Der Hundekarren
Der Hundekarren
(T.M.M. 2013)
Gegenwart:
Schwere Wolken schieben sich tief über die Sommerfelder am Stadtrand. Wir sind im Ruhrgebiet, in der schönen alten Zechenstadt Dortmund. Genauer gesagt, im berüchtigten Stadtteil Scharnhorst. Vor einigen Jahren noch, so berichten Zeitzeugen, beherrschte wohl das Böse die letzten hohen Plattenbauten an dieser Grenze zu Lünen und Brackel, zwei der kleineren Orte des Ruhrpotts. Drogendelikte, Einbrüche, Betrug und auch Raubüberfälle bestimmten den damaligen Alltag. Nach einigen drastischen Polizeiaktionen jedoch beruhigte sich diese Gegend und man kann auch am Abend wieder in dieser Gegend durch die warme Sommerluft spazieren. Dieses Areal ist Multi Kulti geprägt und genau das macht heute den Charme dieser Straßen aus. Doch wenn jemand in den höheren Gebäuden am Fenster steht, dann hat er nicht nur den Blick auf diese Straßen, Gassen und jeder Menge Grünfläche dazwischen, nein, dann bieten auch diese besagten Felder im Sonnenschein, den Augen einen herrlichen Anblick. Weite Felder und kleinere Wälder, die wohl eher größere Baumgruppen darstellen, ziehen sich leicht bergauf, bergab, wie leichte Wogen, bis zu den ersten Häusern Lünens und Brackels hin. Auch der Friedhof von Scharhorst liegt dort zwischen den kleinen und lichten Wäldern versteckt. Dieser ist Teil einer öffentlichen Grünanlage und nicht weit davon genießen Gartenfreunde die mitteldeutsche Flora. Und genau dort, zwischen einigen Gärten und ihren Häuschen, soll der wirkliche Abscheu vor gar nicht all zu langer Zeit gehaust haben. Dieses Böse war wohl wirklich an Abscheulichkeit kaum zu überbieten. Bald jeder in Scharnhorst und Umkreis weiß, was sich im September, Oktober, vor rund zehn Jahren dort zugetragen hat. Und jeder weiß aber ebenso zu erzählen, dass auch dieses Mal sich gerächt hat, was an Gewalt kaum zu übertreffen ist. Ich hatte das zweifelhafte Glück, nicht nur einen besagten Zeitzeugen getroffen sondern auch jemanden gefunden zu haben, der mir diese Geschichte aus erster Hand erzählen konnte.
Sein Name ist Arthur und er wohnt schon lange in irgendeiner dieser Wohnungen in den Blöcken von Scharnhorst. Ich lernte ihn bei meinem Einzug kennen. Er ist ein liebenswürdiger Mann im fortgeschrittenen Alter. Er half mir dabei, mich in den ersten Tagen hier zurechtzufinden. Arthur ist etwa ein Kopf kleiner als ich mit schlanker, aber kräftiger Statur. Man sieht also, dass er in seinem Leben viel schwer gearbeitet hatte. Heute ist er Frührentner und man erkennt, dass er damit zufrieden ist.
Er hat schwarzes volles Haar, welches aber schon zum größten Teil ergraut ist. Ich weiß nicht was mir bei ihm zuerst aufgefallen war, denn er hat eine wirklich große Nase, und das hat mich manchmal während er mir diese Geschichte erzählt hat und ich einiges nicht gleich glauben konnte, an Pinochio erinnert, oder sein pechschwarzes Muttermal, von etwa zwei Zentimeter Durchmesser, an seiner linken Wange. Er erzählte mir diese Geschichte bei einem Kaffee, den wir auf seinem Balkon getrunken hatten. Manchmal musste er plötzlich etwas lauter reden, weil etwa zwanzig Meter neben dem Haus indem Arthur wohnt, alle zehn Minuten, die U Bahn Linie 42, zwischen Grevel und Hombruch fährt. Ich erinnere mich daran, dass mich das wirklich sehr gestört hat, denn ich war von Beginn an von dieser Geschichte fasziniert. Aber gut, kommen wir zu dieser wirklich schweren Kost. Er nahm einen kleinen Schluck Kaffee, sah sich kurz auf seinem Balkon um, der mit blühenden Pflanzen in leuchtenden Farben geschmückt war, schaute dann kurz auf die Gleise und erinnerte sich:
„Diese Geschichte trug sich vor etwa 10 Jahren zu. Ich war damals, mit meinem besten Freund Juri unterwegs und führte mit ihm seinen Schäferhund aus. Wir verließen die Blöcke immer an derselben Stelle, bogen in die Flughafenstraße ein, die wir aber schon kurz darauf wieder verließen um in die Feldwege zu kommen. Wir gingen jeden Abend, so um sechs Uhr, denselben Weg. Wir umrundeten bei Wind und Wetter ein großes dieser Felder und ließen seinen Hund laufen. Dabei unterhielten wir uns über Gott und die Welt. Juri hatte viel aus seiner Heimat Sibirien zu erzählen, die er 1991 schweren Herzens verließ und ich lauschte immer mit Spannung seinen Geschichten aus der sibirischen Taiga. Er erzählte von sommerlichen Wüstengegenden, von winterlichen Bergen und dichten Wäldern, von großen Seen und langen, langen Flüssen mit großem Fischreichtum darin. Er erzählte mir immer so gerne, wie er mit seiner schon lange verstorbenen Frau, nur mit Zelt durch die Weiten der Taiga wanderten. Er erzählte mir ausgiebig davon und immer schon hatte er Hunde dabei. Seine Leidenschaft für Hunde, vor allem deutsche Schäferhunde, war in dieser Gegend weit bekannt. Ich glaube, dass ihm seine Tiere immer davor bewahrten nicht vor Gram unterzugehen, denn seine geliebte Frau starb schon mit neunundzwanzig Jahren an Krebs. Meines Wissens war es ihre Bauchspeicheldrüse, die von dieser fiesen Krankheit aufgefressen wurde. Er hatte sich nach ihr nie wieder gebunden.
Das Wetter war an diesen frühen Abend durchwachsen. Es war zu kühl für die letzten Tage im August und der Himmel war mit Wolken verhangen. Nur manchmal ließ sich für wenige Minuten die Sonne blicken und wärmte uns ein wenig. Ich war schon herbstlich angezogen, doch Juri fröstelte ein wenig, weil er nur mit seiner schwarzen Jeans und einem dunklem Hemd bekleidet war. Nur sein Schuhwerk, schwere schwarze Stiefel, war für kältere Tage bestimmt. Der kühle Wind, der manchmal kräftig böig wurde, schob ihm ab und zu seine graue Schiefermütze über die Stirn.
„Verdammt kalt heute!“, bemerkte er mit seinem russischen Akzent.
„Ja!“, knurrte ich zurück.
„Mit dir ist heute wirklich nichts anzufangen, mein Freund. Was ist denn mit dir los?“
„Ich weiß nicht! Das Wetter ist Scheiße! So dunkel um einen herum. Ich glaube, es ist der Herbst, den ich kommen fühle. Und du weißt, dass ich dann schon immer mit Sehnsucht, auf den nächsten Sommer warte.“
Er lachte auf!
