leuchteten auf. „Es muss einfach!"
„Ach, da kommt sie ja", das weiße Kaninchen sprang auf seinen Stuhl und klatschte, als der Hutmacher ein Mädchen an der Hand in den Garten geleitete. Alice war in Zeyes' Alter, groß und trug altmodische Kleidung. Ihr blondes, leicht verstrubbelte Haar fiel auf ihren schmalen Schultern. Ihr Blick war starr und leer, ihr Mund etwas geöffnet. Der Hutmacher führte sie um den Tisch herum an den großen Sessel, der am anderen Ende der Tafel stand. Alice setzte sich und der Hutmacher strich ihr liebevoll das Haar glatt. Dann wies er auf zwei freie Plätze und bat Flora und Zeyes sich zu setzen. „Nun denn", er nahm die Teekanne in die Hand. „Wer möchte etwas Tee? Alice, mein Schatz, du?" Ohne eine Antwort abzuwarten, flößte er ihr etwas von dem heißen Getränk in die kleine Tasse. Anschließend bediente er seine anderen Gäste. Doch bevor der Hutmacher sich setzte, trat er noch einmal an Alice's Platz. „Bitteschön," sagte er. „Einen Löffel Zucker im Tee und zwei Butterkekse dazu. So, wie du es am liebsten hast." Man sah die Liebe in seinem Blick und das Lächeln, das sein Gesicht umspielte. Eine Liebe, wie die eines Vaters zu seiner Tochter. Es tat weh zuzusehen, wie der Mann seiner Tochter Tee einschenkte und Kekse auf den Teller legte, obwohl er im Wissen war, dass sie weder was trinken, noch was essen würde. Alice saß auf ihren Platz mit leeren Blick und leicht geöffnetem Mund. Sie bewegte sich nicht, bedankte sich nicht bei ihrem Vater, nur der leichte Wind spielte mit ihrem Haar. Als der Hutmacher sich gesetzt hatte, suchte Zeyes das Gespräch. „Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie uns zum Tee eingeladen haben, Hutmacher. Macht ihr das öfters?“ Der Hutmacher setzte seine Tasse ab. „ Oh ja, regelmäßig. Und bitte, nennt mich doch Jefferson.“ „Jefferson“, jetzt ergriff Flora das Wort, „du siehst ja, dass wir nicht von hier sind. Kannst du uns vielleicht sagen, wo genau wir hier sind?“ „Ihr seid hier in Wunderland“, sagte das weiße Kaninchen und lachte. „Allerdings hört es sich besser an, als es ist. Hier geschehen viele wunderliche Sachen, aber das muss nicht unbedingt heißen, dass es schöne wunderliche Sachen sind. Es ist ganz anders, als der Zauberwald oder Neverland oder Arandelle. Aber jeder Ort hat ja seine Vor- und Nachteile.“ „Darf ich denn fragen, woher ihr seid?“, der Hutmacher hatte seine Ellenbogen auf den Tisch gestützt, seine Finger verschränkt und sein Kinn auf den Handflächen gelegt.
„Aus einer anderen Welt“, antwortete Zeyes schnell, damit Flora ihm nicht zuvor kam. „Wir sind auf einem uns unbekannten Weg hierher gelangt und suchen jetzt nach einem Weg zurück.“
„Aha“, erwiederte der Hutmacher und nahm einen Schluck vom Tee.