„Versuch doch Mal an die schönen Seiten der kommenden kalten Jahreszeit zu denken. Bald werden die Bäume in traumhaften Farben, majestätisch in den Himmel ragen.“ Er zeigte auf die wilden Apfelbäume, Eiben, Linden, Ulmen und die zahlreichen anderen Baumarten die unseren Weg säumten und die Augen des Spaziergängers mit ihrer natürlichen Schönheit verwöhnten. „Und der Winter ist doch noch so weit! Wir haben knapp September! Lass dein riesen Muttermal wieder nach oben wandern.“
Ich schwieg weiter und beobachte seinen Schäferhund Balduin, wie er durch die Gräser, Brennnesseln, wasserlosen Gräben mit ihrem stacheligen Bewuchs und über die schon geernteten Gerstenfelder rannte, dann hier und da Mal schnupperte, sein Bein hob um sein Zeichen zu setzen, um somit sein Teretorium zu markieren. Aber ich glaube, dass er da nicht der einzige Hund war, der Anspruch auf diese Weiten erhob. Diese Feldwege waren nämlich beliebte Wege für Hunde und ihre Halter.
Wir sahen uns stumm an, als wir unseren Rückweg wählten. Wir mochten ihn nicht mehr besonders, aber irgendetwas zog uns immer wieder dort hin. Nicht irgendetwas, uns war schon beiden bewusst, was uns dort hinzog. Und wir sollten auch an diesem Abend, wie schon seit etwa drei Monaten, wenn wir diesen Weg gingen, mit einem schlechten Gefühl in unsere Wohnungen gehen, denn es war seit einiger Zeit schon oft dasselbe Schauspiel. Um auf die Flughafenstrasse zurückzukommen, konnte man durch den Friedhof wandern, der ein Teil einer Grünanlage war. Der Feldweg endete dort und wird zu einer schmalen asphaltierten Strasse. Wir überquerten eine kleine Kreuzung, auf der kleine Pflastersteine wie in einem ausgefüllten Kreis, der etwa einen Durchmesser von vier Metern hat, angeordnet waren. Vom Feld aus gesehen ging es rechts zu einem großen Parkplatz, links zu einem Teil des Friedhofs und geradeaus kam man zur Flughafenstrasse. Auf diesem Weg sah man zur Rechten eine kleine Gartenanlage mit ihren Häuschen darauf. Und kurz vor der Hauptstrasse war auch auf der linken Seite, ein kleines Häuschen in einem verwilderten und ungepflegten Garten, der genau am Friedhof grenzte. Und genau dorthin zog es uns! Und so wie bei jedem Mal wurde Balduin unruhig. Normalerweise fing er immer wie wild an zu knurren und zu schnauben, schlich schnuppernd mit eingezogenem Schwanz zu dem Bretterverschlag, der diesen Garten vom Wege abtrennte und bellte. Der mannshohe Zaun war mit Efeu bewachsen und oben auf war leichter Stacheldraht gewickelt. Etwa zwanzig Meter war dieser Bretterverschlag lang und bald mittig war es ein schmales, aber hohes Türchen, durch das man in den Garten kam. Das Gittertor war fast so hoch wie der Zaun selber und auch auf ihm war ordentlich Stacheldraht gewickelt. Wir fragten uns immer aus welchem Grund man seinen Garten so sehr von der Außenwelt abschneiden musste, denn diese Grenze erinnerte wirklich bald an Fort Knox. Doch wir sollten bald erfahren was es dahinter zu verstecken gab.
Wir waren jetzt etwa dreißig Meter von dem Garten entfernt und wie es der Zufall will, hörten wir wieder ein kurzes aber sehr leidiges Jaulen. Juri nahm dieses Mal seinen Hund an die Leine, damit er nicht wieder flüchtete und blieb stehen. Ich ging ein Stück weiter bis ich Juri hörte.
„Bleib stehen! Sei ruhig! Balduin sitz!“
Balduin und ich gehorchten Juris knappen Befehlen. Angestrengt horchten wir, aber es war wieder nichts mehr zu hören. Zu meiner Verwunderung blieb Balduin ruhig sitzen. Nur ein leises Knurren von ihm war zu hören. Ein kühler Windstoß riss uns aus unserer Starre und wir gingen langsam weiter, doch immer noch lauschend.
„Haben sie es auch gehört?“
Gegenüber der verwilderten Laube waren ein wenig Abseits von der Pazellengruppe noch zwei kleine Behausungen, welche aber um einiges besser gepflegt waren als die gegenüber. Und eine Frau musterte uns freundlich.
„Entschuldigung! Ich wollte sie nicht erschrecken!“ Sie lächelte ein wenig mitleidig.
„Ist schon okay!“, sagte ich und wir gingen auf das kleine Domizil zu.
„Hören sie dieses Jaulen auch öfter?“, fragte Juri drängend.
Dieses Mal war es ein Mann der antwortete und hinter der Frau auftauchte.
„Ja, manchmal. Aber wir können es uns nicht erklären. Von uns allen hat niemand ein Haustier oder so etwas, was solche herzzerreißende Töne von sich hätte geben können. Auch unseren Chaot von drüben sehe ich nie mit einem Tier. Ich schätze irgendwo in den Büschen, welche am Friedhof grenzen, gibt es Waschbären oder Dachse.“
Er schaute uns mit großen grauen Augen an. Doch irgendetwas sagte mir, dass er seinen eigenen Worten nicht so recht Glauben schenkte.
Dieses Ehepaar war so um die siebzig und machte einen freundlichen Eindruck. Sie war etwa einenmeterundfünfzig groß und hatte eine, für ihre Größe, viel zu große Brille auf der Nase. Er war vielleicht zwei Hände breit größer als sie und auch er hatte ein Merkmal, welches ihn schnell identifizieren ließ. Sein Gesicht war ein einziger grauer Bart. Dieser Bart sah weder gepflegt noch ungepflegt aus. Auch seine Augenbrauen waren dicht, lang und genauso ergraut wie sein Bart. Und wie es oft so ist, fehlten ihm die Haare, die er im Gesicht zu viel hatte auf dem Kopf. Für ihr Alter machten jedoch beide einen robusten Eindruck.
„Das klingt nicht wie ein Waschbär oder ein Dachs!“, belehrte Juri streng, „Ich denke es ist ein Hund, der da leidet.“
„Das kann nicht sein“, sagte der Bärtige, „dort drüben hat niemand einen Hund.“
„Glauben sie es ruhig“, unterstützte seine Frau ihn bestimmend, „wir kennen diesen Chaot und er hat keine Tiere. Es ist sicher irgendein wildes Geschöpf, was da jault. Vor allem in der Nacht hört man es öfter. Dann jedoch so klar und deutlich, dass einem Angst und Bange wird.“
„Sie sagten, dieser Kerl dort drüben sei ein Chaot. Woran machen sie das denn fest? Was meinen sie genau damit?“, fragte ich ins Blaue hinein. Ich spürte genau wie Juri, dass da wohl irgendetwas faul war.
„Wissen sie, dieser Mann ist ein schlimmer aber bemitleidenswerter Mensch. Keiner von uns hier mag ihn. Ist er ihnen noch nicht begegnet? Vor allem Spaziergänger mit Hunden hat er auf dem Kieker.“
„Nein!“, erwiderte ich, „wir haben ihn noch nie gesehen.“
„Da haben sie auch nichts verpasst“, warf der Bärtige ein. „Der macht nur Theater. Er beschimpft die Leute und ist immer besoffen. Schauen sie sich doch Mal diesen völlig vernachlässigten Garten an! Es ist wirklich eine Schande!“
„Ach Georg“, besänftigte seine Frau ihn.
Dieser ließ sich aber nicht besänftigen und legte los. Er erzählte von seinem Zorn auf ihn, weil auch er sich schon mit ihm gestritten hatte. Manchmal mischte dann auch seine Frau mit.
„…und wenn sie diese fiesen Augen sehen, dann kriegen sie die kalte Angst im Nacken…“, plötzlich wurde sie abrupt still und sah etwas beschämt auf den Weg vor sich. Auch ihr Mann wurde plötzlich unruhig. Wir drehten uns um und wussten sofort aus welchem Grund die beiden ein wenig Angst bekamen. Da stand er nämlich!
Er schaute uns fies mit seinen zusammengekniffenen, wasserblauen Augen an. Er lugte wohl immer so, denn er hatte schon derbe Krähenfüße neben den Augen.
„Was los?“, lallte er.
Er war knapp einsachtzig, hatte einen Bauchansatz, war aber nicht unbedingt dick. Vielleicht etwas übergewichtig. Er trug blaue Gummistiefel, eine grüne Kordhose, ein weißes verschmutztes T Shirt und hatte einen offenen blauen Parka an.
Ich schätze ihn erst gegen sechzig, doch später sollte ich erfahren, dass er gerade dreiundvierzig war.
„Redet ihr wieder über mich, Georg?“
„Nein! Ist schon gut Felix! Lass uns einfach zufrieden!“
„Hast du einen Hund?“, fuhr ihn plötzlich Juri an.
Felix war erst verdattert und starrte uns schweigend an. Doch dann fing er heftig an zu lachen und ging kopfschüttelnd zurück in seine Laube. Kurz darauf kam er zurück.
„Nein!“, hauchte er heiser und schaute Juri einen Moment provozierend an. Dann fiel sein Blick auf Balduin.
„Und du? Hast du einen Hund? Ja, das hast du. Und was für einen schönen!“
Er schaute Balduin an und dieser wurde ungeduldig.
„Schön hässlich, meinte ich!“, setzte er nach und schüttelte sich vor Lachen. Dann verschwand er wieder in seiner Laube.
„Wissen sie jetzt was wir meinen“, schaute uns die kleine Frau fragend an.
Wir nickten beide mit dem Kopf. Wir blieben dann noch etwa eine Minute stehen und wechselten noch ein paar Wörter mit dem Ehepaar und setzten uns dann wieder Richtung Heimat in Bewegung.
„Da stimmt doch etwas nicht.“, war der einzige Satz der noch von Juri kam. Sonst gingen wir schweigend nach Hause.
Ich dachte an diesem Abend die ganze Zeit über diese undurchsichtige Situation nach.
‚Was passiert dort? Hat Juri Recht? Stimmt da wirklich etwas nicht? Aber was? Was soll da los sein? Was ist dieses Jaulen? Kommt es tatsächlich von einem Hund, wie Juri sagte? Aber dies alte Ehepaar behauptet, dass dieser komische Kerl keine Haustiere hat, geschweige denn einen Hund. Und neben dieser Laube ist nur der Friedhof, genau wie nach hinten raus. Das hatte ich schon abgecheckt.’
Es sollte eine Woche dauern bis ich die grausame Antwort hatte. Wir sind seit diesem Tag jedes Mal an dieser Laube vorbeigelaufen. Ein Mal ist uns noch das alte Pärchen an ihrem Gartentor begegnet und wir blieben stehen. Nicht unbedingt, weil wir uns nach ihrem Befinden erkundigen wollten, wie wir angegeben hatten, sondern einfach um uns unauffällig dort herumtreiben zu können. Doch auch an diesem Tage nichts! Es war der nächste Tag, der mein Allgemeinwissen an Abscheulichkeit auffüllen sollte.
Wir waren an diesem schönen Septembertag wieder mit Balduin unterwegs und ich genoss die spätsommerliche Sonne. Es war warm und windstill, als wir an diesem verfluchten Gartenhäuschen vorbeiliefen und dieses Mal wieder ein Jaulen und Heulen, ganz klar aus dieser Richtung vernahmen. Ich konnte gar nicht so schnell gucken, da hatte Juri mir den angeleinten Balduin übergeben und stürmte zu dem mit Stacheldraht gesicherten Tor. Ehe ich mich versah, trat er dieses Tor ein und rannte in den Garten. Ich band Balduin an das Gitter und folgte Juri. Als ich den Garten betrat, schaute ich mich hektisch um und schlich zu Juri, der an der Tür des Häuschens Stellung bezogen hatte und mir mit dem Finger auf dem Mund die Weisung gab still zu sein. Wir standen dort und lauschten. Das erste, was einem dort auffiel, war wahre Verwilderung. Hohe Gräser durchbrachen große Pflastersteine, die einzeln vom Gartentor bis zur Haustür gelegt wurden. Mitten im Garten stand eine riesen Silberweide, die vollkommen mit Efeu bewachsen war. Hohe und vernachlässigte Hecken verboten einen Blick auf den nahen Friedhof. Ein altes Fahrrad lag neben dem Haus und rostete vor sich hin. Eine flache und ebenso gebrochene Steinstufe führte ins Haus. Das Haus selber war aber gemauert, nicht so wie die anderen Häuser in dieser Anlage, die vollkommen aus Holz waren. Doch auch dieses war ungepflegt und überall waren Risse im Mauerwerk. Das Dach von diesem fragwürdigen Anwesen war mit schwarzen Ziegeln gedeckt und ein eiserner Schornstein lugt leicht in den Himmel. Und neben dem Haus stand doch wirklich ein Plumpsklo.
Wir standen jetzt genau neben der Haustür, welche dem Bretterverschlag glich. Nur dass die Bretter dünner waren und dilettantisch grau angestrichen gewesen sind. Wir warteten! Ich wusste nicht genau worauf, aber instinktiv folgte ich meinem besten Freund. Wieder legte er sich hektisch seinen Zeigefinger auf den Mund. Er spürte wohl, dass ich ein wenig protestieren wollte. Wir waren ja so gesehen eingebrochen. Juri lauschte an der Tür und mein Herz klopfte wie wild. Ich hatte mich gerade an die Situation im Garten gewöhnt, da hörte ich diesen Felix fluchen und kurz darauf wieder ein herzzerreißendes Heulen, welches von einem leichtem Knurren abgelöst um dann wieder zu einem Jaulen wurde. Ich wusste sofort, da war ein animalisches Geschöpf und es hatte unerträgliche Schmerzen. Ehe ich mich versah trat Juri auch die Haustür ein und stürmte in diese gemauerte Hütte. Ich folgte ihm. Doch wider erwarten kam niemand auf uns zu.