Und so unterhielten sie sich auf einer sehr unbeschwerten und ungezwungenen Art weiter, bis die Sonne langsam unterging. Bis der Hutmacher sich erhob, sich höflich bei seinen Gästen kurz entschuldigte und die bewegungslose Alice ins Haus hinein und die Treppe hinauf begleitete. Das weiße Kaninchen hoppelte Vater und Tochter hinterher, um sich von Alice zu verabschieden. Erst als Flora und Zeyes allein an der großen Tafel saßen, tauschten sie die Blicke. In Zeyes‘ Blick erkannte Flora eine Mischung aus Ahnungslosigkeit und Verblüffung. Er zwiefelte an Jefferson’s gesundem Menschenverstand. Flora selbst fühlte sich schlecht. Zuzusehen, wie ein Vater seine gelähmte, geistlich eingeschränkte Tochter behandelt, als wäre sie normal und dabei die wahren Tatsachen übersieht, ließ sie einen Schmerz verspüren, den sie längst verdrängt geglaubt hatte. Es erinnerte sie an ihren Vater. An die Beziehung zwischen ihnen. Doch weder sie noch Zeyes begann über Alice und dem verrückten Hutmacher zu sprechen. Eine Weile saßen sie nebeneinander an dem Tisch und schwiegen, bis dann endlich Jefferson wieder in den Garten kam und begann den großen Tisch abzudecken. Er griff nach den Teetassen, als endlich Zeyes das Wort ergriff: „Jefferson!“ Er sah den Hutmacher direkt ins Gesicht. „Darf ich dich etwas fragen?“ Ahnungslos lächelnd zuckte dieser mit den Schultern. „Aber natürlich“. „Ich möchte nicht unhöflich sein, aber was genau ist mit Alice? Sie war so..... still. Nehme es mir bitte nicht übel, aber sie sah nicht so aus, als ob sie ganz bei sich gewesen wäre“. Der Hutmacher setzte sich. Er schien sich seine Worte genau zu überlegen, bevor er sie aussprach. Dann sah er zum Himmel. „ Ich denke, sie bekommt eine Grippe. Heute war es etwas zu kühl für sie“. Er wollte wieder aufstehen und mit dem Abdecken fortfahren, als Flora ihren Mund aufmachte. „Jefferson, wir haben es gesehen. Wir haben Alice gesehen und es ist keine Grippe. Was ist mit ihr?“
Der Hutmacher stockte in seiner Bewegung.
„Ich habe den Schmerz in deinen Augen gesehen“, fügte Flora leise hinzu. Ganz langsam setzte der Hutmacher sich wieder. In seinem Gesicht konnte man Trauer und tiefen Schmerz erkennen. Er schwieg, er brauchte Zeit, um sich zu öffnen. „Alice hat Teepartys geliebt. Eine Tasse schwarzen Tee mit einen Löffel Zucker, dazu zwei Butterkekse. Sie war ein so wundervolles Mädchen, sie hat immer gelacht, war immer frölich. Manchmal, wenn sie Lust dazu hatte, da haben wir einfach ein paar wenige Sachen zusammengepackt und sind wandern gegangen. Wir haben die Welt erkundigt. Und eines Tages, als wir von so einem Trip nach Hause kamen, sagte sie, dass sie wieder in ihre Welt gehen muss. Sie musste wissen, wie es ihrem Vater in London ergeht. Und noch am selben Tag, da hat das weiße Kaninchen sie zu dem Bau geführt, aus dem sie einst hierher kam. Und dann ist sie dort geblieben. Erst eine, dann zwei Wochen. Ich dachte erst, sie bleibt da für immer. Doch dann kam sie wieder. Ganz blass, in schmutziger Kleidung. So, wie ihr sie heute gesehen habt... so sieht sie schon seit Monaten aus.“ Jefferson stand auf und atmetete ein paar mal tief ein und aus. Dann fuhr er fort: „Die Menschen dort, in ihrer Welt, halten sie gefangen. Ihren Geist, ihr Wesen- das, was sie zum Leben braucht. Sie ist... gelähmt. Sie kann kein richtiges Leben mehr führen. Ich, ich versuche alles beim Normalem zu erhalten, damit sie sich hier wohl und sicher fühlt“. Man konnte sehen, wie er mit den Tränen kämpfte, die ihm jetzt schon einzelnd seinen Wangen runterliefen und sich am Kinn vom Gesicht lösten. „Aber ich habe Angst. Ich pflege sie, ich gebe ihr Liebe und alles, was sie braucht- sie ist meine Tochter. Aber das wird sie nicht am leben halten. Irgendwann, da... da wird sie ihre Augen nicht mehr aufmachen. Davor habe ich am meisten Angst“.