„Du Mistvieh!“, hörte ich diesen Mann wieder leise fluchen und ein dumpfer Schlag folgte. Mit schnellen Schritten schlichen wir leise hinein. Es war ein wenig Quadratmeter kleiner Eingangsbereich der uns empfing. Sofort fielen mir die rechts von mir, bis an die niedrige Decke, gestapelten Bierkästen und Schnapsflaschen auf. Ein ungeheurer Gestank kam uns entgegen. Ich identifizierte als erstes Alkohol und Urin. Mir wurde sofort klar, dass dieses keine gemütliche Gartenhütte ist, sondern das Zuhause eines kranken Menschen. Und kurze Zeit später erfuhr ich, wie krank dieses Individuum war. Wir schlichen weiter, weil wir ein Rülpsen aus dem Inneren des Häuschens hörten. Wir kümmerten uns nicht um die kleine verdreckte Küche, die links von uns war, sondern betraten die Wohnfläche in der Felix mit dem Rücken zu uns stand und uns noch nicht gehört hatte. Er stand vor einer Tür, die links hinten im Wohnraum war. Sie stand offen und ich stellte mich auf die Zehenspitzen um zu sehen was dahinter lag. Doch ich sah erst nur einen kleinen dunklen Raum. Dann machte Felix, der uns immer noch nicht wahrnahm, einen Schritt nach vorn und beugte sich hinunter. Dann sah ich mit Entsetzen wie er seine Hand hob, eine Faust ballte, die dann nach unten schnellte. Wieder ein dumpfer Schlag. Die Faust traf auf einen Körper, das hatte ich sofort begriffen. Dann stand er wieder auf. Juri machte einen Schritt nach vorn, doch ich hielt ihn fest. Ich wollte erst sehen, was dort hinter der Tür war. Und so als hätte ich Felix darum gebeten, machte er einen Schritt zur rechten Seite und gab einen Blick frei, der mich schwer erschütterte. Da lag ein Hund, der jedoch erst nicht als solcher zu erkennen war und ich erschrak über den grausamen Zustand dieses armen Tieres. Wie sich später herausstellte, war es ein etwa vierjähriger, weißer Labrador, der dort lag und vegetierte. Er lag auf dem blanken Steinboden und ich sah sofort, dass er seine Hinterbeine nicht bewegen konnte, denn er versuchte sich von Felix wegzurollen, obwohl er wohl wusste, dass die Mauer ihn nicht wegließ. Die Hinterbeine standen dabei unnatürlich steif ab. Für Juri gab es kein Halten mehr!
„Du verdammter Hurensohn!“, schrie er und ehe Felix sich herumdrehen konnte, hatte Juri schon seinen Arm um seinen Hals gelegt und riss ihn zu Boden. Doch Felix ließ sich das nicht gefallen, rollte sich ab und wankte wieder hoch.
„Na komm alter Mann, lass uns tanzen!“
Eine wilde Schlägerei begann. Als ich merkte, dass Juri ihn im Griff hatte, stürmte ich an den beiden vorbei und kniete mich neben den Hund. Ich strich ihm über das schmutzige kurze Fell und er begann zu knurren. Er versuchte den Kopf zu heben, doch er wirkte halbtot. Plötzlich kam mir alles wie in Zeitlupe vor, denn als ich diesem armen Geschöpf übers Fell strich bemerkte ich etwas Spitzes darin. Ich fasste es und zog daran. Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen und mir wurde übel. Ich zog eine etwa zehn Zentimeter dünne Nadel aus seinem Körper. Der Labrador jaulte kurz auf und ich legte meine Hand auf sein Haupt. Ich drehte mich um und sah Juri als Sieger aus diesem Kampf gehen. Felix lag mit blutenden Lippen und Nase auf dem Boden und traute sich nicht mehr aufzustehen. Er schnaubte nur noch und fluchte vor sich hin.
„Das geht euch gar nichts an. Das ist mein Köter! Und jeder dieser Köter muss gut erzogen werden.“ Er fing leise und heiser an zu Lachen.
Und das war jetzt auch mir zu viel! Ich stand auf und versetzte ihm einen Tritt ins Gesicht. Und noch einen in den Oberkörper und noch einen und noch einen, bis Juri mich wegzog. Ich weinte hemmungslos über so viel Brutalität und Juri sah mich fragend an, bis er ganz langsam auf den Hund zuging. Er drehte sich zu mir, als er die mit Blut beschmierte Nadel auf dem Boden liegen sah. Er war völlig fassungslos. Ich rechnete damit, dass auch er noch mal auf Felix losgehen würde, doch er kniete nur wie versteinert neben dem Hund und strich ihm ganz behutsam über den Kopf. Er betrachtete dieses Elend und kurz darauf liefen ihm auch die Tränen aus den Augen. Als Felix sich rührte, versetzte ich ihm noch einen Tritt.
„Bleib da liegen, du verdammter Schweinehund!“
„Raus hier oder ich hole die Polizei!“, brüllte er mich an.
„Die ist schon unterwegs!“, kam es vom Eingansbereich.
Vor Schreck flog mein Kopf Richtung Eingangstür, des Wohnbereiches. Da stand Georg und stierte voller Schrecken auf den blutenden Felix.
„Was ist denn hier nur los?“, fragte er ängstlich.
Wir erklärten ihm mit wenigen Worten was passiert war. Als er dann den Hund in diesem Kämmerchen liegen sah, hielt er sich geschockt seine Hände vors Gesicht. Er ging dann mit einem Bogen an Felix vorbei und kniete sich neben Juri, der immer noch mit tränengefüllten Augen dieses bemitleidenswerte Wesen untersuchte. Es dauerte nicht mehr lange und wir hörten Stimmen, die aus dem Garten zu uns drangen.
„Hallo?!“, hörte ich und antwortete ebenso.
„Ja Hallo! Kommen sie hier herein!“
Dann standen auch schon zwei Polizisten in der Tür. Oder besser gesagt ein Polizist und eine Polizistin. Doch es war nicht er, der sich im Türbogen ducken musste, es war sie, die etwa an die einsneunzig groß war. Er war kleiner und auch etwas schmächtiger als sie.
Als die beiden sich einen Überblick geschafft hatten, verständigten sie sofort den Tierschutz, der etwa zehn Minuten später mit einem Tierarzt in die Laube kam. Felix beobachtete argwöhnisch, wie sich alle um sein Opfer kümmerten. Erst wurde er noch laut, weil sich niemand um seine Verletzungen kümmerte, und es war der Polizist, der ihn mit bösen, braunen Augen ansah.
„Seien sie lieber still, sonst verlassen wir die Laube und sie stehen mit all diesen Tierfreunden alleine da. Haben sie verstanden, was ich ihnen damit sagen will?“
Mürrisch nickte Felix mit dem Kopf und beäugte still was sich in seinem kleinen Haus abspielte.
Ich stand bei den beiden Vollzugsbeamten und erzählte was sich dort abgespielt hatte, als ich Juri hörte.
„Nein, nein! Hören sie, das dürfen sie nicht! Bitte! Bitte versuchen sie sie doch zu retten!“
Es war also eine Hündin, die dort auf dem Boden lag. Juri hatte sich eine Decke gegriffen, die auf einer schmutzigen alten Couch lag und hatte die Labradorhündin darauf gelegt. Sie quiekte so elend dabei, dass es einem durch Mark und Bein ging.
„Hören sie!“, flehte der Tierarzt bald. „Sie wird es nicht schaffen. Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebt. Sie ist unterernährt, vertrocknet und all diese Verletzungen. Es werden vielleicht noch Tage sein, die sie überleben wird, aber nur unter Qualen. Wie gesagt, es ist ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebt.“
„Das ist es ja! Das ist es ja!“, wiederholte Juri eifrig, „Sie will Leben! Hätte sie nicht solch einen ungeheuren Lebenswillen, dann wäre sie doch schon tot.“
Der Tierarzt um die dreißig Jahre alt, der in Bluejeans, weißen T Shirt, weißen Kittel und ebenso weißen Schlappen an den Füßen bekleidet war, schüttelte immer wieder mit dem Kopf.
„Hören sie…“
Nein!“, brüllte Juri jetzt, „Dann mache ich es. Ich werde sie pflegen. Ich weiß, sie wird es schaffen!“
Er kniete sich zur Hündin herunter und streichelte ihr über den Kopf.
„Du willst Leben, nicht wahr?“, hörte ich ihn flüstern.
Mein Freund tat mir so unendlich Leid. Er liebte Hunde und ich wusste, dass er das mit der Pflege ernst meinte. Er würde sich sicherlich aufopfern und keine Kosten scheuen. Und wenn sie wirklich nicht mehr laufen könnte, dann würde er sie tragen. Und wenn es notwendig wäre, dann um die ganze Welt. Dann beugte sich der Tierarzt noch einmal zu ihm herunter und sagte irgendetwas, was ich aber nicht verstand. Doch als Juris Gesicht aufging wie eine Sonne wusste ich, dass der Tierarzt versuchen würde dieses Tier zu retten.
„Aber eines ist sicher!“, hörte ich den Tierarzt wieder sagen, dieses Tier wird nicht laufen können. Er hat ihr wohl, vor geraumer Zeit schon, beide Hinterbeine gebrochen und diese sind falsch wieder zusammengewachsen. So wie ich es auf den ersten Blick bestimmen kann, sind beide Beine steif. Sie wird nicht laufen können. Niemals wieder. Wir müssen uns da etwas einfallen lassen.“
„Ich lasse mir etwas einfallen!“, rief Juri und ich habe auch schon eine Idee. Kümmern sie sich um die Operationen und was sonst noch in ihrer Macht steht. Ich mache alles andere! Versprochen!“
Juri und der Veterinär beschlossen per Handschlag die Rettung dieses armen Geschöpfes, welches Juri sofort Amusch taufte.
Das Schauspiel in der Laube dauerte etwa noch eine Stunde an, bis sich der Mob auflöste. Der Tierschutz nahm Amusch mit und Felix musste die Polizei begleiten. Ich verließ als letzter diese Hütte. Ich schaute mich noch mal um und mir wurde bei diesem Anblick des Elends wirklich ein wenig Übel. Sei Felix auch ein verschissener Tierquäler und wer weiß, was er sonst noch so angestellt hatte. Ich muss aber sagen, dass auch er ein Opfer des Niederganges war. Der einzige Wert, den er besaß, war ein alter Fernseher, der auf einem verstaubten kleinen Schrank stand. Ansonsten war dort nur eine schmutzige Couch, ein kaputter Glastisch, dessen Platte gerissen und nur notdürftig mit Panzerband geklebt war, sodass er durchhing und man nichts weiter auf ihn draufstellen konnte. Dieser Glastisch stand auf einem Läufer, dessen bessere Tage sicherlich ein viertel Jahrhundert her waren. Und es stand nur ein einziger Schrank dort, gegenüber diesem Raum, worin die Hündin lag. Also genau links neben dem Eingang zum Wohnbereich. Wenn man Wohnbereich dazu sagen konnte. Die ganze Bude war ein verwahrloster Dreckstall!
Als ich hinaustrat, ging langsam die Sonne unter. Mir war gar nicht aufgefallen, wie dunkel es in diesem kleinen Haus gewesen sein musste. Ich erinnere mich auch nicht daran, dass Lampen geleuchtet hatten. Ich suchte Juri, doch er hatte Balduin abgeleint und war mit ihm verschwunden. Ich wusste, dass er sicher mit dem Tierarzt mitgefahren war. Auch alle anderen waren nicht mehr da. Die Polizei, der Tierschutz und die neugierigen Zaungäste von denen ich noch einige weggehen sah. Ich stand dort ganz allein am Gittertor und schaute zur Silberweide hoch. Ich fragte mich in Anbetracht dieses Dramas, wie viele Geschichten dieser Baum wohl erzählen könnte, wenn ich sie sprechen hören würde.
Amusch überlebte!
Es vergingen über drei Monate, bis ich Juri wieder sah. Wir hatten hier und da Mal telefoniert, aber er war so in seiner Pflege für seine Amusch aufgegangen, dass er einfach keine Zeit mehr für mich hatte. Aber ich war ihm natürlich nicht böse! Und so wurde es Anfang Februar, als er mich anrief und mich zu einem Spaziergang mit ihm und seiner animalischen Familie einlud. Ich freute mich darauf ihn zu sehen. Und als er bei mir vor der Tür stand, vor der ich auf ihn gewartet hatte, staunte ich Bauklötze. Ich hatte natürlich als aller erstes nur Augen für Amusch und hätte sie wirklich nicht wieder erkannt. Sie hatte zugelegt und tatsächlich hatte Juri sie zum Laufen gebracht. Er hatte ihr einen Karren gebaut. Das heißt ein Gestell mit Rädern, das ihr Halt gab. Einen breiten Lederriemen hatte sie um den Bauch gebunden bekommen und daran hing das Gestell, dass ihr erlaubte, ihre schlaffen Hinterbeine baumeln zu lassen und mit den Vorderpfoten zu laufen. Sie hechelte ein wenig und wurde nervös als ich auf sie zu gehen wollte. Sie suchte sofort bei Juri Schutz, der sie beruhigte. Es dauerte sicherlich fünf Minuten, bis sie sich von mir ganz leicht streicheln ließ. Dann kümmerte ich mich um Balduin, der immer an mir hochsprang und sich mit mir freute. Dann gab ich Juri die Hand und umarmte ihn als er einschlug.
„Mensch Juri! Du bist doch wirklich ein Genie! Klasse!“
„Tja mein Freund! Man muss sich einfach auf jede erdenkliche Situation einstellen können.“
„Ja! Und das konntest du schon immer!“, antwortete ich und biss mir jedoch schnell auf die Lippen. Ich ärgerte mich über diese Worte, denn er hatte es natürlich nicht immer gekonnt. Ich musste an den Tod von seiner Frau denken, den er bis da sicherlich nicht überwunden hatte. Und er hatte sich damals auf diese Situation sicherlich nicht einstellen können. Doch ich verdrängte schnell diesen Patzer und wir marschierten los.
Beim Spaziergang bewunderte ich Balduin darum, wie er sich mit seiner Art um Amusch kümmerte. Er ließ sie nie alleine und forderte sie hier und da mal auf etwas zu wagen, was sie wegen ihrer Behinderung nicht machen konnte. Er wich ihr nie von der Seite, wenn irgendwelche Leute in der Nähe waren. Selbst mich betrachtete er manchmal kontrollierend, wenn ich Amusch streichelte. Ich hatte mit Juri so viel zu besprechen, weil ja einiges an gemeinsame Zeit verloren gegangen war. Juri wollte nicht mehr über das Thema Felix und Amusch sprechen. Er erzählte mir nur, dass raus gekommen ist, dass Felix wohl schon mehrere Tiere zu Tode gequält hatte. Doch Amusch war der einzige Hund. Er begann wohl mit Nagern und Vögeln, dann Katzen und dann traf er auf Amusch. Ein Schicksal! Der vorherige Besitzer musste für lange Zeit ins Gefängnis und bat seinen Freund Felix sich um Amusch zu kümmern. Und von da an durchlebte die Hündin die Hölle. Es waren etwa fünfzehn Nadeln, die in Amuschs Körper steckten. Doch zu ihrem fragwürdigen Glück, waren es nur drei Nadeln, von etwa fünfzehn Zentimetern, die sie damals aufspießten und diese hatten nichts Lebensnotwendiges getroffen. Die anderen Nadeln, waren kürzer, doch dafür ein wenig dicker.
„Wie lange ist sie denn bei diesem Irren gewesen?“
„Man weiß es nicht genau, weil dieser Typ die Aussage darauf verweigert hatte. Aber der Veterinär denkt, dass es mindestens drei bis vier Monate waren.“
Ich schüttelte nur noch mit dem Kopf. Und ich schüttelte ihn noch heftiger, als ich erfuhr, dass dieser Tierquäler nur eine Geldstrafe bezahlen musste. Diese hatte er dann jedoch aus Geldmangel absitzen müssen.
Weitere drei Monate vergingen und es war Frühling. Juri und ich gingen wieder regelmäßig mit den Hunden spazieren und alles lief glatt. Amusch gewöhnte sich so gut an den Karren, dass Juri darauf aufpassen musste, dass sie den Karren beim Spielen nicht vergaß. Denn wenn sie damit umgefallen war, war es für sie unmöglich alleine wieder hochzukommen. Sie tat mir hin und wieder so leid, wenn sie Balduin hinterher gucken musste, wenn er mal ausbrach und über die Felder rannte. Sie wäre sicherlich so gerne hinterher gerannt. Sie war doch erst vier Jahre alt. Doch ich dachte mir dann, besser so als tot.
Eines Tages machten wir dann einen schicksalhaften Schachzug. Es war ein schöner Tag im Juni. Juri und ich wählten mit den Hunden den Rückweg, welcher an Felix Gartenhaus lag. Aus welchem Grund wir das taten weiß ich bis heute nicht, doch wir wählten ihn und das Unglück nahm blitzschnell seinen Lauf. Wie es der Zufall wollte, trafen wir dieses Ehepaar an ihrem Gartentor und blieben stehen. Sie begrüßten uns herzlich, aber waren in irgendeiner Weise nervös. Wir hatten sie beide seit dem Tage nicht mehr gesehen und wollten ihnen nun von Amuschs Fortschritten erzählen, bis ich begriff aus welchem Grunde die beiden so kurz gebunden waren. Juri bemerkte dieses kurzgebundene wohl nicht und plapperte stolz drauflos. Mit einem Male verstand auch er was los war. Die Hunde bellten sich die Seele aus dem Leib und Amusch drückte sich so sehr mit dem Karren an Juri, dass er beinahe stürzte.
„Na, wen haben wir denn da?“
Georg und seine Frau verschwanden von der Bildfläche und wir starrten geschockt auf das uns wohlbekannte Gittertor. Und dahinter stand Felix! Er war wieder betrunken und es war ihm wohl auch ein Malheur passiert. Doch es interessiere ihn wohl nicht, dass er in seine grüne Kordhose gepinkelt hatte. Er stand dort mit freiem Oberkörper und stellte sich im Schutz des verschlossenen Tores provozierend breitbeinig hin.
„Was ist los? Kennt ihr mich nicht mehr? Ich bin der, der wegen euch im Knast gesessen hatte.“
„Welch schamhafte Behauptung!“, erwiderte Juri.
Ich stellte mich wohl aus Reflex vor Amusch und legte meine Hand auf ihren Kopf. Sie wurde aber trotzdem nicht ruhiger und versuchte noch weiter zurückzugehen, aber da war der Zaun, also schwang sie ängstlich hin und her. Balduin bellte wie verrückt und ich befahl ihm ruhig zu sein. Also knurrte er nur noch, legte sich mal auf die Lauer, mal saß er und mal stellte er sich wieder drohend hin und fletschte die Zähne. Es war ein einziges Gemenge mit beiden Hunden, doch ich bekam es in den Griff. Ich beugte mich zu Amusch herunter und nahm ihren Kopf in meine Hände. Und das funktionierte. Ich brachte sie dazu, sich auf mich zu konzentrieren. Auch sie wurde etwas ruhiger.
„Du bist in den Knast gekommen, weil du ein Verbrecher bist! Wie kannst du nur ruhig schlafen?“, schimpfte Juri verbittert.
„Na, das geht eben nicht mehr. Ich muss ständig an meinen Hund denken und frage mich, wie es ihr wohl so geht?“
„Noch ein Wort von dir“, drohte Juri, „und du bekommst eine Revanche.“
„Ha! Du hattest nur Glück gehabt!“
‚Wie kann man nur so verbittert sein?’, ging mir durch den Kopf.
Es herrschte noch für etwa drei Minuten ein hitziges Wortgefecht und Juri forderte mich dann zum Gehen auf. Er hatte einen hochroten Kopf und glühte förmlich vor Ärger.
„Ja genau! Macht dass ihr wegkommt! Und seht zu, dass ihr mir hier nie wieder begegnet. Ist das klar? Denn wenn ich euch hier noch einmal sehe, dann…“
„Was dann?“, brüllte ich dieses Mal zurück.
Doch Felix seine trüben Alkoholaugen lachten mich nur noch voller Hass an. Dann drehte er sich um und verschwand hinter seinem Gemäuer.
Wir marschierten los. Die Hunde kurz an der Leine. So bogen wir dann in die Flughafenstraße ein.
„Hey Juri!“, durchbrach ich die Stille.
„Was?“
„Wir sollten uns vielleicht wirklich überlegen, ob wir diesen Weg noch einmal wählen.“
„Arthur!“, Juri blieb stehen und ich tat es ihm gleich. „Du glaubst doch nun wirklich nicht, dass ich mich von so einem kranken Typen unterkriegen lasse. Nein! Niemals. Wir sind freie Menschen!“, dann sah er zu seinen Lieben runter, „und Tiere! Wir können gehen wohin wir wollen.“
„Naja, ich weiß nicht. Ich traue diesem Menschen wirklich alles zu!“
Juri sah mir fest in die Augen.
„Hör mir jetzt gut zu! Wenn dieser Felix einem meiner Tiere etwas antut, dann bringe ich ihn um. Bei Gott, das schwöre ich!“
Dann setzte er sich wieder in Bewegung.
„Hör Mal Juri! Ich kann dich gut verstehen, aber so etwas ist schnell Mal gesagt. Das meinst du doch jetzt nicht so, oder etwa doch?“
Juri sagte kein Wort mehr. Nur sein Blick machte mir bewusst, dass er es wirklich Ernst gemeint hatte. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und ich betete zu Gott, dass es niemals so kommen sollte.
Es vergingen etwa weitere zwei Wochen bis zu diesen bösen schicksalhaften Stunden.
Wir gingen diesen Weg jetzt jeden Tag um Felix zu beweisen, dass wir keine Angst vor ihm und seiner kranken Seele hatten.
Dieser Tag, Anfang Juli, war sehr kalt und regnerisch. Wir waren beide nicht allzu gut gelaunt und gingen eher schweigsam unseren Rückweg an. Der Regen machte gerade eine Pause und nur deshalb blieben wir bei Georg stehen, der wieder an seiner Pforte stand und unterhielten uns mit ihm. Die Hunde blieben zwar in unserer Nähe, waren aber nicht angeleint. Aus den Augewinkeln heraus sah ich kurz wie sie an einem Busch, nahe dem Anwesen von Felix, schnupperten. Irgendetwas interessierte sie da. Doch ich konzentrierte mich auf das Gespräch mit Georg. Er erzählte uns, dass seine Frau wegen eines Magenproblems im Krankenhaus lag. Und er musste uns detailliert alles erzählen. Bis auch er zu den Hunden sah und fragend die Stirn runzelte. Juri drehte sich um.
„Aus!“, hörte ich ihn brüllen. Doch es war zu spät! Beide Hunde hatten von dem vergifteten Fleisch, welches in diesem Gebüsch lag gegessen. Das Gift wirkte blitzschnell, denn Amusch hing schon bald darauf schlaff in ihrem Karren. Blut tropfte aus ihrem Maul. Und auch Balduin schüttelte sich und krampfte. Es dauerte vielleicht zwei Minuten, da waren beide Hunde tot. Ich stand dort und konnte nicht begreifen, was sich da vor mir abspielte. Juri saß auf der Erde, mitten in einer Pfütze, doch es interessierte ihn nicht. Er hielt erst nur seinen Balduin, doch zog dann an dem Karren und ließ ihn samt Amusch in seine Arme fallen. Seine beige Stoffhose war voller Blut, denn das Fleisch war wohl auch mit kleinen Krampen versehen, welche die Kehlen zerrissen hatten.
Es war wohl ein Schluckreflex. Anders konnte man sich mir nicht erklären, weshalb die Hunde, das Fleisch nicht wieder ausspuckten.
Ich kniete mich zu Juri und massierte ihm leicht seinen Nacken. Dann streichelte auch ich die beiden toten Hunde, blickte hoch und sah wie sich ein Schatten, vom Zaun zum Haus von Felix zu bewegte.
„Bleib stehen du Sauhund! Bleib stehen!“
Ich schnellte hoch und lief auf das Gitter zu. Doch auch ich hatte keine Kraft mehr. Ich ließ mich einfach auf die Knie fallen und weinte um die Hunde und um den Schmerz meines besten Freundes. Und wie aus weiter Ferne hörte ich das heisere und böse Lachen von Felix. Er erfreute sich so sehr an seiner Rache, dass sich sein Lachen zwischendurch, wie das Schreien einer hysterischen Frau anhörte.
Wiederholt rief Georg die Polizei. Doch man konnte Felix nichts nachweisen. Und natürlich machte er auf Unschuld. Genugtuend Grinsend beantwortete er die Fragen der Polizisten.
Der Tierschutz nahm beide Hunde mit und Juri bat sie darum, sie für eine Beerdingung fertigzumachen, was sie dann auch taten. Mein Freund baute in den nächsten Tagen immer mehr ab. Die Hunde wurden schon vier Tage später auf dem Tierfriedhof in Dortmund- Kley beerdigt. Auch den Hundekarren ließ Juri feierlich schmücken und mit in Amuschs Grab legen.
„Sie soll doch laufen können, wenn sie wieder erwacht!“, waren die erschütternden Worte meines Freundes.
Und so grub man das Grab tiefer und ich legte den mit Blumen geschmückten Hundekarren in Amuschs Grab. Und selbst zu diesem Zeitpunkt faszinierte mich Juris Idee vom Hundekarren und ich betrachtete noch mal die fantastische und eigentlich einfache Idee von diesem Hundefreund. Bilder liefen vor mir ab und ich begann zu weinen. Ich wusste, dass dieser Tag einer der schwärzesten in meinem ganzen Leben war und in mir brodelte die Wut auf Felix! Er durfte einfach nicht ungestraft davon kommen. Das durfte er nicht! Ich hatte aber auch Angst vor Juris Handlung, wenn er sich wieder fangen würde. Dieser ließ es sich nicht nehmen, das Grab mit beiden Hunden darin selber zuzumachen. Als ich gehen wollte, versuchte ich Juri mitzunehmen, aber er wollte bleiben. Er starrte auf das mit Frühsommerblumen geschmückte Grab und hielt die weiße Marmorplatte in der Hand, auf der die Bilder von beiden Hunden abgebildet waren. Ein Meer von Tränen lief aus seinen Augen und er tat mir so unendlich leid. Er schüttelte sich vor Schmerz, Tränen, durchsichtiger Schleim aus der Nase und Speichel aus seinen Mundwinkeln rannen an ihm herunter. Immer wieder vergrub er sein Gesicht in seine Hände.
Juri war dann nur noch auf dem Friedhof anzutreffen. Ich machte mir Sorgen um ihn, denn er baute ja immer mehr ab und eine Woche später ist es dann auch geschehen. Die Polizei besuchte mich und gab mir zu verstehen, dass Juri auf dem Tierfriedhof einen Herzanfall hatte, welchen er nicht überlebt hatte. Seine Nachbarin schickte die Polizisten zu mir, weil sie keine Angehörigen von Juri kannte. Und mir wurde klar, dass es mir genauso ging. Er hatte weder Kinder noch sonst jemanden. Also musste ich mich auch um seine Beerdigung kümmern.
Es war etwa eine Woche nach Juris Beisetzung auf dem Scharnhorster Friedhof. Zum Glück hatte man ihn auf der anderen Seite des Gottesackers begraben. Weit weg von dieser gemauerten Hütte. Inzwischen war ja schon Juli geworden, aber das Wetter war immer noch nasskalt. Viel zu kalt für den Sommer. Wir hatten Freitag, um die frühe Mittagszeit. Ich hatte Juri besucht, aber irgendetwas war anders als die unmittelbaren Tage davor. Ich spürte nicht mehr solche Ohnmacht, obwohl ich natürlich immer noch vollkommen unter Schock stand, denn diese Wochen waren wirklich die Hölle. Ich wollte nach Hause. Da brachen plötzlich die Wolken auf und die Sonne wärmte mein Haupt. Ich blieb stehen und sah mit zusammengekniffenen Augen in den Himmel. Die Wolken waren schnell unterwegs und formten sich immer wieder neu. Und plötzlich wuchs mir eine leichte Gänsehaut, denn ich brauchte nicht viel Fantasie um zu erkennen, dass sich so etwas wie ein Labrador am Himmel zeigte. Schon nach kurzer Betrachtung floss mir eine Träne aus den Augen und ich sah zurück auf Juris Grab. Plötzlich verspürte ich eine unheimliche Ruhe. So etwas wie eine Genugtuung und ich wusste nicht aus welchem Grund. Dann setzte ich mich wieder in Bewegung. Ehe ich mich versah, war ich auf unserem alten Spazierweg und ich bog rechts ab. Ich musste mit mir kämpfen, denn dieses war ja der Weg zu diesem verfluchten Gemäuer, worin Felix sein Dasein fristete. Doch wie ein Magnet zog es mich dort hin. Als die Gärten in meine Sichtweite kamen, sah ich noch einen Streifenwagen und einen Zivilwagen von diesem Haus wegfahren. Ich schaute nach rechts und sah Georgs Frau, die vor ihrem Zaun stand, kräftig nach mir winken. Sie drehte sich kurz um und schon tauchte auch Georg auf. Meine Schritte wurden schneller.
„Hallo Arthur!“, begrüßten mich beide aufgeregt.
„Hallo Birgit! Hallo Georg! Was war denn hier los? Hat unser Freund hier“, meine Stimmlage wurde böse, „mal wieder Theater gemacht?“
Georg sah mir bedacht, aber nervös in die Augen.
„Er ist tot!“, sagte seine Frau knapp.
„Was?“ Ich staunte Bauklötze! Das konnte doch nicht wahr sein!
„Wie, was ist denn geschehen?“
„Dem ist wohl das Herz stehen geblieben! War wohl die Angst.“
„Wie, was? Was meinst du damit Birgit?“
Dann begann sie zu erzählen.
„Seit einigen Tagen schon, kam hier jede Nacht irgendjemand mit einem Fahrrad oder so vorbei. Man konnte es nicht genau identifizieren, denn wenn ich raus sah, dann war nichts zu sehen. Nur die Räder auf dem Weg waren klar zu hören. Dann kurze Stille und später ein lautes klopfen. Felix war kurz darauf außer sich. Er schrie: Lasst mich zufrieden! Verdammt, was wollt ihr von mir?“
Birgit schüttelte sich kurz und erzählte weiter.
„Naja, das zog sich dann immer einige Minuten hin. Mal war er im Haus, dann wieder im Garten, aber es war nur er, den wir manchmal schemenhaft wegen der Dunkelheit, erkannten. Und danach war immer Ruhe. Wir wollten mit ihm darüber sprechen, doch wir bekamen ihn kaum zu Gesicht. Und das eine Mal, als wir ihn dann im Garten dabei beobachteten, wie er den Stacheldraht an den Zäunen ausbesserte und komischerweise auch verstärkte, wies er uns kühl ab, als wir ihn auf die nächtlichen Hilferufe ansprachen. Er sah müde und nervös aus. Ich denke, er sah wohl schon weiße Mäuse.“
Ja und?“, fragte ich ungeduldig.
„Nun ja“, ergänzte Georg, „da hat ihn dann der Teufel geholt.“
Er blickte starr rüber zum Bretterverschlag und ich folgte seinem Blick.
„Ich wollte, so wie jeden Morgen um sieben, die bestellten Brötchen vom Bäcker abholen. Es hatte stark geregnet, deshalb habe ich ihn nicht sofort gesehen. Erst als ich den Regenschirm hochhielt um die Pforte zu schließen, habe ich einen Arm am Gitter liegen sehen. Erst dachte ich, er wäre nur gefallen und dann betrunken eingeschlafen. Doch als ich dann am Tor stand und durchsah, guckten mich zwei weit aufgerissene tote Augen an. Er hatte den Schrecken im Gesicht eingemeißelt. Ich holte dann die Polizei und erzählte ihnen von den nächtlichen Aktivitäten unseres Freundes dort, doch ich denke auch sie haben nichts weiter herausgefunden. Der Notarzt sagte wohl, dass ihm sein Lebensstil zum Verhängnis geworden war. Armer Kerl.“
Ich schaute Georg bei seinen letzten Worten böse an. Und er redete dann wie gehetzt weiter.
„Glaub mir Arthur, war er auch ein schlimmer Mensch, doch so etwas hat selbst er nicht verdient. Du hättest das Gesicht sehen sollen. Dieser Blick! Oh Mann! Hoffentlich kann ich diesen furchtbaren Blick eines Tages vergessen.“
Wir wechselten noch ein paar Worte und die beiden gingen in ihr kleines Heim. Sie luden mich noch auf einen Tee ein, doch ich wollte nur noch dort weg. Also lief ich los. Ich vermied den Blick durch das eiserne Gitter und richtete meinen Blick stur nach vorn. Doch ich war noch nicht auf der Flughafenstraße, als ich wieder umkehrte. Hektisch schaute ich rüber zum Häuschen von Georg und seiner Frau, doch sie waren nicht zu sehen. Es begann wieder leicht zu regnen, als ich gegen das Gatter drückte und es zu meiner Verwunderung aufging. Ich betrat langsam diesen wilden Bewuchs und schlich zum Eingang des Hauses. Ich drückte auch an dieser Tür, doch sie war verschlossen. Also kämpfte ich mich durch die Gräser und Brombeerbüsche hinter das Haus und sah hinein. Doch nichts Besonderes war zu sehen. Ich weiß nicht genau aus welchem Grund ich nachschaute, doch ich denke heute, dass ich mich vergewissern wollte, dass Felix wirklich nicht mehr da war. Der Regen wurde stärker und ich trat meinen Rückweg durch diese stacheligen Hecken an. Ich ging an der Haustür vorbei und nur im Augenwinkel sah ich ihn im hohen Gras stehen. Mein Herz stockte! Ich riss meinen Kopf nach links und machte drei große Schritte im hohen Gras. Ich blieb stehen und die Bilder der Beerdigung von den Hunden liefen vor mir ab. Ich schwöre, dass ich ihn in das Grab gelegt hatte und nun stand er dort. Fast neben der Tür! Gänsehaut überkam mich und ich drohte ohnmächtig zu werden. Mein Puls raste wie wild.
„Was zur Hölle…?“
Und plötzlich wurde mir bewusst, dass es kein Fahrrad war, was dieses alte Paar in den letzten Nächten gehört hatte. Juri hat seine Drohung war gemacht. Und seine Hunde hatten ihn dabei begleitet!
Meine Blicke wanderten paranoid überall hin und blieben dann wieder beim Hundekarren stehen. Er war noch leicht mit Blumen geschmückt und langsam wusch der Regen, die Reste der schlammigen Grabeserde von ihm ab.
Ende